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FRAGEN/118: Dieter Gosewinkel - Was Bürger erwarten (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 154/Dezember 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Was Bürger erwarten
Dieter Gosewinkel über Schutz, Freiheit, Wohlstand und den Staat

Interwiew von Paul Stoop


Der Historiker und Jurist Dieter Gosewinkel hat mit der Veröffentlichung des Buches "Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert" ein Langzeitprojekt abgeschlossen. Paul Stoop sprach mit ihm über Kernthemen seiner Studie.

Was war Ihre Ausgangsfrage bei diesem langen Projekt?

Anfang der 1990er Jahre habe ich ein historisches Habilitationsthema mit einem unmittelbaren Gegenwartsbezug gesucht. Damals stand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Frage des Neubaus von Nationalstaaten auf der Tagesordnung, und zugleich war Europa als Folge des jugoslawischen Bürgerkriegs Ziel großer Flüchtlingsbewegungen, die Hunderttausende Menschen nach Deutschland brachten. Deutschland wurde damals zu einem Immigrationsland, auch wenn es sich damals nicht dazu bekannte. Das hat mich darin bestärkt, das Thema Zugehörigkeit zu einem Staat, zu einer Nation und zu Europa historisch genauer zu erforschen.

An welche Forschungsstränge konnten Sie anknüpfen?

Ich konnte sehr stark auf politikwissenschaftliche und soziologische Forschung zurückgreifen, die sich im Unterschied zur Geschichtswissenschaft seit Langem mit diesem Thema befasst hatte. Vor allem in Frankreich und den USA lebt eine historische Soziologie, die in Deutschland ein bisschen an den Rand geraten ist. Wichtig war auch die Geschichtswissenschaft im Sinne einer modernen historischen Migrationsforschung, wie sie Klaus Bade mit dem Institut für Migrationsforschung in Osnabrück vertrat, und natürlich viel juristische, stärker systematisierende Forschung zu gegenwärtigen Problemen des Staatsangehörigkeitsrechts und der Staatsbürgerschaft.

Wie haben Sie die Länder ausgewählt, die Sie im Detail betrachten?

Zunächst habe ich mich ganz auf Deutschland konzentriert, dann aber zunehmend Frankreich einbezogen. Das war der angebliche Kontrastfall, der in politikwissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Literatur weite Verbreitung fand, angestoßen durch ein gutes Buch des amerikanischen Soziologen Rogers Brubaker, "Citizenship and Nationhood in France and Germany". Es ist klar und prägnant, aber es bleibt historisch unzulänglich. Ich habe die Gegenüberstellung von bürgerschaftlich-republikanischem Verständnis der Zugehörigkeit in Frankreich und einem territorial, kulturell-ethnischen Verständnis in Deutschland angezweifelt, erst recht in der neuen Situation in Osteuropa.

Spielte dieser Gegensatz dort noch eine Rolle?

Der Gegensatz politisch versus ethnisch-kulturell in Staatsangehörigkeitsfragen war immer auch geografisch konnotiert. Eine einflussreiche Linie der Geschichtswissenschaft und der historischen Soziologie ordnet diese beiden Modelle ganz Ost- und Westeuropa zu. Das habe ich infrage gestellt. Ich habe mittel- und osteuropäische Länder miteinbezogen, Polen, die Tschechoslowakei und auch die Sowjetunion als überaus komplexen und sich dann auflösenden Vielvölkerstaat mit hinzugenommen.

Wie kam es zu dem Titel "Schutz und Freiheit?"

Der Titel enthält einen Bezug auf eine alte Formulierung des frühneuzeitlichen Staates, nämlich die Zusammengehörigkeit von Schutz und Gehorsam. Die Verpflichtung der Führung war vertraglich verbunden mit der Pflicht der Untertanen, Gehorsam zu leisten. Dies ist ein elementarer Staatszweck, der in der Theorie des früh-neuzeitlichen Staates eine zentrale Bedeutung hat. Bei Thomas Hobbes findet sie sich, auch bei anderen Theoretikern. Konnte der Staat den Schutz nicht gewähren, war die Gehorsamspflicht infrage gestellt. An diese Kategorien knüpfe ich indirekt an.

Taugte nach Aufklärung und Französischer Revolution Gehorsam denn noch als Vertragsbestandteil?

