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DISKURS/106: Mehr Demokratiezufriedenheit durch Plebiszite? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2015

Partizipation im Wandel
Mehr Demokratiezufriedenheit durch Plebiszite?

Von Frank Decker


"Was wäre heute, wenn das Plebiszit ins Grundgesetz geschrieben worden wäre?" fragt der Journalist Heribert Prantl in einem Artikel, der auf die Verhandlungen zum deutschen Einigungsvertrag vor 25 Jahren zurückblickt. Und er liefert die Antwort gleich mit: "Vielleicht wäre längst positiv über Europa abgestimmt worden. Vielleicht wären gute, klärende Diskussionen vorausgegangen. Vielleicht hätte sich die allgemeine Unzufriedenheit mit dem politischen Betrieb und Personal nicht so krass entwickelt. Diese Unzufriedenheit reicht heute bis weit in die Mitte der Gesellschaft."

Tatsächlich? Wenn es eine Krise der Demokratie gibt, dann lässt sich diese - zumindest in der Bundesrepublik - nicht an einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie ablesen. Für das Jahr 2014 weisen Einstellungsdaten eine Zustimmung zur Demokratie im Allgemeinen von 90 % und zur Demokratie in Deutschland von 82 % aus. Diese hohen Werte sind seit Ende der 70er Jahre ziemlich stabil. Mit Blick auf die deutsche Einheit ist dabei vor allem die seit Mitte der Nullerjahre deutlich gestiegene Unterstützungsbereitschaft der ostdeutschen Bürger/innen bemerkenswert. Lag deren Demokratiezufriedenheit bis dahin teilweise um mehr als 30 Prozentpunkte unter der der Westdeutschen, so beträgt die Differenz heute nur noch rund 10 Prozentpunkte.

Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man nach dem Vertrauen der Bürger/innen in die politischen Institutionen fragt. Hier hat sich seit den Nullerjahren eine große Kluft zwischen den rechts- und parteienstaatlichen Institutionen aufgetan. Dies gilt für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen. Während Gerichte, die Polizei, die öffentliche Verwaltung oder der sich als "überparteilich" verstehende Bundespräsident eine relativ hohe Wertschätzung genießen, ist das Vertrauen in Parteien, Parlament und Regierung stark zurückgegangen. Erst in jüngster Zeit (seit 2011) hat sich die Akzeptanz der Letztgenannten wieder etwas verbessert, was vor allem auf die günstige Wirtschaftslage zurückzuführen sein dürfte.

Es gibt also keine allgemeine Demokratieverdrossenheit, wohl aber eine Parteien- und Politikerverdrossenheit - dieses in den 80ern geprägte Schlagwort ist heute angebrachter denn je. Empirischen Niederschlag findet es in der Entwicklung der auf Wahlen bezogenen Partizipation. Die Organisationskraft der Parteien sinkt, die Wahlbeteiligung ist auf allen Ebenen des politischen Systems rückläufig, die soziale Ungleichheit der politischen Beteiligung wächst, und die Wähler/innen neigen vermehrt zu "abweichendem" Stimmverhalten, was sich in Wahlerfolgen rechts- und linkspopulistischer "Protestparteien" ausdrückt. Als selbst erklärte "Anti-Establishment-" oder "Anti-Parteien-Parteien" sprechen diese offensichtlich vielen enttäuschten Bürgern aus der Seele. Dies gilt auch für ihre Forderung nach mehr direkter Demokratie. "Direkt" soll dabei nicht nur bedeuten: unter Umgehung der repräsentativen Institutionen, das heißt vor allem der Parteien, sondern es soll zugleich suggerieren, dass es sich um eine höherwertige, ja die eigentliche Form der Demokratie handele. Weil diese Forderung - nicht in derselben Zuspitzung, aber doch in der Tendenz - von ernstzunehmenden wissenschaftlichen und politischen Beobachtern wie dem eingangs zitierten Heribert Prantl geteilt wird, verlangt sie nach einer gründlichen Auseinandersetzung.

