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DISKURS/090: Der Washington Square-Konsens (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

Der Washington Square-Konsens
Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert

Von Thomas Meyer


Der Washington-Konsens ist eine hässliche Sache. Als Richtlinie für die Kreditvergabe des Währungsfonds an notleidende Länder zwang er diese zum Abbau von Sozialleistungen, zur Verminderung staatlicher Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft, zur Dominanz der Märkte über die Politik und zur Öffnung für ausländische Finanzmagnaten. Er steht für die zu Ende gehende Epoche des ideologischen Marktfundamentalismus.

Der Washington Square-Park ist ein schöner Platz, um dessen südliche Seite sich die Gebäude der New York University gruppieren. Eines davon überragt alle übrigen. Sein Penthouse beherbergte im April dieses Jahres für zwei Tage eine kleine, bemerkenswerte Runde von Gelehrten aus aller Welt. Sie sprachen auf Einladung des renommierten Historikers Tony Judt über das Thema: Was ist tot und was lebendig in der sozialen Demokratie? Am Ende gelangten der Wirtschaftshistoriker aus Oxford, die Sozialstaatsforscher aus Kyoto, New York und London, der Privatisierungsforscher aus Mailand, Experten für Theorie und Praxis der sozialen Demokratie aus Kanada, Frankreich und Deutschland, China, Schweden und Kanada, der Politikberater aus den Niederlanden sowie der Anthropologe aus Indien zu dem Befund, man sei nach mancher Kontroverse dann doch zu einer grundsätzlichen Übereinstimmung gelangt, nennen wir sie doch Washington Square-Konsens.

Politisch hatte der Gastgeber nach erfolgter Debatte die versammelten Gelehrten so charakterisiert: "Wohlfahrts-Linke", "egalitäre Linke", "Gerechtigkeits-Linke" und - vielleicht "schwerer zu fassen, aber mit wirklichem Gefühl" - die "sozialdemokratische Linke". Die Tatsache problemloser Verständigung einer so bunten Runde über die aktuellen Zentralthemen sozialer Demokratie, das Überborden und Versagen der Märkte, den bedrängten Sozialstaat, das Scheitern der Privatisierung, die Dringlichkeit Sicherheit stiftender sozialer Grundrechte und die Bedrohung der Demokratie, hat keinen der Anwesenden überrascht, so wenig wie die Ähnlichkeit der Erfahrungen damit in so unterschiedlichen Regionen wie Lateinamerika, Europa und Asien.


Themen der Zeit

Pierre Rosanvallon, Historiker aus Paris, erinnerte daran, dass der moderne Sozialstaat in seinen Grundelementen aus Sozialversicherung, kollektivem Verhandlungssystem für die Festlegung der Arbeitsbedingungen, korporatistischer Regulierung und progressiver Besteuerung in Europa in nur zwei Dekaden seit den 1880er Jahren realisiert worden ist. Ein historischer Klassenkompromiss, der unausweichlich erschien, um radikalere Alternativen abzuwenden. Überall wurde er von bürgerlichen Parteien ins Werk gesetzt, auch wenn es der sozialdemokratische Druck war, der den Kompromiss erzwang. In Europa war der Sozialstaat nichts, das den Kapitalismus irgendwann als äußere Zutat großmütig ergänzte, sondern eine grundlegende Bedingung für dessen Entfaltung selbst. Diese notwendige Symbiose hat zu einer stetigen Ko-Evolution der Unzertrennlichen schon seit dem 19. Jahrhundert geführt. Und dennoch, so Tony Judts Warnung, wachsen die Kräfte, die Markt und Sozialstaat auseinanderreißen wollen, weil sie die Erfahrung verdrängen, dass sie dann beide und mit ihnen die Demokratie selbst in den Abgrund stürzen.

Was aber sind unsere Erfahrungen mit der sozialen Demokratie heute? Da ist zum einen der empirisch gut untermauerte Befund, dass serienweise Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, ob Nahverkehr, Energie oder Wasser, die Dienste weder verbilligt noch verbessert, aber die Lebensqualität Vieler spürbar verringert und den Einfluss der Bürger auf sie nahezu annulliert haben. Profitiert haben reiche Investoren, gepolstert durch öffentliche Garantien. Eine gigantische Übertragung öffentlichen Vermögens, exemplarisch in Großbritannien, schlecht verhüllt vom Nebel der neo-liberalen Ideologie. Die öffentlichen Güter und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge müssen zurück an den politischen Ort, der ihnen im Interesse der Bürger gebührt - und allein bekommt. Dafür braucht soziale Demokratie eine politische Sprache, um den Schulterschluss zwischen den betroffenen Menschen und den politische Akteuren, die das vertreten, aufs Neue herzustellen.

