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SYRIEN/011: Die jemenitische Lösung (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 11.06.2012
(german-foreign-policy.com)

Die jemenitische Lösung



DAMASKUS/BERLIN - Berliner Regierungsberater plädieren für den Austausch des syrischen Regimes nach jemenitischem Vorbild. Der syrische Staatspräsident Bashar al Assad "und seine Entourage" müssten zum Abdanken gezwungen werden, wenn nötig unter Zuhilfenahme einer Amnestie wie im Falle des jemenitischen Staatspräsidenten Ali Abdullah Salih, schreibt der Direktor der vom Bundeskanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Dazu sei es nützlich, eine militärische Drohkulisse gegen Damaskus aufzubauen. Um Möglichkeiten, den Druck auf Damaskus weiter zu erhöhen, hat sich letzte Woche Außenminister Westerwelle auf einer Reise in mehrere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens bemüht. Westerwelle hielt sich unter anderem in Qatar auf und sprach dort nicht nur mit dem Ministerpräsidenten, sondern besuchte auch den Nachrichtensender Al Jazeera, dem eine tragende Rolle bei den Umwälzungen in der arabischen Welt zugeschrieben wird. Mit Blick auf das Massaker in Hula erklärte Westerwelle, wer Verbrechen wie dieses zulasse, "muss sich vor der internationalen Gemeinschaft verantworten". Laut Berichten eines führenden deutschen Nahost-Korrespondenten haben das Massaker nicht Regierungstruppen oder regierungstreue Banden begangen, sondern aufständische Sunniten: Sie ermordeten gezielt Alawiten, die erst vor kurzem zu dieser Konfession übergetreten waren.


Rücktritt gegen Amnestie

Für eine "jemenitische Lösung" im syrischen Bürgerkrieg plädiert der Nahost-Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes. Wie Perthes in Beiträgen für mehrere Medien urteilt [1], könnten "relativ begrenzte militärische Aktionen", "eine Serie von Luftschlägen" zum Beispiel, den Bürgerkrieg nicht beenden. Vorschläge, "eine mehrmonatige Luftkampagne à la Libyen oder eine von der Nato gestützte Invasion" zu starten, werden schon seit geraumer Zeit auch in Berlin diskutiert [2]; Perthes warnt davor: Unternehme man solche kriegerischen Schritte, dann müsse man "auch Verantwortung für das Land" übernehmen. Tatsächlich urteilen Nahost-Experten seit Beginn der Unruhen in Syrien im Frühjahr 2011 fast einhellig, eine militärische Intervention des Westens in dem Land sei geeignet, die gesamte Region auf lange Sicht in mörderisches Chaos zu stürzen. "Syrien ist nicht Libyen", wird jetzt auch Kofi Annan, der Syrien-Beauftragte von UNO und Arabischer Liga, zitiert: Syrien "würde nicht implodieren, es würde explodieren und die ganze Region mitreißen".[3] Perthes schlägt deshalb nun vor, Assad "und seine(...) Entourage" zum Gang ins Exil zu nötigen, ihnen dafür Straffreiheit zu gewähren und die Regierungsgewalt in Damaskus "an einen Stellvertreter" zu übertragen. Danach könne man einen "von der Uno und der Arabischen Liga vermittelten nationalen Dialog über die politische Zukunft des Landes auf den Weg" bringen. Auf einem solchen Weg hatte der Westen einen Machtwechsel im Jemen durchgesetzt; deshalb ist nun von einer "jemenitischen Lösung" für Syrien die Rede.


Militärische Drohkulisse

Völlig unklar ist, wie hinlänglicher Druck auf das Assad-Regime ausgeübt werden soll. SWP-Chef Volker Perthes spricht sich für auch militärische Drohungen aus. Die "jemenitische Lösung" setze voraus, dass "die Regimespitze die Aussichtslosigkeit der Lage erkennt". Dies werde nur dann der Fall sein, wenn Damaskus damit rechnen müsse, im Fall eines Scheiterns politischer Bemühungen um die Lösung des Konflikts "schließlich doch ein militärisches Eingreifen von außen" zu erleben.[4] "Eine militärische Drohkulisse aufzubauen ist deshalb nicht falsch", erklärt Perthes: Sie könne "dazu beitragen, dass Assad und seine Getreuen realisieren, dass ihre Zeit vorbei ist". Über die Optionen, die dem Westen nach dem Aufbau der militärischen Drohkulisse zur Verfügung stehen, sollte das Regime sich ihr nicht beugen, äußert sich Perthes nicht - es wäre genau die militärische Intervention, vor der Fachleute einhellig warnen.


