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ENTWICKLUNGSHILFE/416: Wer nicht erreichbar ist, bleibt außen vor (DGVN)


Eine-Welt-Presse Nr. 1/2010
Nord-Süd-Zeitung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN)

Wer nicht erreichbar ist, bleibt außen vor
Digitale Technologien als Motor von Entwicklung - und Ursache wachsender Unterschiede

Von Klaus Boldt


Digitale Technologien werden immer wichtiger für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Organisationen und ganzen Volkswirtschaften. In führenden Industrienationen verfügen mehr als zwei Drittel der Einwohner über einen Internetanschluss, in den Entwicklungsländern durchschnittlich aber nur jeder Zehnte und in den am wenigsten entwickelten Ländern nur jeder Hundertste. Die vermehrte Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien soll diese digitale Kluft schmälern, könnte aber auch die ökonomische Ungleichheit innerhalb der armen Länder vergrößern.


Das Internet ist die erste Technologie, die die Entwicklungsländer nicht als "Dritte Welt"-Technologie erreicht. Früher waren es häufig veraltete Fabriken und Industrieanlagen, die in den entwickelten Ländern ausgemustert und nach Afrika, Asien oder Lateinamerika verschifft wurden. Sieht man von den Investitionskosten in Netze und Breitband-Verbindungen sowie Computer-Hardware ab, stehen alle notwendigen Internet-Anwendungen kostenlos in derselben Qualität zur Verfügung, die Provider und Nutzer in den Industriestaaten und den Schwellenländern haben. Webserver, Datenbanken, Browser, E-Mail-Programme, Office-Anwendungen, Netzwerkprogramme und andere Tools - all das ist als "Free and Open Source Software" zu bekommen. Kostenlose "Content Management Systeme" erlauben auch ohne Programmierkenntnisse eine bequeme Aktualisierung von Inhalten auf Websites und Blogs.

In vielen afrikanischen Ländern existiert heute schon eine lebendige Software-Szene, deren Mitglieder ihren Teil zur internationalen Netzkultur beitragen. Von Ägypten bis Südafrika sind Wissenschaftler und Experten von Nichtregierungsorganisationen international vernetzt. Sie können sich dank der modernen und vergleichsweise billigen Kommunikationsmittel erstmals Gehör in ihrer internationalen "Community" verschaffen. Per Massen-SMS steuern Nichtregierungsorganisationen politische Kampagnen. Durch SMS, E-Mail oder ein Web-Interface wurden bei Ushahidi (www.ushahidi.com) Informationen über aktuelle Konfliktherde im Osten der Demokratischen Republik Kongo gesammelt, gebündelt und visualisiert. Die Software wurde von Experten aus Kenia, Ghana, Südafrika, Malawi, den Niederlanden und den USA programmiert. Sie zeigt auf einer Karte die eingegangenen Meldungen an, etwa über Ansammlungen intern Vertriebener. Hilfsorganisationen können so gezielt reagieren. Auch nach dem Erdbeben in Haiti war Ushahidi mit einem Web-Interface hilfreich, das Flüchtlinge, medizinische Notfälle oder Schäden an der Infrastruktur visualisierte.

Geld verdienen mit dem Mobiltelefon

Schätzungsweise 1,5 Milliarden Menschen in Entwicklungsländern verfügen über ein Mobiltelefon und können lesen und schreiben. Doch viele haben keine Arbeit und leben von weniger als drei US-Dollar pro Tag. Diese Umstände macht sich ein Unternehmen zunutze, das von Nathan Eagle, einem Forscher am "Massachusetts Institute of Technology", gegründet wurde. "txteagle" vermittelt per SMS Miniaufträge an die Handy-Nutzer: Der Mobiltelefon-Hersteller Nokia lässt zum Beispiel Begriffe wie "Adressbuch" in die lokale kenianische Sprache Giriama übersetzen oder eine Spracherkennungssoftware in der Sprache Luo entwickeln.

Eagle geht davon aus, dass die Englisch sprechenden Mobilfunknutzer in Entwicklungsländern täglich 250 Millionen freie Arbeitsstunden zur Verfügung hätten - wenn sie denn Aufträge bekämen. Mit der schnellen Erledigung kleiner textbasierter Aufgaben könnten viele von ihnen ihr Einkommen von drei Dollar pro Tag auf drei Dollar pro Stunde steigern. Die Auftraggeber könnten durch die Auslagerung von Aufgaben in ländliche Regionen in Ländern des Südens beträchtliche Kosten sparen. Nathan Eagle schätzt, dass Unternehmen für das Outsourcing von Arbeiten wie Übersetzungen, die Transkription von Gebrauchsanleitungen oder die Beschreibung von Ersatzteilen für Verkaufsbroschüren weltweit jährlich mehr als 100 Milliarden Dollar ausgeben.

Derartige Anwendungen moderner Informationstechnologie im Entwicklungs-Kontext sind aber die Ausnahme. Die UN-Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD) warnte wiederholt vor negativen Folgen, falls die Entwicklungsländer technologisch noch weiter hinter den Industriestaaten zurückbleiben - beispielsweise beim elektronischen Handel. Einige Oasen moderner Informations- und Kommunikationstechnologie reichen nicht aus, die digitale Kluft zu schließen.