Doch der Universalismus von Gerechtigkeit und Solidarität und mit ihnen die Lebensansprüche der sozial Deklassierten haben heute fast überall einen schweren Stand, auch deshalb, weil letztere politisch nur noch eine kleine Einflussgruppe sind. Der Rückzug der linken Intellektuellen aus dem öffentlichen Raum und die trotz Finanzkrise vorherrschende Sprache des libertären Egoismus haben die Politik der Solidarität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts ihrer Stimme beraubt. Massimo Florio, Mailänder Ökonom, stellte einen Zusammenhang her zwischen der beispiellosen Kapitalkonzentration in immer weniger Händen und dessen unwiderstehlicher Anziehungskraft auf das intellektuelle Kapital der jüngeren Generation. Viele der besten Köpfe geraten in seinen Bann, statt sich für die scheinbare Aussichtslosigkeit einer fairen Alternative zu opfern. Die wachsende ökonomisch-soziale Ungleichheit schafft sich so ihre eigenen kulturellen, wissenschaftlichen und publizistischen Lebensgrundlagen. Avner Offer, Oxford, bremste den Optimismus, dass die Dominanz der Ungleichheitsideologie nach dem Scheitern des Markt-Fundamentalismus wie von selbst vorüber sei. Schon wahr, der Neo-Liberalismus und die Rational Choice-Ideologie sind als Erklärungen der Wirklichkeit krachend gescheitert. Aber das widerlegt sie in den Augen ihrer einflussreichen Apologeten noch lange nicht. Denn denen geht es nicht um den Erklärungs-, sondern allein um den politischen Nutzwert dieser Vorstellungswelt. Erst wenn diese Wortführer und ihr Anhang geistig entmachtet sind, können die politisch-kulturellen Weichen neu gestellt werden. Keynes Warnung vor der Übermacht der toten Geister bleibt aktuell.

Steht nun aber nicht der wachsende Individualismus der modernen Gesellschaften dem universalistischen Projekt der sozialen Demokratie viel grundsätzlicher im Wege? Lassen sich die Sozialstaaten jenseits der Produktionsregime und zugehörigen kulturell-politischen Konstellationen, denen sie sich historisch verdanken, überhaupt noch am Leben erhalten? Hat der Geist des Individualismus nicht alle kollektiven Orientierungen längst aufgelöst? Bo Rothstein, Politikwissenschaftler aus Göteborg, konterte mit einer Fülle empirischer Forschungsergebnisse aus vielen Teilen der Welt. Nirgends in den entwickelten Gesellschaften ist Individualisierung mit egoistischer Sozialethik identisch. Häufig sind es gerade die am stärksten individualisierten Milieus, deren Mitglieder besonders solidarisch handeln, wenn auch in neuen Formen. Im Übrigen regeneriert gerade der Sozialstaat selbst, wenn er universalistisch, unter Einbezug der Mittelklasse organisiert ist, ebenso sehr Solidarität wie er von ihr lebt. Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten zeigen es.

Während die erste Globalisierung des späten 19. Jahrhunderts Protektionismus und Nationalismus nährte, die die Welt dann in den Großen Krieg stürzten, schürt die gegenwärtige Globalisierung Protektionismus und Ausländerfeindschaft innerhalb unserer heterogenen Gesellschaften. Aus dieser Problemerfahrung, etwa in Frankreich oder Indien, wurde die Frage aufgeworfen, ob Solidarität, wenn sie einen Sozialstaat tragen soll, nicht ein hohes Maß an sozialer Homogenität voraussetze. Für Frankreich wurde konstatiert, dass der Konflikt zwischen Gleichheit und Solidarität auf der einen Seite und der Anerkennung kultureller Verschiedenheit auf der anderen ungelöst sei. Eine vertrackte Herausforderung für soziale Demokratie. Je mehr Anerkennung man wolle, umso mehr Verschiedenheit müsse man akzeptieren. Je mehr Umverteilung man aber befürworte, umso mehr Homogenität setze man in Wahrheit voraus. Dipankar Gupta, der indische Anthropologe, empfahl auf den Spuren Hermann Hellers, die gesuchte Übereinstimmung der Gesellschaft im Konzept der Bürgergleichheit zu finden, genauer einer sozialen Bürgerschaft, die, wo sie wirklich alle einbezieht, durch Teilhabe, Sicherheit und Selbstbewusstsein, die sie gewährt, stärker wirkt als alle kulturellen oder ethnischen Unterschiede. Bei den ethnisch-kulturell codierten Konflikten agieren die Aggressoren immer im Namen des Volkes, die angegriffenen Minderheiten antworten stets mit ihren Rechten als Bürger.

