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MENSCHENRECHTE/271: Afghanistan - Schicksal von fast 5.000 Verschwundenen geklärt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Oktober 2013

Afghanistan: Schicksal von fast 5.000 Verschwundenen geklärt - Todesliste gibt Einblick

von Giuliano Battiston


Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Demonstration am 29. September in Kabul für Verschwundene
Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Kabul, 24. Oktober (IPS) - Mirways Yameen ist einer von tausenden Afghanen, die 35 Jahre warten mussten, bis sie die Wahrheit über das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen erfuhren. "Immer und immer wieder haben meine Familie und ich vergeblich versucht herauszufinden, was meinem Vater damals zugestoßen ist", berichtet er. "Doch seit ich Einblick in die 'Todesliste' nehmen konnte, weiß ich, dass er hingerichtet wurde."

Möglich wurde die Einsichtnahme durch die Entscheidung der niederländischen Staatsanwaltschaft, das aus den 1970er Jahren stammende Dokument am 18. September zu veröffentlichen. In den Besitz der Liste war die Internationale Einheit für Verbrechen der niederländischen Nationalpolizei im Verlauf von Ermittlungen über Kriegsverbrechen in Afghanistan gelangt.

Aufgeführt sind die Namen von 4.875 Menschen, die in den ersten 20 Monaten kommunistischer Herrschaft nach dem 1978 von Nur Muhammad Taraki und Hafizullah Amin organisierten Putsch verhaftet und ermordet wurden. Taraki und Amin waren Mitglieder der Volksfraktion der Marxistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA).

Auf der Liste finden sich die Namen, Berufe, Geburtsorte und 'Verbrechen', derer sich Lehrer, Mullahs, Studenten, Intellektuelle und Staatsbedienstete angeblich schuldig gemacht hatten. Alle diese Menschen wurden von dem neuen Regime als konterrevolutionär eingestuft und vernichtet. Die Opfer sind auf der Liste chronologisch und alphabetisch aufgeführt.

"Mein Vater ist die Nummer 2.419", sagte Yameen Ende September gegenüber IPS, als er sich mit anderen Angehörigen Verschwundener zu einem Protestmarsch in der Hauptstadt Kabul einfand. Er war in einem Dorf in der Provinz Laghman verhaftet und in ein örtliches Gefängnis gebracht worden. Am dritten Tag wurde er zusammen mit 120 weiteren Gefangen exekutiert.


Treffen der Opferfamilien

Yameen hatte bis zum 29. September noch nie an einer Kundgebung in seinem Land teilgenommen. Doch die Veröffentlichung der Liste habe ihn veranlasst, der Aufforderung von Sozialaktivisten und Opferangehörigen zu folgen und sich zu einem öffentlichen Trauermarsch einzufinden, erklärte er gegenüber IPS. Beendet wurde der Trauertag mit einer Kerzenlichtzeremonie hinter dem Darul-Aman-Palast, den König Amanullah Khan zu Anfang der 1920er Jahre erbauen ließ.

"Wir gehören keiner politischen Partei an", sagte auch Habib Rahiab, einer der Organisatoren der Gedenkveranstaltung. "Wir fordern einfach nur Wahrheit und Gerechtigkeit, damit wir den Tod unserer Angehörigen endlich überwinden können", sagte er gegenüber IPS.

"Mir geht es darum, dass nicht nur meinen Angehörigen, sondern allen Männern und Frauen, die in den vergangenen 35 Jahren ermordet oder verschleppt wurden, Gerechtigkeit widerfährt", meinte Rahiab, ein prominenter Anwalt, den die Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW) 2004 mit ihrem alljährlich verliehenen Preis für menschenrechtliches Engagement ausgezeichnet hatte.

Kate Clark, ein Mitglied des Netzwerks Afghanischer Analysten mit Sitz in Kabul, wies darauf hin, dass in den vielen afghanischen Kriegsphasen weit mehr Menschen getötet wurden als diejenigen, die auf der Liste auftauchen. "Seit dem Putsch von 1978 haben quasi alle Regierungen und viele bewaffnete Gruppen Folter praktiziert. Die meisten von ihnen machten sich summarischer Exekutionen, Massaker, willkürlicher und gezielter Bombardierungen von Zivilsten schuldig."

Hamidullah Zazai, Geschäftsführer der Afghanischen Mediathek, einer afghanisch-deutschen Nichtregierungsorganisation, die sich für Frieden und Vielfalt der Medien einsetzt, würdigte die Veröffentlichung der Liste als bedeutsamen Schritt, um dieses wichtige Thema in die öffentliche Diskussion zu bringen.


Aufklärung aller Kriegsverbrechen gefordert

"Es ist absolut sinnvoll, die Verbrechen des kommunistischen Regimes aufzudecken", erklärte er, betonte aber gleichzeitig die Notwendigkeit, sie in einem größeren Zusammenhang zu sehen. "Wir müssen alle Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen der letzten 40 Jahre berücksichtigen", forderte er.

"Die schlimmsten Verbrechen dürften die Volksmudschaheddin (1992-1996) zu verantworten haben. Sie mordeten, vergewaltigen und zerstörten unser Land und unsere nationalen Werte. Sie sollten eigentlich strafrechtlich verfolgt werden, doch fehlt dazu der politische Wille", so Zazai.

Viele der verantwortlichen Personen bekleiden hohe Regierungsämter. Einige von ihnen werden sogar bei den Präsidentschaftswahlen am 5. April antreten. Dazu gehört General Abdul Rashid Dostum, ein in den 1990er Jahren im Norden des Landes agierender einflussreicher Warlord. Er war der Gründer der Jombesh-Partei (Nationale Islamische Bewegung Afghanistans) und der einflussreichste Entscheidungsträger der usbekischen Gemeinde.

Einen Tag, nachdem sich Dostum als Anwärter für die Vizepräsidentschaft einer möglichen Regierung mit Ashraf Ghani Ahmadzai an der Spitze geoutet hatte, veröffentlichte er einen Brief auf seiner Facebook-Seite, in dem er sich bei allen entschuldigte, "die auf beiden Seiten des Krieges gelitten haben". Er schlug einen Versöhnungsprozess vor und erklärte, dass die Wahlen "eine neue Seite unserer Landespolitik aufschlagen werden", die den Krieg nicht als Lösung der Differenzen betrachte.

Viele seiner Landsleute reagierten angesichts der Grausamkeit, mit der er als Warlord im afghanischen Bürgerkrieg gewütet hatte, zurückhaltend auf die Entschuldigung. Clark sieht jedoch einen ersten kleinen Schritt auf einem Weg, den andere afghanische Führer nie zu beschreiten gewagt hätten.

Zusammen mit der Veröffentlichung der Todesliste könne Dostums Entschuldigung, auch wenn sie geheuchelt sei, Menschenrechtlern die Chance bieten, das kontroverse Thema auf den Tisch zu bringen, wie mit den vergangenen Menschenrechtsverbrechen zu verfahren sei. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.om.nl/onderwerpen/internationale/morotai-%28english%29/death-lists/
http://www.hrw.org/reports/2005/07/06/blood-stained-hands
http://www.afghanistan-analysts.org/death-list-published-families-of-disappeared-end-a-30-year-wait-for-news
http://www.ipsnews.net/2013/10/the-afghan-dead-find-a-list/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 24. Oktober 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2013