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OSTEUROPA/005: Ukrainekrieg - Ermittlungen, Rätsel, Säbelrasseln ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 10. September 2014
(german-foreign-policy.com)

Ukrainische Manöver



KIEW/BERLIN (Eigener Bericht) - Nach der Publikation des vorläufigen Untersuchungsberichts zum Absturz der Boeing MH17 über der Ostukraine bleiben entscheidende Fragen ungeklärt. So gibt der Bericht beispielsweise keinerlei Hinweis darauf, welche Art Geschosse die Maschine getroffen haben; das wäre von Bedeutung, um zu rekonstruieren, ob die MH17 tatsächlich vom Boden aus abgeschossen worden ist. Die Spurensicherung am Absturzort, die die Klärung hätte erleichtern können, musste schon vor Wochen abgebrochen werden, weil Truppen der Kiewer Regierung in unmittelbarer Nähe Angriffe auf die Rebellen starteten. Während die Aufklärung des Absturzes weiter verschleppt wird, legt die NATO eine hohe Geschwindigkeit bei Anberaumung und Durchführung von Manövern an den Tag. In den vergangenen Tagen hat das Bündnis Kriegsübungen in den baltischen Staaten unweit der russischen Grenze abgehalten - mit deutscher Beteiligung. Für den heutigen Mittwoch und die kommenden Tage sind erneut Manöver geplant. Die Szenarien reichen von Interventions- und Besatzungskriegen à la Afghanistan über die Kontrolle von Seegebieten bis hin zu Konflikten mit militärisch schlagkräftigen Staaten wie etwa Russland. Mit Bezug auf das letztere Szenario sprechen US-Militärs von einem Übergang in den NATO-Planungen zu einer neuen Art von Krieg.


Ungeklärte Fragen

Die Ursache für den Absturz der Boeing MH17 am 17. Juli über der Ostukraine, bei dem alle 298 Personen an Bord der Maschine ums Leben kamen, bleibt weiterhin unklar. Zwar heißt es in dem vorläufigen Untersuchungsbericht, der am gestrigen Dienstag veröffentlicht wurde, nichts deute auf einen technischen Defekt hin. Die auf Fotos erkennbaren Löcher im Cockpit und im Rumpf der MH17 seien vermutlich "von einer großen Zahl hochenergetischer Objekte von außerhalb des Flugzeugs" verursacht worden, zudem sei die Maschine allem Anschein nach bereits in der Luft auseinandergebrochen; damit wird faktisch bestätigt, dass die Boeing abgeschossen wurde. Entscheidende Fragen beantwortet der Bericht jedoch nicht. So fehlen Angaben darüber, ob es zutrifft, dass in relativer Nähe zu der Passagiermaschine ukrainische Militärjets zu orten waren; russische Quellen behaupten dies. Auch bleibt unklar, ob die Maschine von einer Luft-Luft- oder von einer Boden-Luft-Rakete getroffen wurde und ob es sich bei zahlreichen kleineren Löchern im Cockpit tatsächlich, wie der kanadische OSZE-Beobachter Michael Bociurkiw schon kurz nach einer ersten Bestandsaufnahme erklärte, um Einschläge von Maschinengewehr-Munition handelt. Auch wichtige Fragen zu den Umständen der Spurensicherung unterbleiben - so etwa die Frage, wieso ukrainische Truppen faktisch die Untersuchungen im Absturzgebiet durch Experten nach einigen Tagen beendeten, indem sie in unmittelbarer Nähe Angriffe auf die Rebellen starteten.[1]


Keine gesicherten Erkenntnisse

Bereits Ende vergangener Woche hat die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage aus dem Bundestag Stellung zum Absturz der MH17 bezogen. Darin heißt es, die MH17 sei auf ihrem Flug von "zwei AWACS-Luftfahrzeugen ... sowohl durch Radar wie auch durch die Ausstrahlung des MH-17 Luftfahrzeugtransponders erfasst" worden. Die Radaraufzeichnungen hätten aber um 14.52 Uhr MEZ geendet - kurz vor dem Absturz -, als die Boeing den "Aufklärungsbereich" der AWACS verlassen habe. Die AWACS sind der Bundesregierung zufolge allerdings in der Lage gewesen, "Signale von einem Flugabwehrraketensystem" zu erfassen, das man "als 'Surface to Air-Missile' SA-3 klassifiziert" habe. Unklar bleibt, ob sich Letzteres im "Aufklärungsbereich" der AWACS befand, den die MH17 zum Zeitpunkt ihres mutmaßlichen Abschusses bereits verlassen hatte; wäre es in der Nähe des Absturzortes stationiert gewesen, dann stellte sich die Frage, wieso die AWACS ein Objekt am Boden registrieren konnten, aber nicht die MH17 in der Luft. Die Bundesregierung räumt jedenfalls ein, aus den ihr vorliegenden Informationen ließen sich "keine gesicherten Erkenntnisse auf etwaige Einsätze von Flugabwehrlenkflugkörpern" gegen die MH17 ableiten.[2] Damit bestätigt sich, dass die Bundesregierung die Sanktionen gegen Russland auf der Grundlage bloßer Spekulationen befürwortet hat. Die EU hatte erste Sanktionen kurz nach dem Abschuss der malaysischen Boeing beschlossen.