Aufgerüstet

Um Möglichkeiten, den Druck auf Assad weiter zu erhöhen, hat sich Außenminister Westerwelle letzte Woche auf einer Reise in den Nahen und Mittleren Osten bemüht. Westerwelle hielt sich unter anderem in Qatar auf, wo er den Nachrichtensender Al Jazeera besuchte. Al Jazeera untersteht heute der direkten Kontrolle des in Qatar herrschenden Clans Al Thani und ist dafür bekannt, die Revolten in der arabischen Welt massiv zu unterstützen - ausgenommen Proteste gegen die Diktaturen auf der Arabischen Halbinsel, etwa die Demonstrationen gegen das Regime in Bahrain. Diese erfahren nur im englischsprachigen Programm von Al Jazeera, das im Westen zunehmend rezipiert wird, erhöhte Aufmerksamkeit, während sie im arabischsprachigen Programm, auf das der erhebliche Einfluss des Senders in der arabischen Welt zurückgeht, kaum erwähnt werden.[5] In hohem Maße erhalten auch die Aufständischen in Syrien Unterstützung durch den qatarischen Sender. Westerwelle konferierte in Doha außerdem mit dem Premierminister, der in Personalunion auch Außenminister des Emirates ist. Jüngsten Berichten zufolge haben Qatar und Saudi-Arabien die Bewaffnung der Aufständischen in Syrien weiter intensiviert - durch die Bereitstellung der nötigen Finanzmittel, teils wohl auch per direkter Belieferung mit Rüstungsgegenständen. Zuletzt seien, heißt es, nicht nur leichte Waffen, sondern auch Panzerabwehrrakten bereitgestellt worden. Allein in der letzten Woche sollen mindestens 20 Panzer der syrischen Streitkräfte zerstört worden sein.[6]


Mehr tote Soldaten

Von zunehmender Gewalt auf Seiten der Rebellen berichtet inzwischen auch Rainer Hermann, Nah- und Mittelostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und einer der renommiertesten deutschen Berichterstatter aus der Region. Wie Hermann schreibt, der sich gegenwärtig in Syrien aufhält, kämen in dem Land zur Zeit durchschnittlich 150 Menschen zu Tode - die Hälfte davon Soldaten. Das Regime gebe dies nur deshalb nicht bekannt, weil es den Aufständischen keinen Auftrieb verschaffen wolle. Dabei sei die Zahl der toten Soldaten seit Mitte April - seitdem ist der Waffenstillstand offiziell in Kraft - stark gestiegen. Auch sei in dramatisch wachsendem Maße die Ausübung religiös motivierter Gewalt zu konstatieren.[7] Ein Beispiel ist offenbar das Massaker von Hula, das Regierung und Medien in Deutschland sowie in weiteren westlichen Staaten nutzen, um das syrische Regime - dessen Brutalität unbestritten ist - weiter in die Enge zu treiben. Außenminister Westerwelle etwa erklärte nach dem Massaker: "Die internationale Gemeinschaft darf nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn das syrische Regime das eigene Volk in dieser grausamen Weise mit Gewalt überzieht."[8]


Das Massaker von Hula

Die Behauptung, die syrische Armee habe das Massaker begangen, wich recht bald der Hypothese, die 108 zivilen Todesopfer am 25./26. Mai in Hula seien Mördern aus regierungstreuen Milizen ("Shabiha") zum Opfer gefallen. Auch diese sind für ihre Brutalität berüchtigt. Nun jedoch legen Recherchen syrischer Oppositioneller nahe, dass das Massaker, mit dem der Westen nicht nur die Ausweisung syrischer Diplomaten, sondern auch offene Kriegsdrohungen begründete, keineswegs von Regimekräften, sondern vielmehr wohl von Aufständischen verübt worden ist. Dies berichtet Rainer Hermann aus Damaskus unter Berufung auf Oppositionelle, die ungenannt bleiben wollen, weil zuletzt Regimegegner, die gewaltsames Vorgehen ablehnen, von bewaffneten Aufständischen umgebracht worden sind. Laut ihren Recherchen begannen die Kämpfe am 25. Mai mit Angriffen bewaffneter Rebellen auf Armee-Kontrollpunkte, die alawitische Dörfer rings um das vorwiegend sunnitische Hula schützen sollen. Während bei den Kämpfen Dutzende Soldaten und Rebellen zu Tode kamen, kam es in Hula zu dem Massaker an Zivilisten.[9]


