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MENSCHENRECHTE/262: Brasilien - Fast 92.000 Verschwundene in 20 Jahren im Bundesstaat Rio de Janeiro (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. August 2013

Brasilien: Fast 92.000 Verschwundene in 20 Jahren im Bundesstaat Rio de Janeiro

von Fabíola Ortiz


Bild: © Fabíola Ortiz/IPS

Elizabeth Gomes da Silva, deren Mann im Juli aus einer Favela in Rio verschwand
Bild: © Fabíola Ortiz/IPS

Rio de Janeiro, 27. August (IPS) - Innerhalb von zwei Jahrzehnten sind im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro fast 92.000 Menschen spurlos verschwunden. Wie eine unabhängige Studie belegt, wurden die meisten Fälle nie aufgeklärt.

Amarildo Dias De Souza lebte in Rocinha, einem der größten Elendsviertel in der Stadt Rio de Janeiro, als er verschwand. Um seine achtköpfige Familie zu ernähren, arbeitete der 43-Jährige als Maurergehilfe auf dem Bau und schlug sich mit weiteren Gelegenheitsarbeiten durch.

Wenn nichts weiter anstand, ging er fischen. Als er am 14. Juli mit seinem Fang nach Hause kam, nahm ihn eine Gruppe von etwa 20 Militärpolizisten in Empfang. Er wurde aufgefordert, die Sicherheitskräfte zur Überprüfung einer Angelegenheit zur 'Befriedungspolizeistelle' zu begleiten.

Die sogenannten 'Einheiten der Befriedungspolizei' (UPP) wurden eigens von den Behörden des Bundesstaates Rio de Janeiro geschaffen, damit sie durch ihre dauerhafte Präsenz in den Favelas für Ruhe und Ordnung sorgen und die Drogenmafia vertreiben. Rocinha konnte im September 2012 von einer UPP 'befriedet' und der Slum von einer mächtigen Drogenhändlerbande befreit werden.

Seit De Souza in das Polizeiauto gestiegen ist, fehlt von ihm jede Spur. Er hat den Protesten, die fast täglich im Slum zu beobachten sind, ein Gesicht gegeben. "Wo ist Amarildo?" steht auf Plakaten mit seinem Konterfei.


Menschenrechtskampagne

"Beim Vorgehen der Polizei hat es mehrere Unregelmäßigkeiten gegeben. Für eine einfache Überprüfung hätte er ins Kommissariat und nicht zum Sitz der UPP gebracht werden müssen", meint Jandira Queiroz von der Menschenrechtsorganisation 'Amnesty International' in Brasilien. Die Organisation hat ihre Mitstreiter in aller Welt aufgefordert, in Briefen an den Gouverneur von Rio de Janeiro und das Sicherheitsministerium eine umfassende Untersuchung des Falles zu fordern und Zeugen Schutz zu bieten.

"Die Polizei behauptet, sie habe De Souza freigelassen. Doch bisher gibt es keine Hinweise dafür, wo er beziehungsweise seine Leiche zu finden ist", berichtete Queiroz. "Wenn er tot ist, will seine Familie ihm wenigstens ein würdiges Begräbnis geben."


Videokameras und GPS außer Betrieb

Die Videokameras am Stützpunkt der UPP, die die offizielle Version beweisen könnten, waren an dem fraglichen Abend außer Betrieb. Auch das GPS-Ortungssystem der Polizeifahrzeuge, die nach De Souza gesucht hatten, war nicht angeschlossen. Die Zivilpolizei geht von einem Verbrechen aus und ermittelt in zwei Richtungen: sowohl gegen die UPP als auch gegen die Drogenmafia.

De Souzas Familie hat inzwischen kaum noch Hoffnung, ihn lebend wiederzusehen. "Die UPP hat meinen Mann und seine Papiere mitgenommen. Seit diesem Moment ist er verschwunden", klagt seine Frau Elizabeth Gomes da Silva. "Ich möchte einfach wissen, was mit ihm passiert ist."

Auch von zahlreichen weiteren Menschen fehlt jede Spur. In vielen Fällen werden Polizisten verdächtigt. Nach Angaben des Instituts für Öffentliche Sicherheit verschwinden im Bundesstaat Rio de Janeiro im Durchschnitt 15 Menschen täglich, in der gleichnamigen Stadt sechs. Die meisten fallen einem Gewaltverbrechen zum Opfer oder suchen nach Familienstreitigkeiten das Weite. Andere haben psychische Probleme. Doch die Statistiken werden nie korrigiert, etwa wenn sich die Vermissten als Mordopfer herausstellen.


Opfer lebten zumeist in Armenvierteln

Der Soziologe Fábio Araújo von der Föderalen Universität von Rio de Janeiro kam bei einer Untersuchung auf 91.807 Fälle von Verschwundenen zwischen 1991 und Mai 2013. In den vergangenen zwei Jahren wurden mehr als 5.000 Fälle registriert. Meistens handelte es sich um Männer, die aus Favelas oder anderen Armenvierteln stammten. "Die Polizei verhält sich äußerst brutal, ebenso wie die paramilitärischen Milizen und die Drogenhändler. Mal bekämpfen sie sich, mal helfen sie sich gegenseitig bei der Beseitigung der Leichen", so Araujo.

Am 13. März hatten sich Angehörige von Verschwundenen und Vertreter sozialer Verbände zu einer öffentlichen Anhörung zusammengefunden, die von der Menschenrechtskommission des Parlaments von Rio de Janeiro angesetzt worden war. "Das Auto meiner Schwester wurde von der Polizei beschossen. Seit fünf Jahren ist sie bereits verschwunden. Ich glaube nicht, dass wir sie wiedersehen", sagte der Bruder der Ingenieurin Patricia Amieiro, die im Juni 2008 im Alter von 24 Jahren verschwand.

Dem Senat liegt ein Gesetzentwurf vor, der vorsieht, das Verschwindenlassen von Menschen zur Straftat zu erklären. In Brasilien werden Mordopfer meist beiseite geschafft, weil die Behörden ihre Ermittlungen einstellen, wenn keine Leiche gefunden wird.


Geheime Friedhöfe in Rio

"Dies ist ein Land, in dem Angriffe auf Leib und Leben ungestraft bleiben. Tausende Menschen verschwinden, und die Behörden kümmern sich nicht darum, wo sie geblieben sind. Viele Vermisstenfälle werden nie von der Polizei aufgenommen, und manchmal sind Polizisten die Täter", erklärte der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation 'Rio de Paz', Antônio Carlos Costa. Die Dunkelziffer liege noch weit über den Statistiken, betonte er. Über den gesamten Großraum Rio seien geheime Friedhöfe verteilt. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://anistia.org.br/
http://anistia.org.br/direitos-humanos/blog/a%C3%A7%C3%A3o-urgente-suspeito-desaparece-sob-cust%C3%B3dia-da-pol%C3%ADcia-2013-08-02
http://www.riodepaz.org.br/index.html
http://www.ipsnoticias.net/2013/08/miles-desaparecen-en-rio-de-janeiro/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 27. August 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2013