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AKTUELL/009: Den Wählern in die Köpfe schauen (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2009

Den Wählern in die Köpfe schauen Prognosen werden schwieriger, Wahlentscheidungen immer knapper - aktuelle Tendenzen der Wahlforschung

Von Sabine Wygas


Acht Kommunalwahlen, eine Regionalwahl, fünf Landtagswahlen, eine Europa - sowie eine Bundestagswahl: 16 Wahlen in zwölf Monaten - ein arbeitsreiches Jahr 2009 für das Leibniz Institut für Sozialwissenschaften GESIS. Mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) führen GESIS-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler Wählerumfragen und Wahlanalysen durch. GESIS-Präsident und Politikwissenschaftler Prof. Hans Rattinger erläutert die Bedeutung der Wahlforschung, was sie leisten kann, wie sie sich verändert hat und wo sie überschätzt wird.


Frage: Steinmeier oder Merkel, wer wird die nächste Bundestagswahl für sich entscheiden?

Prof. Hans Rattinger: Das werden wir alle erst am 27. September wissen. Wahlforscher sind schließlich keine Propheten.

Frage: Können Sie durch Ihre Umfragen nicht schon Tendenzen erkennen?

Prof. Hans Rattinger: Mir liegen noch keine eigenen Ergebnisse vor. Außerdem hat die Forschung gezeigt: Je mehr Zeit zwischen Umfragen und Wahlen liegt, desto mehr spiegeln die Ergebnisse nur eine temporäre Stimmung wider, die wenig über den Wahlausgang aussagt. Das zeigt sich zum Beispiel deutlich bei der Europawahl. Da verpassen viele Wähler der Regierung oft einen Denkzettel und wählen eine Partei, die sie sonst nicht wählen würden. Wenn die Bundestagswahl näherrückt und es ernst wird, scheuen sich viele, die Regierung mit ihrer Stimme aus dem Amt zu jagen. Wahlforschung ist also mehr als das bloße Auswerten von Zahlen. Sie ist viel komplexer und will menschliche Denk- und Verhaltensweisen herausfinden, die im Vorfeld der Wahl ablaufen. Daher ist auch die Bezeichnung "Wahlforscher" nicht ganz zutreffend, denn sie bezieht sich nur auf einen Teil meiner Arbeit. Ich bin vielmehr Einstellungs- und Verhaltensforscher, denn darum geht es eigentlich.

Frage: Was soll Wahlforschung also leisten?

Prof. Hans Rattinger: Sie soll aufzeigen, wer wen wählt oder nicht wählt und warum. Diese Fragen beantworten wir, indem wir die persönlichen Einschätzungen der Wähler herausfinden. Wir wollen zum Beispiel erfahren, für wie kompetent jemand eine Partei hält, welche politischen Sachfragen eine Rolle spielen oder wie die Wähler die Kandidaten beurteilen. Erst eine Kombination aus vielen Faktoren liefert eine Erklärung für das jeweilige Wahlverhalten. Das kann individuell sehr verschieden sein.

Frage: Das heißt, dass die Wählerschaft sehr heterogen ist. Was bedeutet das?

Prof. Hans Rattinger: Die Zeiten, in denen galt: "Sag mir deine soziale Lage, und ich sage dir deine politische Präferenz", sind vorbei. Wir greifen nicht mehr nur auf soziale Erklärungsmuster wie Geschlecht, Alter oder Schicht zurück. Und zum anderen gibt es die typischen CDU- oder SPD-Wähler kaum noch. Nehmen wir den Arbeiter, der mit einer Ärztin verheiratet ist. Oder den Mann, der als Mobilitätsfanatiker Mitglied im Motorradverein ist, sich aber gleichzeitig in einem Bürgerverein gegen den Bau einer Eisenbahntrasse engagiert. Der Mensch als vielfältiges Individuum steht im Vordergrund. Das sieht man auch daran, dass es seit den 1970er Jahren im Bund keine klaren Mehrheiten, sondern nur noch sehr knappe Wahlsiege gibt. Das macht Prognosen schwieriger. Wir können keine Pauschalaussagen treffen, sondern müssen den Leuten in die Köpfe schauen.

Frage: Was bedeutet das für die Parteien?

Prof. Hans Rattinger: Sie können keine generellen Stimmungspakete schnüren. Die Kandidaten konzentrieren sich vielmehr auf Kernkompetenzen und stellen heraus, in welchem Gebiet sie besser sind als die Konkurrenten.

Frage: Wie läuft eine Erhebung ab?

