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DISKURS/125: Demokratie im Datenkapitalismus (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 155/März 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Demokratie im Datenkapitalismus

Das Verhältnis von Medien und Macht muss neu vermessen werden

von Jeanette Hofmann


Kurz gefasst:Das morgendliche Zeitungslesen als kollektives Ritual ist Vergangenheit. Heute bestimmen digitale Medien in zunehmendem Maße die öffentliche Kommunikation - mit weitreichenden Folgen für die Demokratie. Die sozialen Netzwerke verschaffen den Bürgern eine neue Form kommunikativer Macht und verwerten ihr Kommunikationsverhalten zugleich als Datenquelle. Die Stärkung und das gleichzeitige Unterlaufen von Menschenrechten bilden einen zentralen Reibungspunkt im Verhältnis von demokratischer Selbstbestimmung und digitalen Geschäftsmodellen.


Demokratie, politische Meinungsbildung und Medienentwicklung sind seit jeher eng miteinander verbunden. Das große Vorbild für die Untersuchung dieses Zusammenhangs ist Benedict Andersons Studie über die Entstehung von Nationalismus und Nationalstaat. Anderson zufolge war es der "Printkapitalismus", also die Verknüpfung von Drucktechnik, der Zeitung als frühem industriellem Massenprodukt und dem Verlegerkapital, die transregionale Sprachgemeinschaften und Zeitungsmärkte ermöglicht hat. Daraus gingen wiederum geografisch ausgedehnte Öffentlichkeiten hervor, aus denen sich dann "imagined communities", also "vorgestellte" nationale Gemeinschaften und der Souverän herausbilden konnten.

Die Massenzeremonie des gleichzeitigen morgendlichen Zeitunglesens vieler Millionen Bürger, die Anderson beschreibt, mag jedoch bald der Vergangenheit angehören. Der Printkapitalismus befindet sich im Niedergang, und wir beobachten die Formierung eines neuen Datenkapitalismus, der den Handel mit personenbezogenen Informationen als lukratives Geschäftsmodell entdeckt hat: persönliche Daten als eine Währung, an der es niemandem jemals mangelt. Welche Auswirkungen hat dieser Medienwandel auf die demokratische Öffentlichkeit? Und wie wirken sich demokratische Traditionen und Praktiken auf die digitale Transformation aus?

Kurioserweise wissen wir nur wenig über den Zusammenhang zwischen den neuen digitalen Medien, dem Wandel von Öffentlichkeit und Demokratie. Kurios deshalb, weil die jüngere Demokratietheorie der Bildung und Ausübung kommunikativer Macht im öffentlichen Raum eine große Bedeutung beimisst. Die Bürger, so formuliert es die Demokratietheoretikerin Nadia Urbinati, verfügen über zwei Formen der Macht: das Wahlrecht und die politische Meinungsäußerung. Deshalb sei das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung so essenziell für die Demokratie. Ein ähnliches Argument findet man beim Demokratieforscher Pierre Rosanvallon, der eine abnehmende Bedeutung des Wählens zugunsten anderer Formen des politischen Engagements beobachtet. Unabhängig von Wahlzyklen reklamiere die Gesellschaft kontinuierlich die Macht des politischen Urteils über das Regierungshandeln für sich. Auch die deliberative Demokratietheorie im Anschluss an Jürgen Habermas betont die Bedeutung des öffentlichen Diskurses für die Demokratie.

Die Digitalisierung hat den Wandel des politischen Engagements und der öffentlichen Sphäre zwar nicht angestoßen, aber sie beschleunigt ihn und verleiht ihm eine spezifische technische und wirtschaftliche Form, die für die Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung unmittelbar relevant ist. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Aufstieg sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Youtube. Das Markenzeichen sozialer Netzwerke besteht in der Kuratierung und Vernetzung nutzergenerierter Inhalte, einem neuen Typ von digitalen Informationsgütern, dessen Spektrum von Katzenvideos über professionelle Blogs bis zu Wikipedia reicht.

Plattformen wie Facebook und Youtube haben sich zu wichtigen transnationalen Infrastrukturen für die gesellschaftliche Meinungsäußerung entwickelt. Im Jahr 2016 nutzten bereits gut eine Milliarde Menschen weltweit täglich Facebook; selbst in Deutschland, einem eher Facebook-skeptischen Land, sind es immerhin mehr als 20 Millionen. In der traditionell von professionellen Massenmedien dominierten öffentlichen Sphäre geben sie den Bürgern eine politische Stimme und erzeugen so eine neue Form von Kommunikationsmacht. Während diese Entwicklung zunächst als Pluralitätsgewinn für die politische Meinungsbildung und als Demokratisierungsschub von unten begrüßt wurde, hat sich unterdessen eine spürbare Ernüchterung eingestellt. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt im Geschäftsmodell der sozialen Medien und ihrem Einfluss auf die öffentliche Sphäre.

