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DISKURS/080: Gerechtigkeit - eine Gasthausdiskussion (planet)


planet - ZEITUNG DER GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT # 58
JUNI-AUGUST 2009

Gerechtigkeit - eine Gasthausdiskussion[*]

Von Daniela Ingruber


Gerechtigkeit wird in Diskussionen oft gefordert wenn es um scheinbar oder tatsächlich Zu-Kurz-Gekommene geht, oder strenge Strafen für abweichendes Verhalten gefordert werden. Macht man den Begriff "Gerechtigkeit" selbst zum Thema, tun sich überraschende Perspektiven auf.


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Ein Lokal im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Spätabends, ein wenig entnervt, weil ich mehrfach mit verschiedenen Menschen über den Begriff "Gerechtigkeit" gesprochen und stets dasselbe gehört hatte: "Das kann man nicht definieren." Kann man doch, wenigstens kann man darüber reden, wie mir hier im Gasthaus bewiesen wird. Zumindest ansatzweise.

Ein Architekt beginnt die Diskussion mit der Frage, ob es gerecht sei, bei einem Wettbewerb zu gewinnen und das Projekt doch nicht umsetzen zu können. Gerechtigkeitsdefinition als das, was uns persönlich betrifft. Der Ansatz ist passend. Ein junger Mann mit Liebeskummer fragt nach der Gerechtigkeit in der Liebe. Eine Politikwissenschafterin winkt ab: Das sei kein Thema für die Gerechtigkeit, man müsse das ernster nehmen: Wie könne es gerecht sein, dass man in eine bestimmte Familie oder in eine bestimmte Region geboren werde und damit von Anfang an ein gewisses Schicksal vorgezeichnet habe?

Ist Gerechtigkeit somit an das Schicksal gebunden? In gewisser Weise ja, wird geantwortet. "Es ist ungerecht, vor der Zeit gehen zu müssen", meint der Architekt, der noch hinzufügt, dass es ebenso ungerecht sei, dass die "Bissigen" besonders alt würden. "Welch Klischee!", ruft die Politikwissenschafterin. Die Meinung, dass die Helden früh sterben, besangen schon die Beatles und die Rolling Stones, als sie jünger waren als heute. Und doch stimmen alle zu, dass das ungerecht sei. Als ob der Tod die Verpflichtung habe gerecht zu sein.

Ein Mann vom Magistrat weist mich darauf hin, dass es tatsächlich durchaus ungerecht sei sich des Lebens zu erfreuen, während man unbedacht auf Ameisen steige - und sowieso viel Unbedachtes im Leben tue.


Schicksal oder Verdienst

Dies ist der Zeitpunkt, an dem eine Diskussion darüber entbrennt, woher wir unseren Gerechtigkeitsbegriff haben. Aus der Erziehung, meinen die einen, die anderen erwidern, es handle sich um eine religiöse Angelegenheit. Schließlich leben wir in Mitteleuropa, in einem katholischen Land. Selbst wer nicht aktiv glaubt, ist davon beeinflusst und damit auch vom christlichen Gerechtigkeitsbegriff. So sei auch der Umstand, dass es in den USA noch immer die Todesstrafe und so wenig Unrechtsbewusstsein diesbezüglich gebe, in gewisser Weise eine religiöse Sache. Auge um Auge.

Der Architekt versucht vom Thema Religion wegzukommen. Er definiert es als ungerecht, wenn Trinkwasser verschwendet wird, um Straßen zu reinigen, während andere keinerlei Zugang zu Trinkwasser haben. "Das ist ein Unglück, Pech eigentlich", wirft ein Gast ein, der erst jetzt zur Diskussion stößt. Gerechtigkeit könne so nicht beschrieben werden, setzt er fort und bringt wieder das Schicksal ins Spiel.

Doch Umweltprobleme seien kein Schicksal, wirft eine ehemalige Umweltberaterin ein. Wenn Ressourcen verloren gehen und Küstenstädte langsam im Meer versinken, sei das zweifellos ungerecht für jene, die betroffen sind, gewiss aber sei das keinem übergeordneten Schicksal zu verdanken sondern menschgemacht.

Verantwortung steht plötzlich im Raum. Ökologische Verantwortung für die nächsten Generationen etwa. Alle stimmen zu. So sei es wohl gerecht, dass sich unsere Generation mit dem Klimawandel beschäftige, um nachfolgenden Generationen das Überleben zu ermöglichen. Dann wäre Nachhaltigkeit ein Gerechtigkeitskonzept.


Moral und Religion

Gerechtigkeit setzt einen Moralbegriff voraus, werfe ich ein - eigentlich um zu provozieren, doch man gibt mir Recht, dass dasselbe auch für die Ungerechtigkeit gelte, die eng mit den Vorstellungen von Unrecht verknüpft sei.

Und schon wieder definieren wir über den negativen Begriff, sprechen von Ungerechtigkeit statt von Gerechtigkeit. Das scheint symptomatisch. Eine Ungerechtigkeit kann beklagt werden, ohne dass jemand wirklich verantwortlich ist. Gerechtigkeit aber, so geht das Gespräch weiter, verlange nach einer gerecht agierenden Person und schon Jesus habe beklagt, dass er keinen Gerechten gefunden habe.

