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WESTSAHARA/036: Antrag Die Linke - Keine Unterstützung für völkerrechtswidrige Besatzungspolitik (DIP)


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Antrag DIE LINKE
Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara

Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode / Drucksache 17/4271 - 16.12.2010


Antrag
der Abgeordneten Sevim Dagn, Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag verurteilt die von den marokkanischen Sicherheitskräften ausgehende tödliche Gewalt bei der Auflösung des Protestcamps von ca. 20 000 sahrauischen Männern, Frauen und Kindern im Lager Gdaim Izyk nahe El Aaiún (Laâyoune) Anfang November dieses Jahres, bei dem zahlreiche Menschen getötet und verletzt wurden. Die Sahrauis protestierten friedlich gegen ihre soziale Benachteiligung - der Besitz von Häusern und das Betreiben von Geschäften ist ihnen verwehrt, der Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen wird erschwert - und gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanischen Sicherheitsbehörden. Der Deutsche Bundestag bringt seine Solidarität mit den Familien der Todesopfer, der Verletzten und der Vermissten zum Ausdruck.

2. Der Deutsche Bundestag bedauert insbesondere den Tod des 14-Jährigen Najem al-Garhi, der Ende Oktober dieses Jahres von marokkanischen Sicherheitskräften erschossen wurde, als er Wasser, Nahrung und Medikamente in das Lager Gdaim Izyk bringen wollte.

3. Der Deutsche Bundestag kritisiert die Angriffe auf die Freiheit der Medien und die Informationsfreiheit, die zahlreiche internationale Journalisten, unabhängige Beobachter und Abgeordnete nationaler Parlamente sowie des Europäischen Parlaments erfahren mussten, als ihnen die Einreise in die völkerrechtswidrig besetzten Gebiete der Westsahara durch das Königreich Marokko untersagt wurde. Der Deutsche Bundestag bedauert insbesondere, dass einem Mitglied des Deutschen Bundestages von den marokkanischen Behörden unter körperlichem Zwang und persönlichen Beleidigungen die Einreise nach El Aaiún verweigert und die betroffene Abgeordnete noch am Flughafen von El Aaiún nach Casablanca abgeschoben wurde.

4. Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass die Bundesregierung seit 1966 militärische Ausbildungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte leistet, obwohl sie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara beteiligt sind. Auch bei der Flüchtlingsabwehr arbeiten Deutschland, die EU und Marokko eng zusammen, was unter anderem Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte beinhaltet. Solche waren auch an der Räumung des Protestcamps und den Gewalttaten gegen die sahrauische Bevölkerung beteiligt.

5. Der Deutsche Bundestag verurteilt, dass Marokko einen großen Teil der Westsahara seit 1975 völkerrechtswidrig besetzt hält. Der Bevölkerung der Westsahara steht im Zuge der Dekolonialisierung das Recht auf Selbstbestimmung zu. Die UN-Generalversammlung hat bereits zwischen 1966 und 1972 in zahlreichen Resolutionen die Notwendigkeit eines Referendums über die Unabhängigkeit der Westsahara festgestellt. Ansprüche Mauretaniens und Marokkos auf die Westsahara wurden im Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 16. Oktober 1975 eindeutig zurückgewiesen. Mit der Resolution 690 vom 29. April 1991 hat der UN-Sicherheitsrat diese Forderung auch gegenüber Marokko erneuert und zur Vorbereitung und Durchführung des Referendums die UN-Mission für das Referendum in der Westsahara (MINURSO) eingerichtet. Marokko blockiert seit 1991 die Durchführung des Referendums.

6. Die marokkanische Regierung bricht nicht nur durch die Besatzung Völkerrecht. Sie macht sich auch kontinuierlich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig. Regelmäßig kommt es zu willkürlichen Inhaftierungen und Anklagen. Hinsichtlich Inhaftierten berichtet Amnesty International über Folter, für die der marokkanische Geheimdienst bekannt sei (www.amnesty.de/jahresbericht/2010/marokko-und-westsahara). Prozesse insbesondere gegen Sahrauis, die sich für die Unabhängigkeit der Westsahara ausgesprochen hatten, entsprachen zahlreichen Menschenrechtsorganisationen zufolge nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Im Zusammenhang mit der gewaltsamen Auflösung des Protestcamps wird auch über Folter und das "Verschwindenlassen" von Aktivistinnen und Aktivisten berichtet (www.badische-zeitung.de/ausland-1/razzien-in-der-westsahara- 37606453.html).

7. Der Deutsche Bundestag teilt die Rechtsauffassung des Juristischen Dienstes des Europaparlaments, dass der Fischfang im Rahmen des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko, weder in Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der Westsahara stattfindet noch die Bevölkerung die Einnahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen Fischbestände erhält. Bereits 2002 stellte der UN-Rechtsberater Hans Corell die Rechtswidrigkeit der EU-Fischereiabkommen mit Marokko fest. Damit wird einer Festlegung des völkerrechtlichen Status der Westsahara vorgegriffen, indem die unveräußerlichen Rechte der Völker der Gebiete ohne Selbstregierung auf ihre natürlichen Ressourcen durch die Abkommen nicht gesichert und garantiert sind. Die EU-Kommissarin für Fischerei, Maria Damanaki, kritisierte das Abkommen darüber hinaus wegen der fehlenden Menschenrechtsklauseln und dem fehlenden Mehrwert für die Sahrauis (www.afrika.info/aktuell_detail.php?N_ID=1441&kp=aktuell).


