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DISKURS/124: Kommunitaristen, Kosmopoliten und die "verlorene Arbeiterklasse" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2017

Kommunitaristen, Kosmopoliten und die "verlorene Arbeiterklasse"

von Thomas Meyer


Fast anderthalb Jahrhunderte lang waren die parteibildenden gesellschaftlich-politischen Konfliktlinien in den europäischen Ländern im Kern recht übersichtlich gezogen. Parteien, die ihre Themen außerhalb des Kraftfeldes dieser Konfliktlinien (sogenannte cleavages) suchten, hatten kaum Chancen auf Größe, Dauer oder Wahlerfolg. Da gab es erstens die Interessengegensätze zwischen Zentrum und Peripherie aus den Konflikten der Nationalstaatsbildung, zweitens den Gegensatz von Kapital und Arbeit im modernen Industriekapitalismus, drittens die Rivalität von Kirche und Staat infolge der Säkularisierung, viertens Spannungen zwischen Stadt und Land als Ergebnis der Industrialisierung und schließlich fünftens die Konfrontation zwischen postmateriell-grünen und materiell-industrialistischen Interessen angesichts der ökologischen Krise. Sie bestimmten weitgehend die gesellschaftlichen Diskurse, die Triebkräfte der sozialen Selbstorganisation, die Struktur des sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildenden Systems der politischen Parteien und das Wahlverhalten. Auf die Sozialdemokratie hatten stets mehrere dieser Schnittlinien Einfluss, so etwa der Konflikt um Religion und die materiell-postmaterielle Wertedivergenz - aber die Arbeitnehmerinteressen bildeten immer ihren Kern.

Neuerdings haben die sozialdemokratischen Parteien in allen Industrieländern vor allem auch einen großen Teil der Klasse der "manuellen und unqualifizierten Arbeiter" aus Industrie und Dienstleistung als Anhänger und Wähler verloren. Als Erklärung dafür kursiert die These, ein neuer gesellschaftspolitischer Grundkonflikt beginne die politische Arena zu erobern: die Konfrontation zwischen sogenannten Kommunitaristen und Kosmopoliten, also von Menschen, die das Leben in der überschaubaren Gemeinschaft von Gleichen gegen Globalisierung und Massenzuwanderung verteidigen wollen, und jenen, denen die umfassende Öffnung der Gesellschaft - gerade auch für Migranten - willkommen ist. Die Niedriglöhner und die prekär Beschäftigten seien ebenso wie Teile der verunsicherten Mittelklasse ins kommunitaristische Lager abgewandert, als dessen politische Repräsentanz sich überall rechtspopulistische Parteien andienen. Diese Deutung scheint eine zentrale Veränderung der europäischen Parteienlandschaft zu erklären, etwa das Wachstum der AfD, aber sie zeichnet die neuen Konfliktlinien zu statisch, zu eindimensional und zu polarisiert, um Strategien gegen die populistischen Parteien realistisch zu entwerfen.

Die Entgegensetzung der beiden extremen Pole, die Vorstellung, es handele sich dabei um homogene Kollektive wie auch die Vorstellung, hier fresse sich eine starre sozial-politische Konfrontation ins gesellschaftlich-kulturelle Gewebe ein, liefern nur ein ungenaues Bild der Lage. Gott sei Dank! In Wahrheit haben wir es nämlich mit einer höchst flexiblen und wandelbaren Konstellation sozio-kultureller Interessen und Mentalitäten zu tun. Sie können durch gute Politik entscheidend beeinflusst werden. Umfragen, Erfahrungen und Analysen sprechen dafür, dass die momentanen politischen Orientierungen eines großen Teils der Wähler der Rechtspopulisten stark situationsbedingt sind, nämlich eine Reaktion auf enttäuschende politische Angebote der etablierten Parteien, denen es nicht gelingt, verbreitete Unsicherheiten, Enttäuschungen und Ängste aufzulösen oder wenigstens glaubwürdig einzuhegen. Könnten die meisten dieser entfremdeten Wähler überzeugt werden, dass die anderen Parteien, zumal die Sozialdemokratie, auf ihre existenziellen Hoffnungen überzeugend eingehen, würden sich ihre Einstellungen vermutlich bald auch wieder ändern.

Spielarten des Kommunitarismus

Für ein realistisches Verständnis des neuen Grundkonflikts sind zwei Beobachtungen dienlich: Zum einem befindet sich jeweils nur eine kleine Minderheit mit ihrer politisch-kulturellen Einstellung in der Nähe der entgegengesetzten Pole, die allermeisten Menschen hingegen in wechselnder Entfernung von ihnen und nicht wenige verbinden sogar Elemente der kommunitaristischen Einstellung mit kosmopolitischen Zügen. Vielfältig sind die Möglichkeiten der Verbindung von Offenheit für die Welt und für Migranten mit dem Wunsch nach einer vertrauten lokalen Lebenswelt - und sie kennzeichnen die Wirklichkeit der Einstellungen der allermeisten Menschen lebensnäher als das polare Modell des neuen Konflikts. Gerade auf diesem Feld sind die Wahrnehmungen und Urteile der meisten Menschen, von kleinen verhärteten Milieus abgesehen, abhängig davon, wie sie ihre soziale Situation erleben und die darauf bezogene Politik der etablierten Parteien beurteilen. So gaben bei Nachwahlumfragen zur Wahl in Mecklenburg-Vorpommern 2016 fast 80 % der AfD-Wähler an, sie hätten sich für diese Partei nicht wegen ihres Programms sondern als Denkzettel für deren etablierte Konkurrenten entschieden. Die Positionierung der Wähler auf der Kommunitarismus-Kosmopolitismus-Skala ist flüchtiger und abhängiger von anderen Faktoren als bei den traditionellen sozialen Grundkonflikten.