Wieder die Religion. Wer war in der Bibel gerecht? Salomon, der Weise, lautet die einhellige Antwort. "Seine Urteile waren nichts als Tricks", sagt der Architekt. Sie waren überraschend, riefen Emotionen hervor und brachten die Menschen dadurch zum Nachdenken. Eine paradoxe Intervention würde man heute vielleicht sagen. Mit Recht hat das wenig zu tun.

Schon als Kind hatte mich die Frage nicht losgelassen, wie Salomon den Befehl geben konnte, das Kind zu töten, damit die wirkliche Mutter ihren Anspruch auf das Kind aufgebe und dadurch die falsche entlarvt würde. Was, wenn die richtige Mutter zu spät gehandelt hätte? Zeit. In der Diskussion ist man sich einig, dass der Zeitfaktor auch bei der Gerechtigkeit stets eine wesentliche Rolle spiele. Zuweilen dauere es lange, bis sich die Gerechtigkeit durchsetze. Eichmann, sagt die Politikwissenschafterin. Eichmann und all die anderen Massenmörder aus der NS-Zeit, die erst so spät vor Gericht gestellt wurden. Das ist das Stichwort für einen Steuerberater: Er sagt, dass es keine Gerechtigkeit gebe. Nur Recht. Recht stehe geschrieben. Darauf könne man verweisen. Gerechtigkeit aber kann nicht niedergeschrieben werden. Stattdessen existiere in anderen Ländern etwas, das der österreichischen Kultur sehr fremd sei und mit Gerechtigkeit verknüpft wäre: Fairness, sagt der Architekt. Gerechtigkeit sei nämlich etwas, das bloß empfunden werde. Und das wiederum sei kulturell festgesetzt. Fairness sei dabei gar nicht an sich gerecht, denn es gebe auch hier Regeln, die von einer Mehrheit oder einer übergeordneten Macht bestimmt würden. Fairness sei ebenso wenig objektiv wie das, was als gerecht empfunden werde. So kommen wir zu keiner Definition.


Gefühl und Kontext

Gerechtigkeit ist immer mit Verteilung verknüpft, heißt es weiter. Wenn jemand zwei Äpfel bekommt, will ich auch zwei. "Aber wenn der andere mehr gearbeitet hat?" fragt der Mann vom Magistrat. "Dann ist es recht so", antwortet der Steuerberater. Recht oder Gerechtigkeit? Erst jetzt kommt jemand auf die blinde römische Göttin Iustitia zu sprechen. Sie misst die Waagschalen nur über das Gewicht, nicht über das Aussehen. Macht sie das zu einer Gerechten?

Der Mythos der blinden Göttin, die nicht irrt, ist ein grausamer. Da niemand zu ihrer Objektivität fähig ist, gibt es dem zufolge niemals menschliche Gerechtigkeit. Wir scheitern von Anfang an. Man kann sich einem Problem oder einer Entscheidung mit Vernunft nähern, doch gehört das Irren dazu. Jeder Begriff von Gerechtigkeit schließt daher ihr Gegenteil mit ein. Wissen wir doch nicht einmal, wie wir Gerechtigkeit wahrnehmen. Wenn sie über ein Gefühl definiert wird, wie könnte dann jemals Objektivität im Spiel sein?

"Vielleicht ist Gerechtigkeit nie neutral", schließt der Architekt die Diskussion vermeintlich ab. Sie ist an eine Art Mindeststandard des Zusammenlebens gebunden. Sie schließt Regeln ein. Die Menschenrechte seien gerecht, sagt der Architekt und eröffnet damit ungewollt die Diskussion aufs Neue, weil die Politikwissenschafterin nun einwerfen muss, dass die Menschenrechte niemals global sein könnten; sie seien ein europäisches Projekt, ein gutes natürlich aus unserer Perspektive, doch auch eines mit einem kolonialistischen Anliegen, das das gerecht erscheinen lasse, was dem europäischen Weltbild entspreche. Moralisch sei das aus europäischer Sicht korrekt, doch ethisch problematisch.


Schuld und Sühne

An diesem Punkt steigt der Steuerberater aus der Diskussion aus und geht nach Hause. Der Architekt aber überschlägt sich vor Freude. "Dexter!" ruft er. Dexter, jene Fernsehserie, die eine neue Art Held am Bildschirm geschaffen hat: In Selbstjustiz tötet ein Mann jene, die andere getötet haben. Seine Rechtfertigung lautet, dass es gerecht sei, wenn sie sterben, denn das Recht sehe für ihr Verbrechen die Todesstrafe vor. Der Staat versage, indem er sie nicht vor Gericht brächte, also sei es gerecht, dass er das Recht durchsetze.

Hier verschwimmen der Rechts- und der Gerechtigkeitsbegriff - vor allem, weil der Protagonist sympathisch dargestellt wird. Das Publikum wird in eine neue Rolle gedrängt. Einerseits weiß man, dass es Unrecht ist, was er tut, andererseits bekommen die Täter ihre vermeintlich gerechte Strafe. Und weil die TV-Serie rasch Kultcharakter erlangte, wird es scheinbar unzulässig zu argumentieren, dass der Rechtsbegriff dadurch ebenso verniedlicht werde wie der Schuldbegriff.