II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die gewaltsame Auflösung des Protestcamps Anfang November dieses Jahres und die Niederschlagung der anschließenden Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale Untersuchung der Vorfälle einzufordern;

2. die Angriffe auf die Presse- und Informationsfreiheit durch das Königreich Marokko zu verurteilen und diese aufzufordern, Journalistinnen und Journalisten, unabhängigen Beobachterinnen und Beobachtern sowie humanitären Organisationen unverzüglich freien Zugang in die Westsahara zu gestatten und ihre Bewegungsfreiheit zu garantieren;

3. sich dafür einzusetzen, dass das Königreich Marokko die Resolutionen der UN-Generalversammlung umsetzt und das Referendum über die Zukunft der Westsahara (Unabhängigkeit oder Anschluss an Marokko) unter UN-Aufsicht nicht weiter blockiert;

4. die Menschenrechtslage in und die völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara bei allen Kontakten mit der marokkanischen Regierung zu thematisieren und dabei eindeutig Position für das Völkerrecht und die baldige Durchführung des Referendums zu beziehen;

5. jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizeiund Armeekräfte einzustellen, bis die völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara beendet ist;

6. die politisch motivierten und im Zusammenhang mit der Besatzungspolitik stehenden Prozesse gegen Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten zu kritisieren und die Europäische Kommission aufzufordern, diese sowie die Lage der Menschenrechte in Marokko zu beobachten;

7. innerhalb der EU auf die Völker- und Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanische Regierung hinzuweisen und dafür Sorge zu tragen, dass die Begünstigungen Marokkos im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und des "fortgeschrittenen Status" (advanced status) sowie das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Marokko solange ausgesetzt werden, bis Marokko die völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara beendet;

8. die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (bzw. die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) anzuweisen, keine Maßnahmen zur Erschließung erneuerbarer Energien in der völkerrechtswidrig besetzten Westsahara zu unterstützen oder durchzuführen, bis die Westsahara ihren Status als Gebiet ohne Selbstregierung durch ein Referendum geklärt und die Besatzung durch Marokko beendet ist;

9. die Beteiligung deutscher Unternehmen an Abbau, Abtransport und Weiterverarbeitung von Ressourcen wie Phosphaten in der Westsahara oder Fischfang sowie an Explorationen z. B. von Öl und Gas zu untersuchen und zur Anzeige zu bringen;

10. sich dafür einzusetzen, dass das Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko unverzüglich für nichtig erklärt wird, da es im Widerspruch zum Völkerrecht steht, und dass kein neues Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko abgeschlossen wird, welches sich auch auf die Gebiete vor der Küste der Westsahara erstreckt;

11. die Formulierung einer gemeinsamen Position zum Konflikt um die Westsahara in der Erklärung zum Gipfel EU-Marokko vom 7. März 2010 zu verurteilen und von der Hohen Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Catherine Ashton, einzufordern, dass sie zukünftig gegenüber Marokko im Einklang mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs und den Beschlüssen der UN-Vollversammlung und des Sicherheitsrates jegliche Ansprüche Marokkos auf das Gebiet der Westsahara zurückweist.

Berlin, den 16. Dezember 2010
Dr. Gregor Gysi und Fraktion


Begründung

Die Westsahara wurde nach dem Abzug der spanischen Kolonialmacht 1975 von Marokko und Mauretanien militärisch besetzt. Nachdem sich Mauretanien 1979 zurückgezogen hatte, besetzte Marokko das gesamte Territorium. Die Befreiungsbewegung Frente Polisario nahm daraufhin den bewaffneten Kampf auf, der 1991 mit einem von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand endete. Die Frente Polisario tritt für die Unabhängigkeit der rohstoffreichen Region ein. Die marokkanische Regierung schließt eine Unabhängigkeit der Westsahara kategorisch aus und missachtet damit die zahlreichen Resolutionen der UN-Generalversammlung. Nach jahrzehntelanger Blockadehaltung bezeichnete der marokkanische Außenminister Taib Fassi Fihri die Unabhängigkeitsforderungen der Frente Polisarion bei den jüngsten Gesprächen unter UN-Vermittlung in New York am 10. November 2010 als inzwischen "veraltet" (http://ipsnews.net/news.asp?idnews=53524). Mit der jahrzehntelangen Verzögerung wächst die Empörung auf Seiten der sahrauischen Bevölkerung. Die Sahrauis werden in der marokkanisch völkerrechtswidrig besetzten Westsahara nicht nur sozial stark benachteiligt - der Besitz von Häusern und das Betreiben von Geschäften ist ihnen verwehrt, der Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen wird erschwert -, sie sehen sich auch massiven Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt, wie die Hohe Kommissarin für Menschenrechte, das Europäische Parlament und Amnesty International in verschiedenen Berichten feststellen.

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/042/1704271.pdf


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Quelle:
Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge
Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode
Drucksache 17/4271 - 16.12.2010
Internet: http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/bt


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2011