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INNEN/1726: Enthemmte Gewalt - Keine sicheren Orte für Flüchtlinge in Deutschland (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 11 vom 18. März 2016
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Enthemmte Gewalt

Opferberatungsstellen warnen vor zunehmender Gewalt und Hetze: Keine sicheren Orte für Flüchtlinge in Deutschland

von Markus Bernhardt


Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt haben einen massiven Anstieg rassistischer Gewalt im letzten Jahr ausgemacht. Wie die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt "ReachOut" mitteilte, kam es im vergangenen Jahr in der Bundeshauptstadt zu über 320 Angriffen. Damit verzeichnete die Opferhilfeorganisation einen Anstieg von Gewalttaten und Bedrohungen um fast 80 Prozent im Vergleich zu 2014. Insgesamt wurden 412 Menschen verletzt und bedroht. Allein im Umfeld von Flüchtlingsunterkünften sei es zu 43 Angriffen gekommen. Rassismus sei bei 175 Taten das häufigste Motiv gewesen. Politische Gegner seien 59 Mal attackiert worden. Auch antisemitisch motivierte Taten stiegen im Vergleich zu 2014 von 18 auf 25 Angriffe an.

Bemerkenswert ist auch die Anzahl der Kinder, die berlinweit Opfer rechter Aktionen wurden; 42 sind es an der Zahl. "Besonders erschreckend und brutal sind die rassistisch motivierten Angriffe auf Kinder", konstatierte auch Sabine Seyb, Mitarbeiterin von "ReachOut". "Für das vergangene Jahr mussten wir 15 Gewalttaten, von denen Kinder betroffen sind, dokumentieren". So wurde etwa am 16. September des letzten Jahres ein 12-jähriges Kind in einem Schöneberger U-Bahnhof von einem unbekannten Mann rassistisch beleidigt und gestoßen. In einem weiteren Fall, der sich am 18. September 2015 in Hellersdorf abspielte, wurden fünf Kinder aus einer Flüchtlingsunterkunft aus einer Gruppe von 30 schwarz gekleideten und teilweise vermummten Personen heraus rassistisch beleidigt und von einem der Männer mit einem Messer bedroht. Als eine der Hauptursachen für den Anstieg der rechten Gewalt hat "ReachOut" die regelmäßigen Aufmärsche von "Pegida"-Ablegern, NPD und AfD ausgemacht. "Je massiver und andauernder die rassistischen Proteste gegen Geflüchtete sind, desto häufiger werden offensichtlich Menschen geschlagen und bedroht", so Sabine Seyb. Dazu zählten auch diejenigen, die sich gegen Rassismus, Rechtspopulismus und für die Geflüchteten engagierten. Jedoch seien in 10 Fällen auch Journalistinnen und Journalisten attackiert worden.

Insgesamt hätten sich die gewalttätigen Angriffe in den ostdeutschen Bundesländern und Berlin von 782 auf 1.468 nahezu verdoppelt, berichteten die Opferberatungen Ostdeutschlands in einer in der letzten Woche veröffentlichten gemeinsamen Statistik. In Sachsen wurden mit 477 Fällen die meisten Angriffe gezählt (2014: 257). Damit stieg die Anzahl der Attacken um 85 Prozent an. In Sachsen-Anhalt kam es 2015 zu 217 Angriffen (2014: 120), in Brandenburg zu 203 (2014: 93), was einen Anstieg von 118 Prozent bedeutet. In Mecklenburg-Vorpommern wurden 130 Angriffe (2014: 84), in Thüringen 121 Attacken (2014: 58) gezählt. In allen Bundesländern, in denen bereits 2014 Angriffe dokumentiert wurden, stieg die Zahl damit deutlich an. So fanden 2015 in Ostdeutschland, Berlin und NRW pro Tag im Durchschnitt 4,8 politisch rechts motivierte Gewalttaten statt. Zum überwiegenden Teil handelte es sich dabei um - teils versuchte - Körperverletzungsdelikte, davon 10 schwere, 608 gefährliche und 613 einfache Körperverletzungen.

Zusammenfassend betrachtet sei das Gewaltpotential "gefährlich angestiegen", warnten die Beratungsstellen. So wurden zunehmend Waffen, Sprengstoffe und Brandsätze eingesetzt. Täterinnen und Täter nahmen häufiger tödliche Verletzungen in Kauf.

Insgesamt 146 gewaltsame Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte (bewohnte und unbewohnte; zentrale und dezentrale) zählten die Beratungsstellen in den ostdeutschen Bundesländern, Berlin und NRW. Dabei handelte es sich unter anderem um 45 (versuchte) Brandstiftungen, 39 (versuchte) gefährliche Körperverletzungen, beispielsweise durch Steinwürfe, Pyrotechnik bzw. Sprengstoff. Besonders viele Angriffe auf bzw. im Umfeld von Geflüchtetenunterkünften wurden in Sachsen (74) und NRW (54) registriert, gefolgt von Berlin (39).

Mit Nordrhein-Westfalen hatte erstmalig auch ein westdeutsches Bundesland unabhängige Zahlen zur Angriffssituation vorgelegt. 279 rechtsmotivierte Angriffe wurden in dem bevölkerungsreichsten Bundesland gezählt, 1.747 sind es damit in der Summe. Mindestens 2 Personen wurden 2015 in den sieben Bundesländern verletzt und massiv bedroht. Trotz des Anstiegs der rechten Gewalt leiden die unabhängigen Beratungsstellen unter mangelnder finanzieller Unterstützung seitens der Politik. "Nach wie vor geht der flächendeckende Ausbau spezialisierter und unabhängiger Opferberatungsstellen in den westdeutschen Bundesländern zu langsam voran", bemängelt etwa Birgit Rheims von der Opferberatung Rheinland. Die Beratungseinrichtungen verfügten nicht über ausreichende Ressourcen, um ein professionelles Monitoring anbieten zu können, kritisierte Rheims weiter.

"Für Geflüchtete gibt es keine sicheren Orte in Deutschland. Anhaltende rassistische Proteste gegen sie und ihre Unterkünfte, die Aufmärsche von Pegida und ihren Ablegern in nahezu allen Bundesländern, tragen dazu maßgeblich bei", monierte Andrea Hübler, von der Opferberatung der RAA Sachsen.



www.reachoutberlin.de

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 48. Jahrgang, Nr. 11 vom 18. März 2016, Seite 4
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2016

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