Das bedeutet vor allem, dass die Zuordnung "Kommunitarist" mehrdeutig ist, denn sie umfasst gegenwärtig in grober Unterscheidung drei höchst entgegengesetzte Teilgruppen. Zur auffälligeren davon gehören Menschen, die in verfestigter Form der völkischen Identitätspolitik zuneigen, also die ethnischen Fundamentalisten, der Kern der rechtspopulistischen Parteien, d.h. die identitären Kommunitaristen. Diese bewegen sich an oder jenseits der Grenze zum Rechtsextremismus und scheinen immun gegen die Realität und kritische Argumente. Die zweite Gruppe bilden viele der zeitweiligen Wähler rechtspopulistischer Parteien in Krisensituationen. In ihr überwiegen Menschen, die durch existenzielle Unsicherheit, Abstiegsdrohungen und/oder unkontrollierte Zuwanderung irritiert sind (wobei die Grenzen zwischen Realität und Wahrnehmung fließend sein können) und beruhigende politische Antworten auf ihre Sorgen vermissen. Darüber hinaus gibt es aber auch die gemäßigten liberalen Kommunitaristen, die ein starkes Interesse an Zusammengehörigkeit und Selbstbestimmung in überschaubaren Lebenswelten haben und den dafür notwendigen zivil-kulturellen Grundkonsens verteidigen, aber in diesem Rahmen für religiösen und ethnischen Pluralismus sowie kontrollierte Zuwanderung offen sind. Wo diese alle in einen Topf geworfen werden, geht die Differenzierung verloren, die für das genaue Verständnis der neuen Konflikte und für politische Strategien zu ihrer Lösung unerlässlich sind.

Die unerwartete Anfälligkeit großer Unterschichtmilieus für die rechtspopulistische Weltsicht resultiert, wie Piero Ignazi beobachtet hat, "aus einem Gefühl des Verlassenseins, wenn nicht des Verrats durch ihre traditionellen politischen Vertreter. Dieses Gefühl hat zu einer historischen, möglicherweise nicht mehr zu korrigierenden Abwanderung dieser Wähler zu Parteien der populistischen Rechten geführt" (IPG 15.11.16). Diesen Milieus der "manuellen und unqualifizierten Arbeiten (oder Angestellten) boten die großen europäischen Linksparteien, zumal die Sozialdemokratie, über viele Jahrzehnte hinweg wirksame politisch-kulturelle Leitorientierungen in drei entscheidenden Dimensionen: eine einfache und eindeutige Erklärung des Gerechtigkeitsdefizits und ihrer Exklusionserfahrung in der bestehenden Gesellschaft verbunden mit einer ebenso überzeugenden politischen Strategie für die Überwindung dieser Misere. Hinzu kam, dass die Repräsentanten der Sozialdemokratie, auch wenn sie selbst zumeist nicht der Arbeiterklasse entstammten, in ihrer Sprache und ihrem Auftreten eine Art "Anerkennung" der Angehörigen dieser Milieus verkörperten.

Diese Bindekräfte sind den sozialdemokratischen Parteien gründlich verloren gegangen und auf verquere Weise von den Rechtspopulisten ersetzt werden. Deswegen gelingt diesen "Identitäts-Kommunitaristen" in verblüffendem Ausmaß nicht nur lediglich die Übernahme der vordem sozialdemokratischen "Arbeiter"-Wähler, sondern, was wesentlich bedeutsamer ist, allmählich auch deren kulturelle Einbindung in neu entstehenden Milieus. Die Sozialdemokratie kann diese Milieus nicht mit kleinen Programmkorrekturen zurückgewinnen, sondern nur mit einer symbolisch und real runderneuerten Strategie. Dafür muss sie von zwei miteinander verbundenen, aber relativ unabhängigen Interessen der "Arbeiter"-Wähler ausgehen: der kulturellen und materiellen Anerkennung einfacher Arbeit und überzeugende Lösungen für die Folgen von unkontrollierter Massenimmigration gerade in den Lebenswelten der ohnedies schon verunsicherten und benachteiligten "Arbeiter".