Die Befürworter der direkten Demokratie können sich auf die mehrheitliche Unterstützung der Bevölkerung berufen. In einer eigenen Untersuchung für das Land Nordrhein-Westfalen (Frank Decker/Marcel Lewandowsky/Marcel Solar: Demokratie ohne Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation, Bonn 2013) haben wir die Wähler/innen danach gefragt, warum die Wahlbeteiligung ihrer Meinung nach sinkt. Dabei stimmten 78 % der Auffassung zu, die Bürger/innen glaubten, durch Wahlen nichts verändern zu können. 65 % führten die Wahlabstinenz auf das Verhalten der Parteien zurück, die kein Interesse am Gemeinwohl hätten, während fast genauso viele der Meinung waren, dass sich die Bürger/innen selbst für Politik zu wenig interessierten. Nach Reformmaßnahmen für eine Steigerung der Wahlbeteiligung gefragt, sprachen sich 70 % dafür aus, dass man bei Wahlen nicht nur über Parteien, sondern auch über Sachfragen abstimmen können sollte.

Die "eigentliche Form" der Demokratie?

Die Unzufriedenheit mit den bestehenden repräsentativen Institutionen spiegelt sich in der positiven Bewertung der Abstimmungen wider. So formulierte eine große Mehrheit (81 %) die Erwartung, dass die Bürger/innen mittels Volksentscheiden selbst Themen in die politische Diskussion einbringen könnten. Ähnlich hoch (76 bzw. 70 %) lag der Anteil derjenigen, die sich von den Abstimmungen eine Zunahme des politischen Interesses und der Zufriedenheit versprechen. Und 66 % stimmten der Ansicht zu, dass durch Volksentscheide die Politiker/innen besser kontrolliert werden könnten.

Mit der positiven Grundhaltung korrespondiert wiederum eine kritische Bewertung der vorhandenen direktdemokratischen Verfahren auf kommunaler und Länderebene. Nach den Gründen befragt, warum in der Regel nur ein kleiner Teil der Bürger/innen an den Abstimmungen teilnehme, antworteten die meisten (82 %), dass jene über diese Beteiligungsformen zu wenig wüssten. 59 % sehen sogar eine grundsätzliche Überforderung; sie halten die Bürger/innen für nicht gut genug informiert, um selbst politische Entscheidungen zu treffen. Eine große Mehrheit (77 %) stimmte der Ansicht zu, dass die Bürger/innen über die wichtigsten Fragen gar nicht abstimmen dürften, und fast genauso vielen (69 %) fehlt der Glaube, dass sich die Politiker/innen an die Ergebnisse der Volksabstimmungen halten. Zu hohe Hürden nannten dagegen nur 54 % der Befragten als Grund.

Bei der Frage nach den Themen, über die sie gerne abstimmen würden, wurden gerade die Bereiche am häufigsten aufgeführt, die der direkten Demokratie heute nahezu vollständig entzogen sind: Sozialleistungen, Steuern, Abgeordnetendiäten und der Haushalt. Auffällig ist die Vergleichsweise geringe Priorität der Infrastrukturpolitik. Zwar hält auch hier eine deutliche Mehrheit Volksabstimmungen für wichtig. Der Bereich rangiert aber unter den gewünschten Abstimmungsgegenständen an vorletzter Stelle; nur die Zuständigkeiten der EU wurden als noch weniger wichtig eingestuft.