Seit Mitte der 2000er Jahre lässt sich eine zunehmende wechselseitige Durchdringung der alten und der neuen Medien beobachten. Die alten Medien zitieren und betreiben Blogs, sie verweisen auf Tweets und twittern ihre Artikel; und seit sich soziale Netzwerke als eigenständige Nachrichtenquelle etablieren, folgen die alten Medien ihren Lesern gezwungenermaßen selbst zu Facebook. Neuere Umfragen besagen, dass vor allem die jüngere Generation den traditionellen Medienformaten den Rücken kehrt und Nachrichten in wachsendem Umfang über Twitter, Youtube und Facebook bezieht. Dieser Verlagerungsprozess schlägt sich auch im öffentlichen Diskurs nieder.

Aktuelle Untersuchungen über die Politik der digitalen Plattformen betonen, dass deren Mitglieder zwar in wachsendem Umfang Inhalte produzieren, bewerten und zirkulieren, aber die Kontrolle über den Informationsfluss nicht bei den Produzenten, sondern den Betreibern der sozialen Netzwerke liegt. Mit dem Aufstieg der neuen Medien steigt auch die Macht der Algorithmen, die etwa bei Facebook derzeit rund 500.000 Kommentare pro Minute kategorisieren, filtern und hierarchisieren. Dies geschieht nach Regeln, die nicht offengelegt werden, aber faktisch über Licht und Schatten im Kommunikationsfluss entscheiden.

Im Rahmen des amerikanischen Wahlkampfs wurde deutlich, dass Facebook derzeit primär diejenigen Beiträge mit Sichtbarkeit im Nachrichtenstrom belohnt, die die größten Aussichten auf eine Weiterverbreitung haben und somit neben Aufmerksamkeit auch Werbeeinnahmen versprechen. Diese radikale Entkopplung von Qualität und Popularität politischer Nachrichten erklärt, warum gezielte Falschmeldungen oft die größte Verbreitung in den sozialen Netzwerken genießen.

Im Unterschied zu den Tageszeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendern, die sich ebenfalls über Werbung finanzieren, steht im Internet die personenbezogene Ansprache im Vordergrund. Angenommen wird, dass der Wert von Werbung in dem Maße steigt, in dem diese auf individuelle Präferenzen und Intentionen zugeschnitten werden kann. Die algorithmisch kuratierten Informationsflüsse oder "newsfeeds" adressieren uns also nicht als politische Bürger, sondern als Datenquelle, deren Präsenz auf der Plattform gehalten werden soll, um fortlaufend aktuelle Informationen über unser Interaktionsverhalten zu gewinnen.

Die Kehrseite der personalisierten Werbung besteht in der Entstehung "persönlicher Öffentlichkeiten" (Jan-Hinrik Schmidt). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Informationen primär nicht nach ihrem journalistischen Nachrichtenwert sortiert werden, sondern nach ihrer errechneten individuellen Relevanz. Komplexe Rankingverfahren konkurrieren heute mit der Deutungshoheit des journalistischen Handwerks. Eine Folge individualisierter Nachrichtenströme ist die Bildung sogenannter "Filter Bubbles" oder Filterblasen, die überproportional häufig Nachrichten und Kommentare enthalten, die unsere politischen Orientierungen und Weltbilder bestätigen.

Eine andere Folge besteht darin, dass unser Handeln in digitalen Umgebungen praktisch beständiger Beobachtung und Analyse unterliegt. Der Verlust an Anonymität und die Praxis der intransparenten Profilbildung unterlaufen paradoxerweise jene Freiheitsrechte, die mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke gerade gestärkt worden sind. Wer nicht wissen kann, welche Informationen Dritte über einen besitzen, und wer befürchtet, dass einem aus persönlichen Vorlieben politische, soziale oder wirtschaftliche Nachteile entstehen, verzichtet womöglich unbewusst auf die Wahrnehmung demokratischer Rechte.

Hat der Printkapitalismus zur Entstehung von nationalen öffentlichen Sphären beigetragen, ebnen Datenkapitalismus und digitale Kommunikationsdienste nun den Weg für einen Strukturwandel, der einige ihrer bestimmenden Merkmale zur Disposition stellt. Dazu gehören die verschwimmenden Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, zwischen Publikation und Konversation oder Produktion und Konsum, die Programmierung und fragmentierende Spezialisierung von Öffentlichkeiten, aber auch die Akkumulation von Wissens- und Kommunikationsmacht in den Händen weniger global aufgestellter Unternehmen.

