Unabhängige Bauernstimme, Nr. 352 - Februar 2012
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern
Aigners Charta: Wieder eine vertane Chance
Ernst gemeinte Beteiligung der Zivilgesellschaft an politischen Entscheidungsprozessen sieht anders aus
von Marcus Nürnberger
Frau Aigner hat ein Problem mit ihrer Landwirtschaftspolitik. Sie steht zwischen den Interessen der Industrievertreter und des Bauernverbands auf der einen Seite und spürt den wachsenden Unmut der Bevölkerung auf der anderen.
Mit ihrer Idee von einer Charta wollte sich Aigner aus dieser Situation befreien. Wenn es nur gelänge, so könnte die Ministerin gedacht haben, ein Papier zu entwerfen, an dem alle Beteiligten mitgewirkt hätten, dann wäre sie raus aus dem Schlamassel, immer zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen vermitteln zu müssen. Der Gedanke scheint nicht schlecht, auch wenn es nicht der ihre war. Das Modell diverser Zukunftskommissionen folgt einem ähnlichen Muster. Dabei ist es nicht die Sammlung von einer Vielzahl unterschiedlicher Interessen auf einer Internetplattform, die zu einem gesellschaftlich getragenen Ergebnis führt. Dies ist allenfalls die Voraussetzung, um die Bedürfnisse unterschiedlichster Gruppen, Verbände und vor allem Privatpersonen überhaupt zu erfassen. Was am Ende zählt ist das Ergebnis. Die Charta in Wort und Schrift.
"Aigners Charta für Landwirtschaft und Verbraucher ist ein reines Sammelsurium ihrer Ankündigungen. Dies als innovativen Erfolgsprozess verkaufen zu wollen, ist dreist", fasst Friedrich Ostendorff das Ergebnis zusammen. Erweitert werden muss diese Kritik noch, wenn man sich die konkreten Aussagen betrachtet. Viele der von Umwelt-, Tierschutz und Entwicklungshilfeorganisationen angemahnten Neuausrichtungen tauchen in dem 68-seitigen Papier nicht auf. Stattdessen formuliert das Ministerium altbekannte Leitsätze: "Die weltweit steigende Nachfrage kann nur durch eine nachhaltige Produktionssteigerung gedeckt werden" und wenige Absätze später: "Agrarpolitik ist auf die Erhöhung der weltweiten Ernährungssicherheit gerichtet und muss dabei das Menschenrecht auf Nahrung beachten". Vereinfacht könnte man auch formulieren: Wir ernähren die Welt und wer etwas dagegen hat, verstößt gegen die Menschenrechte.
Das Ziel, Interessenskonflikte aufzulösen, muss als gescheitert betrachtet werden, wenn beispielsweise die stetig wachsende Bedrohung vieler Betriebe durch den Pachtpreisanstieg in Folge der wachsenden Zahl an Biogasanlagen in der Aussage mündet, man wolle "eine Flächennutzung, die der Lebensmittelproduktion Vorrang gibt aber auch neuen Anforderungen wie der energetischen und stofflichen Nutzung Rechnung trägt." Darüber hinaus formuliert die Charta Selbstverständlichkeiten, wenn betont wird "Politisches Handeln in Deutschland beachtet das Staatsziel Tierschutz." Alles andere wäre auch ein Verfassungsbruch.
Auf die von weiten Teilen der Bevölkerung geforderte Ausrichtung auf eine bäuerliche Landwirtschaft reagiert die Ministerin mit: "Zu einer modernen Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland gehört eine Vielfalt an Betriebsformen und Größen sowie Rechtsformen. Dabei haben die Kriterien bäuerlicher Wirtschaftsweise weiterhin Geltung." Nicht Leitbild, sondern geduldetes Relikt, so könnte man meinen. Beim Ökologischen Landbau, einen Absatz kurz und knapp, will man immerhin die derzeitigen Forschungsvorhaben weiter unterstützen. Die Eiweißpflanzenstrategie beschränkt sich auf ein neues dreijähriges Forschungsvorhaben. Anstatt die Vorzüglichkeit dieser Pflanzenfamilie, ihre Stickstoffbindung aus der Luft und die positive Wirkung auf die Bodenfruchtbarkeit aktiv in landwirtschaftliche Produktionsabläufe zu implementieren, forscht man an der Herstellung neuer Lebensmittel und Lebensmittelzutaten aus heimischen Eiweißpflanzen.
Immerhin ab 2017, also schon in fünf Jahren, sollen Ferkel nicht mehr ohne Betäubung kastriert werden. Zum Kupieren von Ferkelschwänzen und Hühnerschnäbeln wird das BMELV "Diskussionsprozesse durchführen". Tierärzte sollen verpflichtet werden, "Nachweise über die Abgabe, Verschreibung und Anwendung bestimmter Arzneimittel auf Anforderung der zuständigen Behörde zu übermitteln." Wann dies der Fall sein soll, welche Arzneimittel gemeint sein könnten und weshalb nur auf Anforderung, lässt das Ministerium offen.
Dass der Bauernverband maßgeblich am Papier mitgearbeitet hat, wird spätestens beim Absatz zur Forderung nach einer Prozesskennzeichnung von gentechnisch veränderten Organismen deutlich, bei denen der Einsatz jeglicher gentechnischer Verfahren einer Kennzeichnung unterliegt. Dies würde unter anderem bedeuten, dass zukünftig auch die Anwendung mit Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen hergestellter Medikamente zu einer Kennzeichnung des Lebensmittels führt.
Die Bundeslandwirtschaftsministerin hat wieder eine Chance verpasst, sich für eine Landwirtschaft einzusetzen, die globalen Ungerechtigkeiten entgegensteht und eine naturverträgliche, bäuerlich geprägte, gesellschaftlich akzeptierte Landwirtschaft zu ihrem Leitbild erhebt.
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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 352 - Februar 2012, S. 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2012