Die Befürworter/innen heben als Hauptvorteil der plebiszitären Elemente hervor, dass sie zu mehr Beteiligung führten und darüber das Vertrauen der Bürger/innen in die demokratische Ordnung gestärkt werde. Diese Erwartung dürfte aus mindestens vier Gründen überspannt sein. Erstens ist das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein solcher Verfahren nur einer von Vielen Faktoren, die für die allgemeine Systemzufriedenheit bestimmend sind. Ihre relative Bedeutung wird bereits daran deutlich, dass sich an den Abstimmungen meistens nur ein geringer Teil der Bürgerschaft beteiligt, was zugleich die Durchsetzungschancen von gut organisierten Initiativen und Minderheiten erhöht. Darüber hinaus sind die Verfahren oftmals so ausgestaltet, dass sie unter der Kontrolle der Parteien ablaufen oder von diesen in eigener Regie betrieben werden. Schon aufgrund ihres niedrigen quantitativen Gewichts kann von einer echten Bedrohung des Parteienstaates durch die Volksabstimmungen keine Rede sein.

Zweitens verkennen die Befürworter, dass Kritik und Unzufriedenheit dem demokratischen System letztlich inhärent sind. Es bringt über seine Vermittlungsinstitutionen ständig neue Forderungen hervor, die früher oder später enttäuscht werden. Die Lösung dieses Problems kann nicht darin liegen, Parlament und Parteien zu entmachten und stattdessen das Volk regieren zu lassen. Der Schlüssel liegt vielmehr bei den repräsentativen Institutionen selbst, die unter den Bedingungen des heutigen Regierens eine zunehmend schwierigere Gratwanderung zu bewältigen haben, nämlich einerseits im Sinne ihrer Wähler/innen"responsiv" zu sein (das heißt deren Bedürfnissen und Wünschen zu entsprechen) und andererseits politisch verantwortlich zu handeln. Plebiszitäre Elemente wären nur dann sinnvoll, wenn sie ihnen helfen, beides besser miteinander zu verbinden. Am besten geeignet wäre dafür ein System wie in der Schweiz, wo das Volk das Recht hat, jeden Gesetzesbeschluss im Wege des Referendums zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Dies zwingt Regierung und Parteien, ihre Vorhaben möglichst konsensuell anzulegen und sie vor den Wähler/innen gut zu begründen.

Ein solches System steht jedoch - drittens - in grundsätzlichem Widerspruch zur parlamentarischen Regierungsform, die auf dem Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition basiert. Seine Einführung kommt deshalb in der Bundesrepublik ebenso wenig infrage wie die Übernahme des in allen 16 Bundesländern bestehenden "Modells" der Volksgesetzgebung in das Grundgesetz. Auf der nationalen Ebene wären allenfalls Verfahren wie eine konsultative Volksbefragung, ein von Regierung oder Parlament anzuberaumendes Referendum oder ein obligatorisches Verfassungsreferendum zu erwägen, die sich in den deutschen "Parteienbundesstaat" vergleichsweise problemlos einfügen. Leider wird eine sinnvolle Debatte darüber durch die Fixierung auf das Volksgesetzgebungsmodell vereitelt, die Befürworter und Gegner der direkten Demokratie hierzulande teilen.

Viertens handelt es sich bei den Repräsentationsschwächen der Parteiendemokratie nicht in erster Linie um ein Problem mangelnder kommunikativer Vermittlung, das man durch institutionelle Reformmaßnahmen ohne Weiteres beheben könnte. Ihre Ursachen liegen vielmehr in den sozialen Gegensätzen einer auseinanderdriftenden Gesellschaft, die das materielle Substrat der Gleichheitsidee untergraben, auf der die Demokratie beruht. Die empirischen Befunde zeigen, dass es überwiegend die benachteiligten Wählerschichten sind, die das Vertrauen in die Politik verloren haben und sich dauerhaft von ihr abwenden. Wenn diese Wähler/innen heute bereits die Wahlen schmähen, die immer noch die gleichheitsfreundlichste, weil niedrigstschwellige Form der Beteiligung darstellen, dann werden sie sich auch durch die höherschwelligen Partizipationsangebote der Direktdemokratie nicht in das System zurückholen lassen.


Frank Decker ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Zuletzt u.a. Mit-Herausgeber von Demokratie ohne Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation (J.H.W. Dietz).
frank.decker@uni-bonn.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2015, S. 11 - 13
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2015

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