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MENSCHENRECHTE/309: Wenn Friedensmissionen Bürger gefährden (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 148/Juni 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn Friedensmissionen Bürger gefährden

Bemühungen um einen besseren Menschenrechtsschutz

von Gisela Hirschmann


Kurz gefasst: UN-Friedensmissionen sind ein zentrales Instrument der internationalen Gemeinschaft, um Zivilisten zu schützen. Trotzdem werden dabei immer wieder Menschenrechte verletzt. Dieser Beitrag zeigt anhand von Operationen in Afghanistan, Bosnien und im Kosovo, wie dritte Parteien, zum Beispiel regionale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Gerichte und nationale Akteure, Standards für das Verhalten in Friedensoperationen setzen, diese überwachen und Verstöße sanktionieren. Diese pluralistischen Accountability-Netzwerke sind wichtig für die Legitimität von UN-Missionen, auch wenn der UN-Sicherheitsrat, das UN-Sekretariat und einzelne Staaten weiterhin die Verantwortung für den internationalen Menschenrechtsschutz tragen.


Seit 1945 übernehmen die Vereinten Nationen (UN) zentrale Aufgaben im Bereich der Friedenssicherung. Weltweit sind aktuell über 123.000 militärische und zivile Streitkräfte in 16 Operationen im Einsatz. Diese vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Friedensmissionen erfolgen unter äußerst prekären Sicherheitsbedingungen und fordern von den Einsatzkräften starke Anstrengungen unter extremen Lebensumständen. Oft ist der Frieden, den es zu sichern gilt, nur fragil. Deshalb ruht die Hoffnung der Menschen in bürgerkriegsgeschüttelten Ländern auf den UN-Blauhelmen, die Zivilisten in Konfliktgebieten schützen sollen.

Das Vertrauen in diese Friedensmissionen wurde jedoch in den letzten Jahren immer wieder erschüttert. Anlass dafür waren die Untätigkeit der Vereinten Nationen während der Völkermorde in Ruanda und Bosnien oder die Verletzung fundamentaler Menschenrechte durch UN-Angehörige. Besonders die Fälle von sexuellem Missbrauch durch Peacekeeper untergraben den Anspruch der UN als Schutzmacht von Zivilisten. Zahlreiche Übergriffe, bei denen Blauhelmsoldaten Frauen und Kinder missbrauchten, wurden zum Beispiel von Operationen in Kambodscha, Sierra Leone, Liberia, Haiti und der Demokratischen Republik Kongo bekannt. Auch die Partner der Vereinten Nationen gerieten in die Kritik: in Bosnien und im Kosovo waren NATO-Soldaten und Angestellte einer privaten Sicherheitsfirma, die im Rahmen der UN-Polizeimission operierten, in Menschenhandel verwickelt. Junge Frauen aus Osteuropa wurden für die dort stationierten internationalen Einsatzkräfte in extra dafür eingerichteten Bordellen zwangsprostituiert. Im Kosovo und in Afghanistan wurden Verdächtige in den Gefängnissen von NATO-Einheiten ohne Zugang zu einem Anwalt und ohne Einspruchsverfahren festgehalten. Andere Gefangene wurden an US-geführte oder afghanische Einrichtungen weitergeleitet, wobei die dortigen Foltermethoden wissentlich in Kauf genommen wurden. Des Weiteren kooperieren UN-Missionen im Kongo und im Tschad mit nationalen Sicherheitskräften, die zum Teil aus ehemaligen Rebellengruppen bestehen und im Kontext ihrer Operationen ganze Dörfer auslöschten und Hunderte von Zivilisten umbrachten.

Angesichts dieser fundamentalen Rechtsverletzungen wird immer wieder gefordert, die UN müsse die Täter zur Verantwortung ziehen, aber auch Konsequenzen für die Vergabe von Aufgaben in zukünftigen Missionen treffen. Während das UN-Sekretariat einige Programme zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen in Friedensoperationen in die Wege leitete, kam die Organisation der Forderung nach Überwachungs- und Sanktionsmechanismen bisher nur begrenzt nach. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich die Rechenschaftspflicht (accountability) stärken lässt. Es geht darum, Standards für das Verhalten in Friedensoperationen zu setzen, diese zu überwachen und Verstöße zu sanktionieren. Hierbei spielen regionale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Gerichte sowie nationale Organe als watchdogs eine wichtige Rolle. Drei Beispiele aus Operationen in Afghanistan, Bosnien und im Kosovo zeigen im Folgenden, wie dritte Parteien zu einem pluralistischen Accountability-Netzwerk für UN-Missionen beitragen.

