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HUNGER/201: Verschiedene Konzepte zur Ernährung in Diskussion (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 107, 1/09

Schwerpunkt Nahrungssicherheit und Klimawandel

Souveränität versus Sicherheit
Verschiedene Konzepte zur Ernährung in Diskussion

Von Karin Okonkwo-Klampfer


Dem technischen Konzept der Ernährungssicherung steht das Konzept der Ernährungssouveränität gegenüber. Beide Konzepte werden im folgenden Beitrag auf ihre Anwendbarkeit in der Praxis geprüft und in Verbindung gesetzt mit den Herausforderungen unserer Zeit: mit der Nahrungsmittelkrise, mit der Liberalisierung der Agrarmärkte und mit den Bemühungen um Demokratisierung der Agrarmärkte.


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Die "Tortilla-Krise" Anfang 2007 in Mexiko war der globale Weckruf in Hinblick auf die globalisierte Agrar- und Ernährungswirtschaft: Die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen hatten den Anbau von Mais aufgegeben und waren in Scharen in die Städte gezogen. Mais kam viel billiger, als sie ihn hätten produzieren können, über die US-Grenze ins Land. Die nicht-bäuerliche Bevölkerung freute sich am günstigen Maismehl und sah die guten Seiten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA. Doch mit dem Anstieg der Ölpreise wurde die industrielle Produktion von Bioethanol aus Mais in den USA lukrativ, die Maisexporte sanken und der Preis für Mais in Mexiko stieg: die Krise war da.


Billigimporte untergraben Souveränität

Sie kam scheinbar aus dem Nichts und hätte uns doch schon Jahre davor in die Augen stechen müssen. Mexiko hatte seine Ernährungssouveränität auf Grund des Freihandelsabkommens aufgegeben, konnte nicht mal mehr die Grundnahrungsmittel für den heimischen Bedarf im Inland herstellen und war völlig abhängig von den Handelsbeziehungen zu anderen Ländern. Dabei hätte es doch nach dem klassischen Nationalökonomen David Ricardo (1772 bis 1823) so schön sein können: Jedes Land produziert die Waren, bei denen es auf Grund seiner natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten komparative Vorteile hat, und den Rest erledigt der Handel. Wohlstand, saubere Jobs und (Ernährungs-) Sicherheit für alle.

Am Beispiel der Tortilla-Krise lässt sich leicht verständlich der Unterschied zwischen den Begriffen Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität erklären. Ernährungssicherheit wird von der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO definiert als "physischer und wirtschaftlicher Zugang zu Nahrungsmitteln in angemessener Menge für alle Mitglieder des Haushalts, ohne dass das Risiko besteht, dass dieser Zugang verloren geht"(1). In der Anwendung sieht das so aus: Wenn man die gesamte in einem Land an einem Tag verfügbare Kalorienmenge durch die EinwohnerInnenzahl dividiert und dieser Wert eine bestimmte zum Überleben notwendigen Kalorienmenge nicht unterschreitet, ist Ernährungssicherheit gewährleistet. Die Preise für Maismehl stiegen in Mexiko, aber die Menschen hätten ja auf andere Nahrungsmittel ausweichen können. Sie hätten andere Ausgaben einschränken können. Sie hätten sich um ein erhöhtes Einkommen bemühen können. Ernährungssicherheit war in Mexiko zu jeder Zeit gewährleistet.

Der Begriff Ernährungssicherheit ist in seiner Konzeption technisch, wird in internationalen Institutionen und auf Staatsebene verwendet und sagt nicht viel über die Situation der Bevölkerung in einem Land aus. Ein weiterer technischer Vergleichswert innerhalb des EZA-Business eben. Demgegenüber steht der durch und durch politische Begriff der Ernährungssouveränität, der 1996 auf dem Welternährungsgipfel in Rom von der internationalen Kleinbauern-, Landlosen-, Landfrauen- und Indigenenbewegung La Via Campesina eingeführt wurde. Ernährungssouveränität wird meist erklärt als das "Recht der Staaten und der Bevölkerung, ihre Agrar- und Ernährungspolitik selbst zu gestalten"(2). Er ist aber nicht so leicht zu fassen wie die Ernährungssicherheit. Er lässt sich nicht berechnen. Ernährungssouveränität ist eine Vision, die täglich weitergesponnen wird. Ernährungssouveränität ist ein politischer Kampfbegriff, vielleicht auch eine Reaktion auf die Vorherrschaft von industrieller Landwirtschaft, Agro-Business und liberalisiertem Agrarhandel, auf den Glauben an die Machbarkeit von Entwicklung durch technischen Fortschritt.


