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DEMOGRAPHIE/319: Flüchtlingskrise führt zu neuer 'Internationaler Bevölkerungsordnung' (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Oktober 2015

Migration: Flüchtlingskrise führt zu neuer 'Internationaler Bevölkerungsordnung'

von Thalif Deen


Bild: Irische Streitkräfte, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Die irische Marine bei der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer im Juni 2015
Bild: Irische Streitkräfte, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

NEW YORK (IPS) - Während ein noch nie dagewesener Zustrom von Hunderttausenden Migranten und Flüchtlingen aus Kriegsländern nach Europa anhält, geht eine neue Studie davon aus, dass die umfangreiche Zuwanderung aus ärmeren in reiche Staaten jahrzehntelang Einfluss auf die globale Wirtschaft nehmen wird. Ein renommierter Demografie-Experte sieht die Welt an der Schwelle zu einer neuen 'Internationalen Bevölkerungsordnung'.

Laut der gemeinsamen Untersuchung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF), die am 7. Oktober veröffentlicht wurde, ist derzeit ein tiefgreifender Bevölkerungswandel im Gang, der die wirtschaftliche Entwicklung langfristig verändern wird. Einerseits wird dieser Wandel eine Herausforderung sein. Zum anderen weist er einen neuen Weg zur Beendigung extremer Armut und zu gemeinsamem Wohlstand, sofern die richtigen evidenzbasierten Strategien auf nationaler und internationaler Ebene umgesetzt werden.


Bevölkerungswachstum hat langfristige Wirtschaftsfolgen

Joseph Chamie, ein unabhängiger Demograf und ehemaliger Direktor der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen, sagte im Gespräch mit IPS, dass der Report von Weltbank und IWF, anders als die kürzlich von den UN angenommenen Nachhaltigkeitsziele (SDGs), das Bevölkerungswachstum nicht außer acht lasse, sondern seine wesentliche Bedeutung für die Weltwirtschaft und die Entwicklungsbemühungen berücksichtige.

Rasches demografisches Wachstum in einigen Regionen und ein Bevölkerungsschwund in anderen Gebieten, eine alternde Bevölkerung, höhere Lebenserwartung, Urbanisierung, internationale Migration einschließlich zunehmende Flüchtlingsströme sowie andere entscheidende demografische Trends würden in eine "neue internationale Bevölkerungsordnung" münden, meint Chamie.

Nach Ansicht von UN-Beamten musste sich die Weltorganisation gleichzeitig mit zwei Modellen auseinandersetzen: einer neuen Internationalen Wirtschaftsordnung und einer neuen Weltinformations- und Kommunikationsordnung. "Diese neue Bevölkerungsordnung hat immer größere Auswirkungen auf die sozialen und ökonomischen Bedingungen, die politische Repräsentation sowie die internationalen Beziehungen. Dennoch ignorieren Politiker und ihre strategische Berater weitgehend diese Dynamiken, außer wenn sich eine Krise anbahnt, wie jetzt durch den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten", sagte Chamie. Kein einziger Bereich der Entwicklung - wie Armut, Hunger, Wohnen, Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Umwelt - würde nicht davon profitieren, wenn das rasche Bevölkerungswachstum gebremst werde.

Das 'Wall Street Journal' hob hervor, dass die Miliz Islamischer Staat (IS) Ärzte, Lehrer und Facharbeiter anwerben und verhindern wolle, dass sie nach Europa flüchteten. Denn die militante Organisation braucht dringend solche Fachkräfte. "Die Beschäftigung des Islamischen Staats mit der Migrantenkrise spiegelt die wachsende Sorge über einen 'brain drain' auf ihrem Territorium wider, welches sich über Teile des Iraks und Syriens erstreckt", sagte Chamie.

Die Zeitung zitiert einen Bewohner der irakischen Stadt Mossul, der erklärte: "Sie sagen den Leuten, dass diese Migrationsbewegung eine Verschwörung gegen den Islamischen Staat ist und dass die europäischen Länder, die auch sie vor langer Zeit erniedrigt haben, nun wieder versuchen, sie zu versklaven."


Anteil der arbeitsfähigen Weltbevölkerung sinkt

Laut dem Bericht von Weltbank und IWF hat der Anteil der globalen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter den Scheitelpunkt von 66 Prozent überschritten und geht inzwischen zurück. Der Anstieg der Weltbevölkerung wird sich voraussichtlich von mehr als 2,0 Prozent in den 1960er Jahren auf ein Prozent verlangsamen. Der Anteil der älteren Menschen wird den Voraussagen nach bis zum Jahr 2050 auf 16 Prozent steigen und sich damit nahezu verdoppeln. Die Zahl der Kinder pendelt sich bei insgesamt zwei Milliarden ein.

Ausrichtung und das Tempo des globalen demografischen Übergangs unterschieden sich von Land zu Land und hingen davon ab, wo sich der jeweilige Staat auf dem Spektrum der Alters- und Wirtschaftsentwicklung positioniere. Dessen ungeachtet könnten alle Länder den demografischen Übergang als riesige Entwicklungschance nutzen, heißt es in der Studie.

"Mit den richtigen Strategien kann dieses Zeitalter des demografischen Wandels zu einem Wachstumsmotor werden", sagte der Vorsitzende der Weltbank-Gruppe, Jim Yong Kim. "Wenn Staaten mit einer alternden Bevölkerung Flüchtlingen und Migranten ermöglichen können, an ihrem Wirtschaftsleben teilzuhaben, wird jeder davon profitieren. Alles spricht dafür, dass die Migranten hart arbeiten und mehr an Steuern zahlen werden, als sie an Sozialleistungen in Anspruch nehmen."


Arme Länder verzeichnen rascheren Bevölkerungsanstieg

Dem Bericht zufolge konzentriert sich mehr als 90 Prozent der Armut auf der Welt in Ländern mit niedrigeren Einkommen, deren Bevölkerung jung ist und rasch wächst. Der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dürfte in diesen Staaten also erheblich ansteigen. Mehr als drei Viertel des globalen Wachstums werden allerdings in Ländern mit höheren Einkommen generiert, in denen weniger Kinder zur Welt kommen, weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter sind und der Anteil der Älteren weiter zunimmt.

Wie Chamie erklärt, wird die Bevölkerung der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) aufgrund substantieller Unterschiede beim demografischen Wachstum spätestens im Jahr 2030 wahrscheinlich größer sein als die der Industriestaaten.

Auf internationaler Ebene werden laut den Autoren der Studie große Wanderungsbewegungen - Flüchtlinge und illegale Armutsmigranten - auch in der Zukunft zu beobachten sein. "Es ist offensichtlich, dass die demografischen Entwicklungen die politischen Entscheidungsträger in den kommenden Jahren vor fundamentale Herausforderungen stellen werden", so Chamie. "Unklar, wenn nicht zweifelhaft, ist aber, ob die führenden Politiker diese Probleme effizient lösen können." (Ende/IPS/ck/13.10.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/10/rise-in-large-scale-refugees-triggers-new-international-population-order/

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IPS-Tagesdienst vom 13. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2015

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