Schuld. Das sei keine sinnvolle Kategorie in der Gerechtigkeitsfrage, sagt die Politikwissenschafterin. Denn bei der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, über die wir doch endlich sprechen sollten, sei nicht entscheidend, wer schuld sei. Es ginge darum, den Sozialstaat so zu organisieren, dass ein soziales Netz jene auffange, die es brauchen - und zwar ohne danach zu fragen; warum sie es brauchen. Soziale Gerechtigkeit gelte für alle gleichermaßen und ohne Schuldzuweisung.

Die Grundsicherung, schließt sie, sei daher das einzig gerechte System. "In Europa", fügt sie noch rasch hinzu, bevor es jemand anderer sagen kann. Denn natürlich sei auch diesbezüglich die Gerechtigkeit kulturell gebunden. Korruption und Nepotismus seien gute Beispiele dafür, wirft jemand ein. Wenn wir uns in Europa darüber ärgern, dass gewisse afrikanische Regierungen korrupt seien, wollen oder können wir nicht anerkennen, dass es dem Rechtsempfinden mancher Kulturen entspricht, dass man seinen Erfolg mit denen teilt, die zur Familie und deren Umfeld gehören, und daher auch sozial verpflichtet ist, ihnen den gleichen Erfolg zukommen zu lassen, wenn man die Möglichkeit hat. Das gebietet die Dankbarkeit. Im so genannten Westen nennt sich das Korruption. "Was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Dinge auch bei uns ähnlich organisiert werden", möchte der Mann vom Magistrat festgehalten haben.


Verantwortung

Wie das eigentlich mit Widerstand sei, fragt eine Frau, die bisher nur zugehört hat. Wenn man für eine gerechte Sache kämpfe, sei für viele Menschen auch Gewaltanwendung "gerechtfertigt". Was bedeute das? Und wie ziehe man die Grenze? Niemand antwortet. Weil hier ein Punkt getroffen wurde, an dem die Regeln außer Kraft gesetzt werden. Wenn die rechtmäßige Staatsgewalt aussetzt, indem sie ihrer Aufgabe nicht "gerecht wird", wechselt die Gerechtigkeit zu jenen, die dagegen ankämpfen. Was aber legitimiert diese als die neuen Gerechten?

Es ist spät in der Nacht. Die DiskutantInnen ermüden - oder der Wein zeigt seine Wirkung. Das Gespräch verebbt, man kehrt zurück zum Smalltalk. Vorher aber einigt man sich darauf, dass man zwar keine Definition gefunden habe, dass der Ansatz mit der Verantwortung aber jener sei, der der Sache am ehesten entspreche. Verantwortungsvoll zu handeln könne vielleicht gerecht sein. Und Ungerechtigkeit zu sehen, verlange, dass man Verantwortung übernehme die Situation zu ändern. Soweit man das hält könne. Hier hat der Staat seine Verantwortung. Ebenso wie PolitikerInnen - aber eben auch alle anderen.

"Nur das noch", sagt die ehemalige Umweltberaterin: "Wenn es Verantwortung braucht, um Gerechtigkeit hervorzubringen, dann bedeutet das auch einzustehen für seine Meinung. Dann haben wir auch die Verantwortung - oder vielleicht doch die ethische Verpflichtung - dafür zu sorgen, dass jene, die auf Kosten anderer Wahlen gewinnen oder andere Erfolge zu haben versuchen, keine Möglichkeit dazu bekommen."


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[*]Gerechtigkeit. Assoziationen zum Begriff, zum Wert "Gerechtigkeit" sind vielfältig: von "streng aber gerecht" bis zu "Gerechtigkeit für Markus Omofuma", von "Verteilungsgerechtigkeit" bis zur "gerechten Strafe". Von Gerechtigkeit ist auch in Sonntags- und Wahlkampfreden wieder vermehrt die Rede. "Es kann doch nicht gerecht sein, dass ...", heißt es da, wenn es zum Beispiel um die Auswirkungen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise geht. Was unter Gerechtigkeit verstanden wird, hängt davon ab, wer die Macht hat, wer über Werte und Begriffe bestimmen kann. Aber diese Definitionsmacht bleibt nicht unwidersprochen. Statt dem Primat der ökonomischen Verwertbarkeit unter dem nur das gerecht ist, was auch nutzt, steht ein Grundrecht auf Bedürfnisbefriedigung für alle. Statt einer angeblich universellen, in Wirklichkeit partikulär westlichen Gerechtigkeit, stehen viele Gerechtigkeiten, statt der blinden Iustitia eine parteinehmende, mitleidende Gerechtigkeit. planet hinterfragt gängige Konzepte von Gerechtigkeit und liefert Diskussionsanstöße für die Grüne Sommerakademie oder eine sommerliche Debatte im Schanigarten.


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Quelle:
planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 58,
Juni-August 2009, S. 9-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009