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ASYL/704: Abwehr vor Rettung (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 22.06.2011
(german-foreign-policy.com)

Abwehr vor Rettung


BENGHASI/ROM/BERLIN - Erfolglos drängen Menschenrechtsorganisationen die Bundesregierung zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus Nordafrika. Deutschland dürfe das Massensterben im Mittelmeer und die desaströse Lage in den nordafrikanischen Flüchtlingslagern nicht länger ignorieren, heißt es in Appellen an die heute in Frankfurt zu Ende gehende Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern. Der Forderung der Vereinten Nationen, rund 11.000 vor dem Krieg in Libyen geflohenen Menschen Zuflucht zu bieten, hätten die Bundesrepublik und die anderen EU-Staaten endlich nachzukommen. Tatsächlich arbeiten Berlin und weitere Hauptstädte, etwa Rom, derzeit daran, die Abwehr von Flüchtlingen selbst aus dem unmittelbaren Kriegsgebiet zu perfektionieren. Diesem Zweck dient der gegenwärtige Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und den Aufständischen im Osten Libyens; als Instrument zur Intensivierung der Flüchtlingsabwehr nutzt Berlin dabei die staatseigene Entwicklungshilfeorganisation GIZ. Die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen fernab der europäischen Wohlstandszentren, wie sie Berlin im Falle Libyens anstrebt, hat System: Laut einer neuen Studie des UNHCR leben vier Fünftel der weltweiten Flüchtlinge in Entwicklungsländern; die höchsten Zahlen erreichen diejenigen Staaten, die an die Kriegsschauplätze des Westens grenzen. Dass die Flüchtlinge von Europa ferngehalten werden können, erleichtert das Führen von Kriegen für Berlin und die EU ungemein.


Dramatisch falsch

Zum weltweiten "Tag des Flüchtlings" am vergangenen Montag und anlässlich der am heutigen Mittwoch in Frankfurt am Main zu Ende gehenden deutschen Innenministerkonferenz drängen Menschenrechtsorganisationen die Bundesregierung zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus Nordafrika. Wie etwa Pro Asyl in Erinnerung ruft, verlangt der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) schon seit Wochen, etwa 11.000 Flüchtlinge aus Libyen müssten endlich in den wohlhabenden Ländern des Westens Zuflucht erhalten. 6.000 von ihnen "befinden sich in auswegsloser Lage in Flüchtlingslagern im tunesisch-libyschen Grenzgebiet", heißt es bei Pro Asyl; sie säßen "buchstäblich in der Wüste fest".[1] Ihnen bleibe deshalb als einzig möglicher Ausweg "die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer". Dabei seien allerdings in den letzten Monaten mehr als 1.600 Menschen ertrunken. Die Praxis der EU, auf die Flüchtlingskatastrophe nur mit einer Intensivierung der Abschottung zu reagieren und die EU-Flüchtlingsabwehragentur Frontex hochzurüsten [2], stößt immer stärker auf Protest. "Wenn die Abwehr Vorrang hat vor der Rettung von Menschen, läuft etwas dramatisch falsch", beschwerte sich etwa vor kurzem Thomas Hammarberg, der Menschenrechtskommissar des Europarats.[3] Die aktuellen Demonstrationen gegen die Innenministerkonferenz in Frankfurt richten sich ebenfalls unter anderem gegen die deutsch-europäische Flüchtlingsabwehr.


Verbindungsbüro

Auch um die Flüchtlingsabwehr zu intensivieren, baut Berlin in diesen Tagen seine Beziehungen zu den Aufständischen im ostlibyschen Benghasi aus. Anders als Frankreich, das Mitte März mit einer formellen Anerkennung der Aufständischen vorgeprescht war, hatte sich Deutschland diesbezüglich bisher zurückgehalten - ein Ausdruck deutsch-französischer Rivalitäten, in deren Rahmen sich Paris klar auf die Seite Benghasis geschlagen hatte, während Berlin die günstige Position eines "Mittlers" anstrebte.[4] Letzte Woche haben nun die deutschen Minister für Äußeres (Guido Westerwelle) und für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Dirk Niebel) Benghasi bereist und dort offiziell das bereits am 23. Mai 2011 in Betrieb genommene Deutsche Verbindungsbüro eröffnet. Das als "Übergangsrat" bezeichnete Koordinierungsgremium der Aufständischen sei "die legitime Vertretung des libyschen Volkes", erklärte Westerwelle dabei.[5] Berlin, das weiterhin jegliche Beteiligung an den aktuellen Kriegshandlungen ablehnt und sich damit eine Sonderstellung gegenüber Paris sichert, dringt jetzt auf größeren Einfluss in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten. Man wolle "mittel- und langfristig" am "Aufbau neuer staatlicher Strukturen" mitwirken und habe dabei vor allem die Wirtschaft im Blick, teilt das Auswärtige Amt mit.[6] Der "Übergangsrat" der Aufständischen hat bereits verlauten lassen, er sei für Wünsche europäischer - auch deutscher - Konzerne offen.