Nein. Im nachrevolutionären 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert wurde die Freiheit des Individuums zum Leitbegriff gegenüber einem Staat, der lange die individuelle Freiheit reguliert, eingeschränkt und teilweise unterdrückt hatte. Meine Titelwahl reflektiert also eine zeitliche Veränderung, hin zu den veränderten Erwartungen des Individuums an den Staat, nämlich Freiheit garantiert zu bekommen. Meine Frage ist: Inwieweit gelingt es der juristischen Institution Staat zu garantieren, was der Bürger in erster Linie erwartet, nämlich Schutz und Freiheit? Gelingt es dem Staat, durch die Staatsangehörigkeit Schutz zu bieten? Staaten haben das immer wieder nicht erreicht, aber teilweise noch nicht einmal angestrebt. Deswegen habe ich die beiden Begriffe mit einem Fragezeichen versehen. Es ist fraglich, ob dieser Anspruch im Europa des 20. und bisherigen 21. Jahrhundert wirklich eingelöst wurde.

Wir reden ja zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch von widersprüchlichen Entwicklungen.

Ich betrachte die europäische Geschichte seit 1900, der Zeit des entwickelten Nationalstaats, also vor dem 1. Weltkrieg, in der Hochphase des Imperialismus. Staatsbürgerrechte wurden in dieser Phase in den metropolitanen Gebieten Europas immer größeren Gruppen von Bürgern gewährt, die um Partizipation, um Freiheitsrechte kämpften. Das taten sie mit immer größerem Erfolg, teilweise auch gegen monarchische Regierungen. Auf der anderen Seite gab es aber eine sehr hierarchische Zuteilung von Zugehörigkeit innerhalb der Kolonien, die nach Rassekriterien abgestuft war. Eine in den europäischen Ländern expandierende Gleichheit kontrastierte teilweise scharf mit einer kolonial-rassistischen Hierarchie.

Aber langfristig gesichert war die Freiheit dann doch nicht?

Es folgte die Phase der von Europa ausgehenden Weltkriege. Es kam zu einer nochmaligen Intensivierung staatlicher Aktivität des Eingreifens, der Intervention, Planung und Lenkung von Gesellschaft. Es gab zwar auch eine demokratische Variante eines starken Staates, etwa die kurzlebige Weimarer Republik und andere demokratische Projekte, auch in Mitteleuropa. Doch die diktatorische Variante war stark ausgeprägt, bis hinein in die 1950er Jahre und teilweise noch darüber hinaus. Beide, Schutz und Freiheit, erlebten in dieser Phase ihre größte Gefährdung.

Welche Rolle spielen ökonomische Ansprüche beim Vertrag zwischen Staat und Bürger?

Diese Ansprüche spielen auch eine wichtige Rolle. Das zeigte schon ganz deutlich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In Westeuropa entfaltete sich die weiche Variante des Interventionsstaates, der als planender, fürsorglicher Wohlfahrtsstaat unter demokratischen Bedingungen nun wieder vermochte, Schutz und Freiheit zu gewährleisten, und der durch die Prosperität auch die Legitimität bei seinen Bürgern stärken konnte. Während der glorreichen 30 Jahre zwischen 1945 und 1975 trifft man auf die engste Verbindung von Schutz, Freiheit und Wohlfahrt im Dienste staatsbürgerlicher Rechte.

Wirkte diese Entwicklung auch als Vorbild für die östlichen Nachbarn?

Im Sowjetsystem bedeutete "Staatsbürgerschaft", "Sowjetbürgerschaft" etc. etwas anderes, eine starke politische Pflichtbindung und wenig Freiheit. Als dieses System dann in den 1980er Jahren bröckelte, gelang in den 1990er Jahren noch einmal ein Aufschwung des Themas Staatsbürgerschaft dadurch, dass neue liberaldemokratische Verfassungen in den neuen osteuropäischen Staaten verabschiedet wurden. Und darin spielen Staatsbürgerrechte eine zentrale Rolle, die in dieser Form in der europäischen Verfassungsgeschichte so flächendeckend noch nie gegeben war.

Was folgte noch auf das Ende des Ost-West-Konflikts?

Im Zuge der einsetzenden Liberalisierungsprozesse begannen Menschenrechte, die nicht an die Staatsbürgerrechte gebunden sind, eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Sie stehen zunehmend neben den Staatsbürgerrechten als wichtigster Funktion der individuellen Schutzgewährung in Europa. Dieser Schutz wird systematisch ausgebaut, vor der europäischen Wende schon durch wichtige Menschenrechtspakte und durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Das führt teilweise zu Konflikten zwischen stärker nationalstaatlich begrenzten Rechten, die ausschließlich für Mitglieder gewährleistet sind, und universalistischen Rechtsansprüchen, die auch für Nichtmitglieder gelten, etwa für Menschen, die in Not oder auf der Flucht sind. Auch sie begehren Schutz und wollen ihre Freiheit verteidigt sehen. Dieses Konfliktpotenzial beginnt jetzt seine Wirkung zu entfalten, als Teil der großen politischen Auseinandersetzungen, die wir jetzt beobachten. Schutz und Freiheit werden zu einer umkämpften Ressource.