Die Erfolge der Rechtspopulisten beziehen sich auf beide Herausforderungen, aber nicht mit glaubhaften Antworten, sondern in Form der identitätspolitischen Umdeutung sozialer Fragen in kulturell-ethnische Wir-Sie-Gegensätze. In das "Sie", die Gegner des Volkes, werden auch die politischen Eliten einbezogenen, die ihnen die "Fremden" ins Land holen. Das tatsächliche soziale Grundproblem verweigerter Anerkennung wird noch verschärft, wenn sogar die Sozialdemokraten den Niedriglöhnern und Prekären als Antwort immer nur eines zu bieten haben: die Aufforderung zum Aufstieg durch Bildung. Das wird von vielen auf diese Weise Getrösteten als eine Art höhnische Bekräftigung der Ausgrenzung und nicht als echte Chance der Teilhabe empfunden, getreu dem Motto: Würdet ihr euch besser bilden, dann hättet ihr auch mehr Einkommen, Sicherheit und Anerkennung. Viele erleben das wie eine finale Weigerung der Politik, das Leben, das sie tatsächlich führen (und oft auch führen wollen), wirksam zu verbessern. Das identitätspolitische Rezept der Abwertung der Anderen und ihrer Abwehr als bedrohliche Sozialkonkurrenz erweist sich angesichts des sozialdemokratischen Defizits momentan als das wirkungsvollere.

Brückenschläge

Eine sozialdemokratische Antwort auf das geschilderte Dilemma müsste drei miteinander verbundene Elemente enthalten: ein anständiges, sozial inklusives Einkommen, mehr Sicherheit für die Arbeitsplätze und die sozialen Lebensgrundlagen (bis weit in die Mittelschichten hinein) sowie die gesellschaftliche Anerkennung der Würde einfacher Arbeit. Das alles gehört zu jener "doppelten Integration", die die wirklichen Sorgen der Geringqualifizierten und Prekären, ebenso wie die Bedürfnisse der Migranten ernst nimmt. Dafür bedarf es einer ausreichend finanzierten Investitionspolitik für die maßgeblichen Defizitbereiche der prekären Lebenswelten: Wohnung, Quartier, soziale Sicherung, Arbeitsplatz, Schulen, öffentlicher Raum. Dazu gehören gleichermaßen das Signal und die Praxis einer Politik der kontrollierten Einwanderung und der aktiven Integration.

Die Tatsache, dass zunehmend auch Teile der Mittelschicht vom Wunsch nach einer geschlossenen Gesellschaft, dem Willen zur Abwertung des Anderen und seiner Ausschließung erfasst werden, ist kein Beweis gegen den Befund, dass diesem Einstellungswandel vor allem Erfahrungen der Unsicherheit, der Ungerechtigkeit und der sozialen Exklusion zugrunde liegen, denn diese Erfahrungen reichen als Verunsicherung und Abstiegsängste heute bis weit in jene Schichten hinein, die sich momentan in scheinbar gesicherter Position befinden. Und: Die empörenden, die Glaubwürdigkeit von Demokratie und "Leistungsgesellschaft" andauernd untergrabenden Ungleichheiten unserer Gesellschaft finden ja keineswegs nur die am schlechtesten Gestellten abstoßend.

All das zeigt zwei Schwächen der idealtypisch überspitzten Konfliktlinie Kommunitarismus-Kosmopolitismus: Sie übersieht zum einen die gewichtigen Unterschiede innerhalb beider "Lager", vor allem dass es vielen Kommunitaristen primär um Gewährleistung sozialer Sicherheit und Anerkennung geht oder um die Bewahrung beherrschbarer lokaler Lebenswelten und nicht um menschenverachtende Identitätspolitik. Für sie sollen die lokalen Lebenswelten in sich liberal und pluralistisch sein, aber politisch selbstbestimmt, sozial kommunikationsfähig und beherrschbar bleiben. Das können sie nur solange alle, die in ihnen zusammenleben, eine verbindende "Zivilkultur" des öffentlichen Verhaltens teilen (Michael Walzer). Und zweitens ist Kommunitarismus kein objektiver sozio-politischer Status wie etwa "Lohnarbeiter" oder "Christ", sondern eine Mentalität, die in ihren sehr unterschiedlichen Ausprägungen ganz von situativen sozialen und politischen Erfahrungen abhängt. Wenn das Bedürfnis nach Gleichheit, innerer und sozialer Sicherheit, Anerkennung und Inklusion, nach kontrollierter Zuwanderung und Integration in der nationalen und den lokalen Gesellschaften befriedigt ist, kann der identitäre, rechtspopulistische Kommunitarismus sicher nicht zum Massenphänomen werden. Umso weniger, wenn die legitimen Ansprüche eines pluralistischen Kommunitarismus, der die Intaktheit einer alle verbindenden Zivilkultur schützen will, als legitime politische Option ernst genommen werden. Dann zeigen sich nämlich auch die politischen Kompromisslinien zwischen einem geerdeten Kosmopolitismus, der gleichfalls an sozial und kulturell integrierten Lebenswelten vital interessiert ist, und einem liberal-pluralistischen Kommunitarismus, der Offenheit und Zuwanderung nicht scheut, wenn sie in demokratisch kontrollierten Bahnen verlaufen.


Thomas Meyer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der NG/FH. Zuletzt erschien in der edition suhrkamp: Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren.
thomas.meyer@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2017, S. 37 - 41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2017

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