Prof. Hans Rattinger: Wir befragen in gewissen Abständen Menschen sowohl online als auch telefonisch oder persönlich und gewichten dann diese Ergebnisse. Bei der Bundestagswahl haben wir zum Beispiel Ende April mit der Befragung von 1.500 Wählerinnen und Wählern, einem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt, begonnen. Das wiederholen wir bis zur Wahl monatlich und schließen mit einer Befragung nach dem Urnengang. Außerdem befragen wir diejenigen, die bereits zur Bundestagswahl 2002 und 2005 Auskunft gegeben haben. Während des Wahlkampfs organisieren wir weitere sechs Wiederholungsbefragungen und eine nach der Wahl. Die Leute sollen dabei zum Beispiel Sympathiewerte für die Parteien auf einer Skala angeben. Wir beziehen auch die Wirtschaftskrise mit ein, fragen nach Angst vor Arbeitslosigkeit oder ob der Staat in der Krise intervenieren sollte.

Frage: Wie lange gibt es Wahlforschung?

Prof. Hans Rattinger: Im angelsächsischen Sprachraum existiert sie seit den 1930er Jahren, in Deutschland seit Kriegsende. Die Amerikaner haben die Deutschen zu der Zeit bereits umfassend befragt, zum Beispiel wie sie zu Hitler stehen oder ob sie an den Aufschwung glauben. Die erste große wissenschaftliche Wahlstudie wurde zu den Bundestagswahlen 1961 durchgeführt.

Frage: Die Bundestagswahl 2005 hat gezeigt, dass sich etwa 20 Prozent der Wähler erst kurz vor der Wahl auf eine Partei festlegen. Wird dieser Trend zunehmen?

Prof. Hans Rattinger: Ja, aber es gibt ihn bereits seit 30 Jahren. Schuld sind auch immer kürzere Wahlkämpfe. Das hat einen Grund: Während früher die Bundestagswahlen im Frühjahr stattfanden, wurden sie dann auf den Herbst, also in die Zeit nach den Schulferien, gelegt. Die Parteien versuchen gar nicht mehr, einen Dauerwahlkampf zu inszenieren, weil viele in Urlaub sind. Die Abgeordneten fahren nach Mallorca, um die Wähler zu erreichen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Erst wenige Wochen vor der Wahl nimmt ein Großteil der Bevölkerung den Wahlkampf bewusst wahr, setzt sich damit auseinander und trifft eine Entscheidung.

Frage: Welche Auswirkungen hat das auf die Wahlforschung?

Prof. Hans Rattinger: Wir müssen künftig viel mehr Aufmerksamkeit auf die kurze Wahlkampfzeit legen. Das erfordert häufigere Befragungen in einer Phase, in der die Leute sechs bis acht Wochen vor der Wahl durch verschiedene Stimmungslagen gehen. Wichtig für uns ist, welchen Effekt die durch die Medien vermittelten Botschaften auf den Wähler haben.

Frage: Welche Faktoren haben einen Einfluss auf den Ausgang einer Wahl?

Prof. Hans Rattinger: Generell sind Kompetenzeinschätzungen sehr wichtig: Wem traut man die Lösung von Problemen zu? Bei Landtagswahlen sind das regionalere Probleme als bei einer Bundestagswahl. In einer Rezession sind "Brot- und Butterthemen" wichtig, wie Lösungen für die Krise oder die Stabilisierung von Einkommen. Themen wie der Umweltschutz treten dann eher in den Hintergrund.

Frage: Verstehen Sie die Menschen, die nicht zur Wahl gehen?

Prof. Hans Rattinger: Sehr gut sogar. Wählen ist ein Bürgerrecht, aber keine Pflicht. Es gibt Menschen, für die die Familie oder der Sport am wichtigsten ist. Ich würde mir andererseits zum Beispiel nie ein Autorennen ansehen, weil es mich nicht interessiert. Wenn jemand nichts mit Politik zu tun haben will, ist es nur konsequent, nicht zur Wahl zu gehen.


Der Politologe Hans Rattinger führt seit 1994 zu den Bundestagswahlen große Wahlbefragungen durch. Der GESIS-Präsident ist Professor für Vergleichende Politische Verhaltensforschung an der Universität Mannheim. In seinem aktuellen Forschungsprojekt beschäftigt er sich mit den Auswirkungen des demographischen Wandels auf politische Einstellungen und politisches Verhalten in Deutschland.


GESIS

GESIS, Leibniz Institut für Sozialwissenschaften, ehemals Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen, wird gemeinsam vom Bund und den Ländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Berlin gefördert. Das Institut hat den aktuellen Stand sozialwissenschaftlicher Forschung und Literatur fest im Blick. GESIS beobachtet fortlaufend gesellschaftliche Entwicklungen und sorgt für ihre nationale, internationale und historische Einordnung. Zudem werden im Rahmen von Forschungsprogrammen, unter anderem zu Wahlen, gezielt Erhebungen durchgeführt. Das Institut stellt seine Informationen und Daten allen Interessierten zur Verfügung und unterstützt Wissenschaftler bei der Entwicklung und Anwendung komplexer Methoden zur Datenerhebung und -analyse. GESIS hat vier Standorte: Bonn, Köln, Mannheim und Berlin.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2009, Seite 6 - 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2009