Start in Ramstein

Während mit dem offenkundigen Abschuss der MH17 auch das dritte Massaker nach den Todesschüssen vom 20. Februar auf dem Kiewer Majdan und dem faschistischen Sturm auf das Gewerkschaftshaus in Odessa vom 2. Mai immer noch unaufgeklärt bleibt, treibt die NATO eine Reihe von Manövern in an Russland grenzenden Staaten mit hoher Geschwindigkeit voran. Bereits während des NATO-Gipfels in Newport hielt das Kriegsbündnis ein Manöver mit der Bezeichnung "Steadfast Javelin II" ("Standhafter Speer II") durch - mit deutscher Beteiligung. Die Kriegsübung begann am 2. September auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im deutschen Ramstein; rund 2.000 Soldaten aus zehn Staaten nahmen teil. Am Wochenende wurden 500 Fallschirmjäger auf einem Flugplatz in Lettland abgesetzt - keine 150 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Weitere 160 Fallschirmjäger trainierten in Litauen. Teilmanöver gab es auch in Estland und Polen. US-Militärs stufen das Manöver, das am morgigen Donnerstag zu Ende geht, als Übergangsschritt von Übungen für Interventionskriege à la Afghanistan zum Training bewaffneter Auseinandersetzungen mit militärisch schlagkräftigen Staaten wie beispielsweise eben Russland ein. Es weist damit in die Zukunft der NATO. Weitere ähnliche Manöver sollen folgen.


Kontrolle des Schwarzen Meeres

Am heutigen Mittwoch zu Ende gehen wird das Manöver "Sea Breeze" ("Seewind"), das am Montag dieser Woche begonnen hat. Es konzentriert sich US-Angaben zufolge vor allem auf Abfangeinsätze zur See - Operationen, mit denen feindliche Kräfte aufgehalten werden können -, aber auch auf andere Maßnahmen zur Kontrolle von Meeresgebieten in Krisenfällen. Es nehmen Streitkräfte inbesondere von Schwarzmeer-Anrainern teil - Einheiten aus den NATO-Staaten Türkei und Rumänien, aber auch aus Georgien und der Ukraine. "Sea Breeze"-Manöver, mit denen die Kontrolle vor allem des Schwarzen Meeres trainiert wird, werden schon seit 1997 durchgeführt; teilgenommen haben nicht selten auch deutsche Soldaten. Schauplatz des Manövers ist regelmäßig die Krim gewesen, wo es immer wieder zu Protesten der Bevölkerung gegen die NATO-Kriegsübung gekommen ist. Zu den Befürchtungen Russlands nach dem Februar-Umsturz in Kiew gehörte es, dass die Ukraine mit der neuen, extrem antirussischen Regierung Moskau den strategisch wichtigen Flottenstützpunkt auf der Krim streitig machen und ihn womöglich gar durch eine NATO-Marinebasis ersetzen könnte.


Aus dem Kosovo in die Ostukraine

Am kommenden Montag soll schließlich das Manöver "Rapid Trident" ("Schneller Dreizack") im Westen der Ukraine beginnen - wiederum mit deutscher Beteiligung. Es findet - wie "Sea Breeze" - seit 1997 regelmäßig statt und trainiert, wie es in einem Bericht heißt, "typische Aufgaben in Stabilisierungsmissionen, wie sie jüngst in Afghanistan üblich waren, etwa den Schutz militärischer Patrouillen gegen Sprengfallen und Attacken aus einem Hinterhalt".[3] Damit lässt es die Aufgabe erkennen, die die NATO der Ukraine bereits in der Vergangenheit regelmäßig übertragen hat und auch künftig zu übertragen gedenkt: für die westlichen Interventionen in aller Welt Personal und Gerät zur Verfügung zu stellen. Das Außenministerium der Ukraine erklärt, Kiew halte tatsächlich für alle aktuellen NATO-Einsätze Soldaten bereit.[4] Schon am Irak-Krieg nahmen ukrainische Truppen teil: Vom August 2003 - noch zur Amtszeit des Präsidenten Leonid Kutschma - bis zum Dezember 2008 entsandte die Regierung bis zu 1.650 Soldaten in das von den USA besetzte Land. Erst der Bürgerkrieg schränkt die Kiewer Aktivitäten ein: Wie berichtet wird, sind jüngst rund 100 ukrainische Militärs, die im Rahmen von KFOR im Kosovo stationiert waren, durch ungarische Soldaten ersetzt worden - damit sie in der Ostukraine am Bürgerkrieg teilnehmen können.


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Anmerkungen

[1] Dutch Safety Board: Preliminary report. Crash involving Malaysia Airlines Boeing 777-200 flight MH17. The Hague, September 2014.

[2] Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke. Berlin, 05.09.2014.

[3] Johannes Leithäuser: Gipfel der Gesten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.09.2014.

[4] Ukraine's contribution to NATO peace support activities. nato.mfa.gov.ua.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2014