Gleichzeitig betont und relativiert wurde die Rolle, die Globalisierung für all das spielt, durch die Forschung von Judith Teichman, Toronto. Mit ihrem Team hat sie gezeigt, dass selbst unter den Bedingungen unfairer Marktglobalisierung in Ländern der Peripherie, etwa Mauritius, Costa Rica, Chile, Kerala, ein erstaunliches Maß sozialer Demokratie machbar ist, vorausgesetzt, feudalistische Strukturen sind durch Märkte gebrochen, die Zivilgesellschaft ist mobilisiert und die politischen Eliten bleiben unter deren Einfluss. Dennoch spielen die Bedingungen der globalen Politik und Ökonomie dabei eine fördernde oder hindernde Rolle. Natürlich verlangt ihre heutige unfaire Verfassung gründliche Reformen, aber Spielräume lässt sie bereits jetzt zu. Soziale Demokratie ist also im doppelten Sinne ein globales Projekt. Sie ist überall möglich und nötig und sie muss die ganze globale Ordnung prägen.


Den Fakten eine Sprache geben

Das finale Lob der sozialen Demokratie, was Wunder, war der schwedischen Stimme vorbehalten. Die Durchforstung der Datenbanken der Welt erlaubt heute die Korrelierung von Maß und Großzügigkeit realisierter sozialer Demokratien mit so gut wie allen anderen ökonomischen, soziologischen und politischen Kennziffern. Auf welche Verbindung man auch schaut, immer sind es die großzügigen sozialen Demokratien, in geringerem Maße auch deren bescheidenere Varianten in Kontinentaleuropa, die ihre libertären Konkurrenten vom US-amerikanischen Typ in den Schatten stellen. Das gilt für die Qualität des Regierens, die politische Teilhabe und die Akzeptanz der Demokratie, für die Zufriedenheit und sogar das Maß bekundeten Lebensglücks der Bürger, vor allem auch für die ökonomischen Indikatoren, wie ausgeglichene Staatshaushalte, Produktivität, Wachstum und Beschäftigung. Dass der Sozialstaat, wenn er zeitgemäß organisiert ist, zu Lasten von Beschäftigung, Innovation oder globaler Wettbewerbsfähigkeit gehe, ist ein ideologisch genährter Mythos.

Rothstein gab aus der Datenfülle dann seine Erklärung für die weltweite Defensive der Linken. Wenn die Fakten so sonnenklar für die Vorteile der sozialen Demokratie sprechen, dann kann die Ursache für ihre geistig politische Schwäche nur das intellektuelle Versagen der Linken sein, sie programmatisch zu artikulieren und politisch zu verfechten. Warum nutzen die Wissenschaftler, die Intellektuellen, die Publizisten die Fakten und Erfahrungen nicht, um soziale Demokratie wieder überall populär zu machen, wo sich doch zeigt, dass dort, wo sie angemessen institutionalisiert ist, nämlich unter Einbeziehung der Interessen der Mittelschicht, die ganze Gesellschaft bis auf sehr kleine Reste Privilegierter so große Vorteile davon hat.

Die Runde versuchte, die Teile dieses Puzzles aneinander zu legen, aber es entstand kein fertiges Bild. Ist es intellektuelle Trägheit oder soziale Korruption durch Geld, Einfluss und Glanz, die Magnetwirkung des großen Kapitals auf die interpretierende Klasse? Sind es die "neuen Bürger" in den Massenmedien mitsamt ihrer libertären Mentalität, gegen die in der öffentlichen Debatte kein Stich mehr zu machen ist? Für die Belange einer solidarischen Gesellschaft zeigen sie oft nur noch Ironie oder gar Zynismus. Ist es die unzeitgemäße politische Sprache der Linken? Woran nur liegt es, dass dem Projekt der Sozialen Demokratie heute die überzeugende öffentliche Sprache fehlt?

Einen wichtigen Hinweis, wo die Antwort zu finden sein dürfte, enthielt das berührende Schlusswort des Gastgebers. Das 21. Jahrhundert schickt sich an, eine Epoche unbeherrschter Risiken zu werden. Die Menschen aber verlangen Sicherheit, um ihr Leben zu gestalten. Soziale, wirtschaftliche und persönliche Sicherheit, seit je Zentralthemen der sozialen Demokratie, müssen zurückgeholt werden ins Herz ihrer Programme, ihrer Botschaft, ihrer Sprache. Es ist das Konzept der sozialen Bürgerschaft, der verbrieften materiellen Grundrechte aller, das ihr den glaubwürdigsten Ausdruck verleiht - überall auf der Welt. Das unterscheidet die soziale Demokratie von allen politischen Konkurrenten in der globalen Arena, verbindet aber die demokratischen Linken der unterschiedlichsten Ausrichtung miteinander. Natürlich sind es nicht die Gelehrten, die den politischen Erfolg einer so großen Sache bewirken werden, aber sie sind unverzichtbar, wenn es gilt, die Macht der toten Geister zu brechen. Der Washington Square-Konsens - ein Mitte-Links-Projekt für die Welt des 21. Jahrhunderts?


Thomas Meyer (* 1943) ist Professor (em.) für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/ Frankfurter Hefte. Zuletzt im VS Verlag erschienen: Was ist Demokratie? und Soziale Demokratie. Eine Einführung.
thomas.meyer@fes.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 53-56
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010