Der UN-Sicherheitsrat beauftragte 2001 die NATO mit der International Security Assistance Force (ISAF-)Mission für Afghanistan, die in bestimmten Teilen des Landes für Sicherheit sorgen sollte. Im Rahmen ihres Mandats nahmen ISAF-Truppen zahlreiche Personen in Gewahrsam und überstellten diese den Einheiten der US-geführten Operation "Enduring Freedom" und seit 2006 auch den afghanischen Behörden. Die als terrorverdächtig und sicherheitsbedrohend eingestuften Personen wurden teilweise auf unbestimmte Zeit ohne rechtmäßiges Verfahren gefangen gehalten, misshandelt und gefoltert. Obwohl die Zustände in den afghanischen Einrichtungen spätestens seit 2007 durch einen Bericht von Amnesty International bekannt waren, änderte dies nichts Wesentliches an der Transferpraxis der beteiligten ISAF-Staaten. Dies rief nationale Gerichte auf den Plan: Menschenrechtsaktivisten klagten unter anderem in Kanada, den Niederlanden und im Vereinten Königreich. Als Konsequenz forderte beispielsweise der Royal Court of Justice 2010 in Großbritannien, dass die britischen Truppen keine Gefangenen mehr an afghanische Einrichtungen überstellen dürfen. Auch in den USA urteilte der Supreme Court bereits 2004, dass die Rechte von Häftlingen besser geschützt werden sollten. Die US-Regierung wies jedoch alle Forderungen nach einer externen Überwachung der Behandlung von Gefangenen mit Verweis auf deren "terroristischen Hintergrund" erfolgreich ab.

Die entscheidende Wende brachten allerdings erst die Monitoring-Aktivitäten der politischen Mission UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan), die der UN-Sicherheitsrat parallel zur NATO mandatiert hatte. Die UNAMA-Menschenrechtsdivision entwickelte mit der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission AIHRC ein umfassendes Beobachtungsverfahren und befragte hunderte Gefangene. Außerdem erwies sich die Veröffentlichung des UNAMA-Berichts im Herbst 2011 als starker Sanktionsmechanismus. Als Konsequenz stellte die NATO die Transferpraxis vorübergehend ein. Auch der UN-Sicherheitsrat forderte daraufhin von der afghanischen Regierung Nachbesserungen bei der Behandlung von Gefangenen. Dies zeigt, wie nationale Gerichte und parallel operierende Menschenrechtsmissionen dazu Beitragen, Accountability für Menschenrechtsverletzungen im Kontext von UN-mandatierten Friedensoperationen zu stärken.

Auch in Bosnien spielten parallel operierende Menschenrechtsmissionen und nationale Gerichte - neben dem US-Kongress - eine maßgebliche Rolle bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen. Mitarbeiter der UN-Polizeimission, von denen ein Großteil über die private Militärfirma DynCorp für das US-Kontingent rekrutiert worden waren, wurden beschuldigt, in Menschenhandel verwickelt zu sein und die sexuelle Ausbeutung von Frauen durch ihr Verhalten zu befördern. Die UN-Leitung versuchte lange Zeit, diese Menschenrechtsverletzungen unter den Teppich zu kehren und entließ sogar einzelne Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die darüber berichteten. Dagegen nahm sich das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte in Bosnien des Themas an und wurde zu einer zentralen Institution zur Dokumentation von Menschenhandel im Land. Das Büro unternahm umfassende Ermittlungen und unterstützte maßgeblich die Klage einer entlassenen Mitarbeiterin gegen DynCorp. Das Gerichtsurteil, das diese Entlassung als unrechtmäßig deklarierte, wurde zu einer wichtigen Grundlage, um das Verhalten der UN-Mission in Bosnien öffentlich zu sanktionieren und die UN-Führung zu "beschämen". Gleichzeitig veranlassten Abgeordnete des US-Kongresses Anhörungen und initiierten weitere Ermittlungen, die allerdings keine juristischen Sanktionen nach sich zogen. Vertragspartner des US-Verteidigungsministeriums konnten seit dem Military Extraterritorial Jurisdiction Act von 2000 zur Verantwortung gezogen werden. Die Angestellten von DynCorp standen jedoch mit dem Department of State unter Vertrag. Hier wurden erst mit den Civilian Extraterritorial Jurisdiction Acts 2011 und 2014 Versuche unternommen, diese juristische Lücke zu schließen. Deshalb wäre ohne diese externen Akteure das Verhalten der UN-Mission in Bosnien nicht überwacht und sanktioniert worden.