Entwicklungshilfe

Dabei zählt die Flüchtlingsabwehr zu den Prioritäten Berlins im vom Krieg erschütterten Libyen. Schon seit Wochen hält sich ein Erkundungsteam der staatseigenen Entwicklungshilfeorganisation GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, bis 2010 GTZ) in Benghasi auf, um dort die Möglichkeiten zum Aufhalten der Fluchtbewegungen zu eruieren. Offiziell geht es dabei vor allem um die "Wiederherstellung bzw. Reparatur von Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung" und um "Beratung zur Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen"; damit soll die Lage der Menschen in Benghasi verbessert werden.[7] Im Zentrum stehen jedoch Maßnahmen, mit denen eine weitere Flucht nach Europa unterbunden werden soll: die "Betreuung bzw. Versorgung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen" sowie die "psychologische Betreuung von Kriegsopfern", um sämtlichen Versuchen zuvorzukommen, in der EU Zuflucht zu suchen. Dieses Vorgehen ist mittlerweile gut erprobt. Auch im Falle der Kriege um das Kosovo, in Afghanistan und im Irak strebten Berlin und Brüssel danach, die Kriegsflüchtlinge fern der EU in Lagern zu halten - in Mazedonien, in Syrien, in Iran und in Pakistan. Sie hatten damit Erfolg.


710 zu 17

Dies belegt eine aktuelle Studie, die der UNHCR am Wochenende veröffentlicht hat. Demnach gelingt nur relativ wenigen Flüchtlingen überhaupt die Reise in die westlichen Wohlstandsstaaten: Vier Fünftel aller 'Flüchtlinge weltweit leben in Entwicklungsländern.[8] Die Länder, die die meisten Flüchtlinge beherbergen, sind Pakistan (1,9 Millionen), Iran (1,1 Millionen) und Syrien (eine Million); die Kriege, welche die dortigen Flüchtlinge aus ihrer Heimat vertrieben haben, werden von den Staaten des Westens geführt. Der UNHCR hat nun eigens einen Index entwickelt, um die Anstrengungen zu vergleichen, welche die Aufnahmeländer für die Unterstützung der Flüchtlinge aufbringen. An der Spitze liegt Pakistan mit einem Indexwert von 710.[9] Die Demokratische Republik Kongo erreicht einen Wert von 475, im Falle Kenias - dort leben viele Flüchtlinge aus Somalia - sind es immer noch 247. Deutschland erreicht einen Indexwert von 17. Es gebe "ein großes Ungleichgewicht bei der globalen internationalen Unterstützung für Flüchtlinge und Vertriebene", resümiert der UNHCR.


Abschiebung in den Krieg

Noch nicht in der Studie enthalten sind die Flüchtlinge, die der Krieg in Libyen nun aus dem Lande treibt. Wie die aktuellen Aktivitäten der GIZ belegen, strebt Berlin auch in diesem Falle danach, die Flüchtlinge möglichst auf libyschem Territorium oder in den Nachbarstaaten unterzubringen. Eine Flucht in die EU oder sogar nach Deutschland soll ausgeschlossen werden. Dabei ergänzen sich die Aktivitäten Berlins und der rassistisch gefärbten Regierung in Rom. Italien hat in der letzten Woche ein Abkommen mit dem "Übergangsrat" in Benghasi geschlossen, in dem sich die Aufständischen - mitten im Krieg - verpflichten, sämtliche Übereinkünfte zwischen Rom und Tripolis, soweit sie die Vermeidung unerwünschter Einreise in die EU betreffen, umstandslos zu übernehmen. Damit ist es prinzipiell möglich, Flüchtlinge, die den Weg in die EU zurücklegen konnten, direkt in das libysche Kriegsgebiet abzuschieben. Menschenrechtsorganisationen laufen Sturm - vergebens.


Anmerkungen:
[1] Libyen: PRO ASYL startet Kampagne zur Aufnahme von Flüchtlingen; www.proasyl.de 08.06.2011
[2] s. dazu Völlig enthemmt
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57694,
Wohlstandszynismus
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57749 und
Der Eckpfeiler der Flüchtlingsabwehr
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58022
[3] Südländer nehmen weniger Flüchtlinge auf; www.welt.de 09.06.2011
[4] s. dazu Der lachende Dritte
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58063
[5] Rebellen "legitime Vertretung"; www.n-tv.de 13.06.2011
[6] Außenminister Westerwelle in Bengasi; www.auswaertiges-amt.de 14.06.2011
[7] Bundesminister Westerwelle und Niebel in Bengasi eingetroffen; www.auswaertiges-amt.de 13.06.2011
[8] Weltflüchtlingszahlen 2010; www.unhcr.de 19.06.2011
[9] "Um die relativen Belastungen der Staaten bei der Unterstützung von Flüchtlingen genauer zu bestimmen, hat UNHCR die Zahl der registrierten Flüchtlinge auf jeweils einen US-Dollar des nationalen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts (die sog. Kaufkraftparität) des Aufnahmelandes umgerechnet." Weltflüchtlingszahlen 2010; www.unhcr.de 19.06.2011


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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2011