Erleben wir eine Hierarchisierung von Ansprüchen?

Ökonomisch gesprochen: Es wird Verteilungskämpfe geben. Da diese Ressourcen begrenzt sind, lautet die Kernfrage: Wer darf diese Rechte beanspruchen? Nach demokratischem Verständnis dürfen diese Ressourcen auch begrenzt sein. Denn wenn man sagt, dass funktionierende Demokratie an Mitgliedschaft gebunden ist und eben nicht allen zugänglich ist, die sich in den Grenzen des Staates aufhalten, dann ist klar, dass die moderne Demokratie auch einen Exklusionsfaktor enthält.

Lassen sich Nichtmitglieder denn ausschließen, wenn sie sich legitimerweise auf Menschenrechte berufen können?

Das ist eine Kernfrage, um die jetzt gerungen wird. Und daraus abgeleitet: Inwieweit muss man Außenstehenden die Chance geben, Mitglied zu werden? Diese Fragen sind längst nicht gelöst, denn alle unsere europäischen Staaten funktionieren nach dem Modell einer Koppelung von Mitgliedschaft und demokratischer Entscheidung. Man darf nicht vergessen, dass dies fast jahrhundertelanger Einübung entspringt. Es war mühsam, das einzuüben, und wurde durch diktatorische Episoden und Unterbrechungen infrage gestellt, ist wieder erkämpft worden und hat Legitimität gewonnen, weil es sich mit Wohlstand verknüpfte.

Werden universalistische Rechte dann nicht untergeordnet, abhängig von der Wirtschaftssituation?

Demokratie und Wohlstand sind, zumal in Deutschland, aber sicher auch in vielen anderen europäischen Staaten, auf das Engste miteinander verbunden. Wird der Wohlstand gefährdet durch teilweise externe Faktoren, etwa durch wirtschaftliche Krisen, dann ist auch die Demokratie infrage gestellt. Es ist ein fragiler Zusammenhang, der historisch entstanden ist und auch in der kollektiven historischen Mentalität der Menschen eine enge Verbindung eingegangen ist: Wenn ein Element gestört wird, kann auch das andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Demokratie im europäischen Wohlfahrtsstaat, der ja noch weitgehend gut funktioniert, ist eng verbunden mit einer Anreicherung und Verteilung von Wohlstand, der ganz überwiegend den Mitgliedern zugutekommt. Dieser Mechanismus ist eingeübt, eingelebt, der wurde erkämpft und verteidigt. Damit muss sich eine Kritik auseinandersetzen, die universalistisch, die menschenrechtlich argumentiert.

Ist die Idee einer europäischen Unionsbürgerschaft jetzt nicht in weite Ferne gerückt?

Die gegenwärtige Konstruktion der Unionsbürgerschaft ist ja eine europarechtliche Konstruktion, die sich ableitet aus den nationalen Staatsbürgerschaften. EU-Bürger ist nur, wer zunächst eine nationale Mitgliedschaft in einem europäischen Mitgliedsstaat hat. Die europäischen Staaten sind die Türhüter des Zugangs zur Unionsbürgerschaft. Aber diese Konstruktion ist natürlich nicht in Stein gemeißelt. Sie kann geändert werden, was ich für denkbar halte, und für verfolgenswert, das ist zumindest meine persönliche Auffassung. Gegenwärtig klingt das deutlich unwahrscheinlicher als vor zehn Jahren, das muss man erkennen.

Erzwingen Kommunikation und Ökonomie der globalisierten Welt nicht geradezu eine weitere Supranationalisierung?

Diese Entwicklungen kontrastieren in der Tat mit dem Bedürfnis, die eigene Entscheidung über die Entwicklungen in einem eng begrenzten Bereich in der Hand zu behalten. Immer mehr Menschen meinen, Schutz und Freiheit eher im territorial und mitgliedschaftlich begrenzten Gebiet des eigenen Staates oder der eigenen Stadt oder der eigenen Region zu finden als in allem, was dem übergeordnet sein könnte. Das mag ein Irrweg oder eine Fiktion sein, aber das Bedürfnis ist in hohem Maße da. Es artikuliert sich politisch und wird dadurch wirkungsmächtig. Das wird uns in den nächsten Jahren und vielleicht auch Jahrzehnten noch stark begleiten.


Dieter Gosewinkel ist Co-Leiter des WZB Center for Global Constitutionalism und außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
dieter.gosewinkel@wzb.eu


Literatur

Gosewinkel, Dieter: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp 2016.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 154, Dezember 2016, Seite 38-41
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2017

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