Die indische Softwareschmiede Bangalore ist mittlerweile eines der weltweit wichtigsten IT-Zentren. "To bangalore" ist sogar zu einem eigenen Begriff geworden - für die digitale Verlagerung von Software-Programmierung oder Telekommunikations-Dienstleistungen in eine andere Weltregion.


Die digitale Revolution schafft neue Chancen

Die indischen Programmierer arbeiten am unteren Ende der internationalen Lohnskala, gehören in ihrer Heimat aber zu den Spitzenverdienern. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy spricht von "höchst privilegierten Gebieten innerhalb eines Meeres von Verzweiflung und Armut". Droht die digitale Revolution die Einkommens- und Chancenkluft im Süden also weiter zu verschlimmern? Ein Handy signalisiert Erreichbarkeit und gibt vielen Menschen in den Ländern des Südens damit zumindest die Möglichkeit, Angebote für Gelegenheitsarbeiten oder Aufträge entgegennehmen zu können. Wer nicht erreichbar ist, bleibt außen vor. Wer als Bauer im ländlichen Afrika die Marktpreise per Mobiltelefon oder Internet abfragen kann, ist zweifellos im Vorteil. Das gilt auch für den städtischen Slumbewohner, der dank Mobiltelefon erstmals bargeldlose Geldgeschäfte tätigen kann. Bisher räumte ihm keine Bank ein Konto ein. Ein Mobiltelefon erleichtert den Zugang zu Arbeit und den Kontakt zu Familie und Freunden. Wer keines besitzt, kennt jemanden, der es billig vermietet. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien werden die Welt weder retten noch sie ungerechter machen - sie beschleunigen und verdichten Prozesse, die ohnehin stattfinden.


Klaus Boldt ist entwicklungspolitischer Fachjournalist in Berlin. Er betreibt das Internetportal Entwicklungspolitik Online
(www.epo.de).


Glossar

Breitband-Internetzugang
Im Vergleich zum Telefonmodem zeichnet sich dieser Zugang durch eine hohe Datenübertragungsrate (Breitband) aus. Hierfür haben sich vor allem Glasfaserverbindungen bewährt. Aber auch per Kupfertelefonleitungen mit DSL-Technik oder Satelliten ist die Übertragung möglich.

Digitale Kluft
Diese Kluft besteht zwischen wirtschaftlich reichen und wirtschaftlich armen Ländern, aber auch innerhalb von Gesellschaften. Die Kluft kommt darin zum Ausdruck, dass ein Teil der Bevölkerung Zugang zu neuester Informations- und Kommunikationstechnologie einschließlich einem schnellen Zugang zum Internet hat, während andere von dieser digitalen Welt vollkommen ausgeschlossen sind.

Freie Software
Unter "Free Software" wird eine Software verstanden, die der Urheber freigibt, sie ohne Beschränkung zu nutzen, zu verändern und weiterzuverbreiten. Hierzu muss der Quellcode frei zugänglich sein. "Free Software" kann im Gegensatz zu "Freeware" auch verkauft werden. Da aber auch die meiste "Freie Software" kostenlos ist, wird "free" von vielen mit kostenlos gleichgesetzt.

Hardware
Zur Hardware gehören Computer (mit Prozessoren, Arbeitsspeicher, Festplatte etc.) sowie Peripheriegeräte wie Bildschirm, Drucker, Tastatur und Maus. Die Computer-Hardware kann nur genutzt werden, wenn zusätzlich eine Software vorhanden ist.

Open Access
Bei diesem Konzept des "offenen Zugangs" geht es darum, dass Informationen (z.B. von Archiven) über das Internet öffentlich kostenfrei zugänglich sein sollen. Damit können zum Beispiel wissenschaftliche Beiträge auch von Menschen genutzt werden, die teure Fachzeitschriften nicht bezahlen können.

Software
Dies sind Programme und dazugehörige Daten, die die Nutzung der Computer-Hardware ermöglichen, zum Beispiel Betriebssysteme und Programme zu Textverarbeitung, Tabellenkalkulationen oder zum Versenden und Empfangen von E-Mails.

Web 2.0
2004 entstand dieser Begriff, mit dem der Übergang zu einer neuen Generation von Internet-Techniken, -Diensten und -Nutzungsmöglichkeiten beschrieben wird. Das Internet ist so stärker "sozial" geworden und eröffnet Millionen Menschen Möglichkeiten zur aktiven Mitwirkung und zu neuen Formen der Interaktion. Beispiele sind Wikipedia, Blogs, Web-Tagebücher und Facebook. Häufig wird inzwischen von "Social Media" gesprochen.

Zusammenstellung: Frank Kürschner-Pelkmann


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Quelle:
Eine-Welt-Presse Nr. 1/2010, 27. Jahrgang, Seite 2-3
Nord-Süd-Zeitung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN)
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Internet: www.dgvn.de

Eine-Welt-Presse erscheint in der Regel einmal jährlich
und befaßt sich jeweils mit einem thematischem Schwerpunkt.
Die Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010