Nachhaltig und demokratisch

Das Konzept gründet auf einem umfassenden Verständnis von Selbstbestimmtheit(3). Es beinhaltet das Recht eines jeden Menschen auf den Zugang zu ausreichend gesunden, nahrhaften und kulturell angepassten Lebensmitteln, aber auch das Recht diese Lebensmittel zu produzieren. Dafür ist der Zugang zu Ressourcen wie Land, Wasser und Saatgut nötig. Allerdings darf die Nutzung dieser Ressourcen (die Produktion, der Konsum, die selbstbestimmte Agrar- und Ernährungspolitik) niemand anderem schaden. Damit schlägt das Konzept den Bogen von der nationalen zur internationalen Ebene - und wehrt sich gegen einen nationalistischen Missbrauch im Sinne von "Hinter uns die Sintflut!". Ernährungssouveränität ist nur vorstellbar mit ökologisch und sozial verträglicher Landwirtschaft, mit einem Vorrang der Produktion für den lokalen/regionalen Markt und einer engen Kooperation mit informierten KonsumentInnen. Ernährungssouveränität verlangt nach einer Demokratisierung der Agrar- und Ernährungswirtschaft, richtet sich an den Staat und stellt ihn gleichzeitig in Frage. Sie setzt auf eine Überwindung von patriarchalen, rassistischen und kolonialen Unterdrückungsverhältnissen(4).

Das Konzept ist nicht fertig und abgeschlossen. Es entstammt einer bäuerlichen Basisbewegung mit über 200 Millionen Mitgliedern und hat dementsprechend auch die Bauern und Bäuerinnen, LandarbeiterInnen, Landlosen, Landfrauen und Indigenen im Zentrum ihres Interesses. Diese Bevölkerungsgruppe ist im globalen Süden wesentlich zahlreicher als im Norden. Und doch betrifft das Konzept in Europa nicht nur entwicklungspolitisch Interessierte. Der Verlust der Souveränität über unser Essen geht einher mit dem Verschwinden der (klein-)bäuerlichen Landwirtschaft auch in Österreich. KonsumentInnen sind bei jedem Einkauf konfrontiert mit Abhängigkeit, Unsicherheit und mangelnder Information. Wenn Milch- und Brotpreise steigen, schieben wir die Schuld auf die veränderten Konsumgewohnheiten von Menschen in Schwellenländern und blenden aus, dass sich diese veränderten Konsumgewohnheiten in anderen Erdteilen doch eigentlich gar nicht auf unsere Versorgungslage niederschlagen müssten.


Gemeinsam am Landweg

Auch in Europa haben sich bäuerliche Organisationen La Via Campesina angeschlossen(5). Sie kämpfen für gerechte ProduzentInnenpreise für Lebensmittel, für eine ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft (auch mit Hilfe von Ausgleichszahlungen), gegen eine Liberalisierung der Agrarmärkte und gegen das Dumping der europäischen Überschussproduktion auf den Märkten des Südens mit Hilfe von Exporterstattungen. Sie solidarisieren sich mit den KollegInnen im Süden, stellen gemeinsame Forderungen auf und protestieren gegen einen weiteren Ausbau des agro-industriellen Landwirtschaftsmodells. Sie bemühen sich auch um Bündnisse mit entwicklungspolitischen Gruppen, Umwelt-NGOs und KonsumentInnen in Europa, um das Thema Landwirtschaft und Ernährung als gesamtgesellschaftliches Thema zu verankern.


Krisen öffnen Augen

"Hilfreich" in diesem Zusammenhang war und ist die Nahrungsmittelkrise. Sie brachte sozusagen das Essen wieder auf den Tisch des öffentlichen Bewusstseins. Im Bereich der Lebensmittel bzw. aller in der Land- und Forstwirtschaft erzeugten Produkte werden die weltweiten Verflechtungen der Staaten, Gemeinschaften und Unternehmen besonders stark und oft schmerzlich bewusst. In diesem Bereich zeigen sich aber auch besonders stark und schmerzlich die Grenzen der "unsichtbaren Hand des Marktes". Hungerrevolten sind das weithin sichtbare Zeichen dafür, dass der neoliberale Kapitalismus nicht den Wohlstand der Nationen fördert. Darum hat ein Konzept wie Ernährungssouveränität solche Anziehungskraft unter den Marginalisierten dieser Welt: Ernährungssouveränität ist mit Neoliberalismus unvereinbar. Ein Richtungswechsel ist nicht nur nötig, er wird auch denkbar, sichtbar und spürbar.


Anmerkungen:

1) AbL, Germanwatch, BUKO Agrar Koordination: Ernährungssouveränität:
Ansätze im Umgang mit dem Konzept in Deutschland (o.O. April 2007).

2) www.eurovia.org.

3) Eberhardt, Pia (2008): Nahrungsmittelkrise:
Zwischen Technikgläubigkeit und Ernährungssouveränität.
In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 76 (2008) S. 51-61.

4) ebenda.

5) Siehe www.eurovia.org; in Österreich www.viacampesina.at.



Prüftipp:

Ein einfacher Trick zur Einschätzung der persönlichen Ernährungssouveränität:
Man/frau platziere alle Lebensmittel des Haushalts (aus Küchenkästen, Kühlschrank, Gefriertruhe und Keller(abteil) auf einem großen Tisch. Dann ordne man/frau alle Lebensmittel, zu denen es Informationen über Herkunft, Entstehungsgeschichte, ProduzentInnen gibt, auf einer Seite des Tisches an, alle "anonymen" Nahrungsmittel auf der anderen Seite. Damit lässt sich in ungefähren Prozentanteilen der Grad der persönlichen Ernährungssouveränität abschätzen.



Zur Autorin:

Karin Okonkwo-Klampfer ist Bildungsreferentin der ÖBV-Via Campesina Austria und Lehrbeauftragte für Entwicklungszusammenarbeit an der Universität für Bodenkultur in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 107, 1/2009, S. 6-7
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2009