Konvertiten abgeschlachtet

Wie Hermann unter Berufung auf die erwähnten Oppositionellen berichtet, wurden dabei "mehrere Dutzend Mitglieder einer Familie abgeschlachtet, die vom sunnitischen zum schiitischen Islam übergetreten sei". Außerdem seien "Mitglieder der alawitischen Familie Shomaliya und die Familie eines sunnitischen Parlamentsabgeordneten, der als Kollaborateur galt", ermordet worden. Danach hätten die Täter "ihre Opfer gefilmt, sie als sunnitische Opfer ausgegeben und die Videos über Internet verbreitet".[10]


Unabsehbare Folgen

Sollten sich Hermanns Berichte bestätigen - er gilt als herausragender Kenner der arabischen Welt und ist für solide Recherchen bekannt -, wäre nicht nur erwiesen, dass die deutsche und andere westliche Regierungen ein von Aufständischen begangenes Massaker nutzten, um neue aggressive Handlungen gegen das Assad-Regime zu legitimieren.[11] Es bestätigte sich darüber hinaus, dass die Bewaffnung der Aufständischen nicht die zivile Protestbewegung, sondern gewalttätige Kräfte stärkt, die vor Morden an gewaltlosen Oppositionellen und konfessionellen Massakern nicht mehr zurückschrecken. Bereits vor einigen Monaten hat das US-Fachmagazin Foreign Policy vor völlig unabsehbaren Folgen der saudisch-qatarischen Aufrüstung der Rebellen gewarnt. In dem Blatt hieß es sarkastisch: "Als die Saudis das letzte Mal entschieden, sie hätten eine moralische Verpflichtung, die russische Politik zu torpedieren, da wurden sie Geburtshelfer einer Generation von Jihadisten in Afghanistan, die noch drei Jahrzehnte später Verwüstungen anrichten".[12] Bereits damals geschah dies in engem Einvernehmen mit den stärksten westlichen Mächten, darunter die Bundesrepublik.


Weitere Informationen und Hintergründe zur deutschen Syrien-Politik finden Sie hier:

  • Kriegsdrohungen gegen Syrien
    http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58244
  • Irans Achillesferse
    http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58259
  • Kriegsszenarien für Syrien
    http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58284
  • Kriegsszenarien für Syrien (II)
    http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58306
  • Mit der UNO zur Eskalation.
    http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58329 und
  • Marktwirtschaft für Syrien
    http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58338


Anmerkungen:
[1] Volker Perthes: Politische Isolation des Regimes ist wichtig; www.handelsblatt.com 02.06.2012. Volker Perthes: Der weite Weg zur "jemenitischen Lösung"; de.qantara.de 04.06.2012
[2] s. dazu Kriegsszenarien für Syrien; http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58284 und
Kriegsszenarien für Syrien (II), http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58306
[3] Annan will neue Syrien-Kontaktgruppe; Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.06.2012
[4] Volker Perthes: Politische Isolation des Regimes ist wichtig; www.handelsblatt.com 02.06.2012
[5] Oren Kessler: The Two Faces of Al Jazeera, Middle East Quarterly, Winter 2012, S. 47-56
[6] Arming of Syria rebels gains momentum; www.ft.com 08.06.2012
[7] Gewöhnen an den Tod; Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.06.2012
[8] Sicherheitsrat verurteilt Gewalt im syrischen Hula; www.auswaertiges-amt.de 29.05.2012
[9], [10] Abermals Massaker in Syrien; Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.06.2012
[11] s. dazu Marktwirtschaft für Syrien; http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58338
[12] Saudi-Arabia Is Arming the Syrian Opposition; www.foreignpolicy.com 27.02.2012

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2012