Die UN-Mission im Kosovo wurde 1999 vom Sicherheitsrat mandatiert und stellte das Land unter UN-Verwaltung. Der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs "regierte" mit Exekutivbefugnissen das Land und war mit allen Aufgaben des Staatsaufbaus betraut. Parallel war die Organisation zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter dem gleichen Mandat vom UN-Sicherheitsrat mit der Demokratisierung und dem Aufbau staatlicher Institutionen beauftragt. Die OSZE wurde für den Schutz der Menschenrechte besonders relevant. Ursprünglich mit der Überwachung nationaler Akteure betraut, weitete die OSZE ihr Mandat aus und interpretierte ihre Rolle als Menschenrechtsermittler auch gegenüber den verantwortlichen UN-Institutionen im Land. Als bekannt wurde, dass der UN-Sonderbeauftragte bei der Inhaftierung von Verdächtigen durch sogenannte "executive order detentions" wesentliche Rechtsstaatsprinzipien verletzte, nahm die OSZE-Mission im Kosovo Ermittlungen auf und ermahnte die UN, die Rechte Gefangener zu beachten und Einzelne für die Verletzung ihrer Rechte zu entschädigen. Zusammen mit dem Europarat gelang es der OSZE außerdem, eine Ombudsinstitution zu installieren, bei der sich Individuen über Rechtsverletzungen durch die internationale Administration beschweren konnten. Obwohl formal unter UN-Mandat und nur mit Empfehlungsbefugnissen ausgestattet, konnte der Ombudsmann seine unabhängige Stellung gegenüber dem UN-Sonderbeauftragten durch regelmäßige Berichterstattung an die europäischen Institutionen OSZE und Europarat ausbauen. Dadurch entstand ein pluralistisches Accountability-Netzwerk, das die Einhaltung der Menschenrechte überwachen konnte. Zumindest bei den Inhaftierungspraktiken zeigte der Druck der europäischen Regionalorganisationen Wirkung: Nachfolgende UN-Sonderbeauftragte machten keinen Gebrauch mehr von ihrer exekutiven Macht, Verhaftungen anzuordnen. Allerdings wurde das Mandat der Ombudsinstitution im Jahr 2006 fundamental beschnitten, wodurch die Behörde nur noch Beschwerden gegen nationale Institutionen annehmen konnte. Auf Druck des Europarats wurde daraufhin ein Human Rights Advisory Panel für Beschwerden gegen die UN-Verwaltung eingerichtet, dessen Autorität und Unabhängigkeit später jedoch stark beschränkt wurde.

Die Beispiele aus Afghanistan, Bosnien und Kosovo zeigen, dass neue Wege nötig und möglich sind, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Die Beteiligung externer Akteure an Ermittlungsverfahren und Überwachungsmechanismen schafft mehr Partizipation und Transparenz. Dies entspricht den Kriterien eines auf breiter sozialer Basis angelegten Legitimitätsmodells, nach dem nicht nur die Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrats, sondern auch andere Akteure des internationalen Systems die Einhaltung von Menschenrechten überwachen und vorantreiben. Trotzdem zeigen diese Beispiele auch die Grenzen von pluralistischer Accountability: juristische Konsequenzen für die individuellen Täter blieben aus und nur in wenigen Ausnahmen boten diese Verfahren die Möglichkeit, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu entschädigen. Hier sind nach wie vor der UN-Sicherheitsrat, das UN-Sekretariat und die einzelnen Staaten gefragt. Letztlich tragen sie die Verantwortung für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sie in eine UN-Mission entsenden und denen sie mitunter weitreichende Befugnisse erteilen.


Gisela Hirschmann war von Oktober 2010 bis Mai 2015 Mitglied der Abteilung Global Governance und wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Internationale Organisationen und der Schutz fundamentaler Menschenrechte". Dieser Beitrag beruht auf ihrer Forschung im Rahmen ihrer Dissertation zum Thema "Accountability in United Nations Peace Operations".
gisela.hirschmann@wzb.eu


Literatur

Aoi, Chiyuki / de Coning, Cedric / Thakur, Ramesh (Eds.): Unintended Consequences of Peacekeeping Operations. Tokyo: United Nations University Press 2007.

Heupel, Monika / Hirschmann, Gisela / Zürn, Michael: "International Organizations and the Protection of Human Rights". In: Eugénia da Conceicao-Heldt / Andrea Liese / Martin Koch (Eds.): Internationale Organisationen: Autonomie, Politisierung, Interorganisationale Beziehungen und Wandel. Politische Vierteljahresschrift (PVS), Sonderheft 49. Baden-Baden: Nomos 2015, S. 423-451.

Hoffmann, Florian / Mégret, Frédéric: "Fostering Human Rights Accountability: An Ombudsperson for the United Nations?" In: Global Governance, 2005, Vol. 11, No. 1, pp. 43-63.

Verdirame, Guglielmo: The UN and Human Rights. Who Guards the Guardians? Cambridge: Cambridge University Press 2011.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 148, Juni 2015, Seite 17-19
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2015

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