Die Folgen der digitalen Transformation für die Ausübung bürgerlicher Freiheitsrechte bleiben jedoch nicht unwidersprochen. Viele Akteure nutzen die digitalen Kommunikationsdienste gleichermaßen als empirische Ressource und Sprachrohr, um sich kritisch mit ihren Mechanismen und Technologien auseinanderzusetzen. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt dabei auch die sozial- und rechtswissenschaftliche Forschung, die darauf zielt, die technisch und vertraglich normierten Strukturen der sozialen Netzwerke zu verstehen und konzeptionell auf den Begriff zu bringen. Unter dem Dach der "new media studies" und der "critical data studies" ist eine internationale Forschungsgemeinde entstanden, die eine empirisch fundierte Kritik der Algorithmen und Plattformpolitik anstrebt. Sie untersucht, wie mit technischem Code neue Logiken der Vergemeinschaftung nahegelegt werden, wie gesellschaftliche Gruppen kategorisiert und diskriminiert werden und wie ihr künftiges Verhalten kalkuliert wird.

Auch die Nutzer selbst setzen sich kritisch mit den Plattformen auseinander. Vor allem die sich oft ändernden Nutzungsbedingungen und die Einschränkungen der informationellen Selbstbestimmung rufen Protest hervor. So wehren sich Künstler gegen die Veröffentlichungsbedingungen ihrer Werke bei Youtube. Twitter-Nutzer hinterfragen die Regeln des "Trending"-Algorithmus, der manche aktuelle Themen hervorhebt, andere dagegen ignoriert. Facebook-Mitglieder protestieren seit vielen Jahren gegen Zensur, neuerdings aber auch gegen die Nichtlöschung von Inhalten. Internationale Aufmerksamkeit hat im Sommer 2016 der Protest der norwegischen Zeitung Aftenposten gegen die Löschung eines preisgekrönten Anti-Vietnamkriegs-Fotos erregt. Facebook hatte argumentiert, die Abbildung eines nackten fliehenden Kindes, dessen Haut von Napalm verbrannt worden war, verstoße gegen die Veröffentlichungsregeln des Netzwerks.

Der Fall wurde auch deshalb so bekannt, weil er den seit Langem schwelenden Konflikt zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit und den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer kommerziell betriebenen Kommunikationsinfrastruktur symbolisiert. Die Vertragsfreiheit erlaubt es den Betreibern, die Nutzungsbedingungen ihrer Dienste im Rahmen nationaler Gesetze nach eigenem Gutdünken zu definieren. Private und professionelle Nutzer wiederum berufen sich auf die Menschenrechte als normativen Bezugsrahmen für ihre Forderung nach freier Meinungsäußerung und Datenschutz.

Menschenrechte sind Abwehrrechte, die demokratisch verfasste Staaten ihren Bürgern zum Schutz gegen die Machtasymmetrie zwischen Individuen und Staat einräumen. Mit der Digitalisierung ist zu diesem vertikalen Machtgefälle allerdings ein horizontales zwischen Bürgern und digitalen Plattformen hinzugekommen. Als Reaktion darauf lassen sich seit einigen Jahren neue Vorstöße für eine Ausdehnung des Geltungsbereichs der Grundrechte auf Teile der wirtschaftlichen Sphäre beobachten. Selbst im Bereich der digitalen Normsetzung zeichnet sich seit den Enthüllungen von Edward Snowden eine wachsende Bereitschaft ab, relevante Menschenrechtsgrundsätze zu berücksichtigen. Die nächste Generation digitaler Infrastrukturen, das Internet der Dinge, das immer mehr Gegenstände unseres Alltags mit digitalen Schnittstellen ausstattet, wird nicht mehr nur anhand von Effizienzkriterien, sondern zunehmend auch an seinen Folgen für die individuelle und kollektive Selbstbestimmung bewertet.

Die Gefährdung, praktische Verteidigung und diskursive Reinterpretation von Grundrechten ist derzeit der Bereich, an dem sich das Spannungsverhältnis zwischen digitalen Geschäftsmodellen und demokratischen Normen vielleicht am deutlichsten zeigt.


Jeanette Hofmann ist Leiterin der Projektgruppe Politikfeld Internet am WZB, Direktorin am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft und Sonderprofessorin für Internetpolitik an der Freien Universität Berlin (FU). Ihre Interessen gelten vor allem der Internet Governance, der Politikfeldentstehung und der Internetpolitik. Der vorliegende Artikel beruht auf ihrer Antrittsvorlesung an der FU im Februar.
jeanette.hofmann@wzb.eu


Literatur

Hofmann, Jeanette/Bergemann, Benjamin: "Die informierte Einwilligung: Auf den Spuren eines Datenschutzphantoms". In: Spektrum der Wissenschaft: Der Digitale Mensch, 2016, S. 50-59.

Rosanvallon, Pierre: Counter-Democracy. Politics in an Age of Distrust. Cambridge: Cambridge University Press 2008.

Schmidt, Jan: Das neue Netz. 2. Aufl. Konstanz: UVK
Verlagsgesellschaft 2011.

Urbinati, Nadia: Democracy Disfigured: Opinion, Truth, and the People. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2014.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 155, März 2017, Seite 14-17
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2017

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