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GAZA/062: Waffengang und Widerstand - macht aus Tunneln Brücken ... (Uri Avnery)


Begegnung im Tunnel

von Uri Avnery, 1. August 2014



ES WAR einmal ein Dorf in England, das sehr stolz auf seine Bogenschießkunst war. Vor jedem Haus stand eine Zielscheibe und zeigte das Können seines Besitzers. Auf einem dieser Zielscheiben hat jeder einzelne Pfeil mitten ins Ziel getroffen.

Ein neugieriger Besucher fragte den Besitzer: wie ist dies möglich? Die Antwort: "Einfach, zuerst schoss ich die Pfeile, und dann zeichnete ich Kreise um sie herum."

In diesem Krieg tut unsere Regierung dasselbe. Wir erreichen alle unsere Ziele - aber wir verändern die ganze Zeit unsere Ziele. Am Ende wird der Sieg vollkommen sein.


ALS DER Krieg begann, wollten wir nur "die Infrastruktur der Terroristen zerstören." Dann, als die Raketen der Hamas praktisch ganz Israel erreichten (dank der wunderbaren Anti-Raketen-Verteidigung ("Iron Dome") weitgehend ohne viel Schaden anzurichten) war das Kriegsziel, die Raketen zu zerstören. Als die Armee für diesen Zweck die Grenze in den Gazastreifen überquerte, wurde ein riesiges Netzwerk von Tunneln entdeckt. Sie wurden von da an das Hauptziel des Krieges. Die Tunnel mussten zerstört werden.

Tunnel sind seit der Antike für Kriegszwecke benutzt worden. Armeen, die nicht in der Lage waren, befestigte Städte zu erobern, versuchten unter ihren Mauern Tunnel zu graben. Gefangene entkamen durch Tunnel. Als die Briten die Führer des hebräischen Untergrunds inhaftiert hatten, flohen mehrere ihrer Führer durch einen Tunnel.

Hamas benutzte Tunnel, um unter den Grenzmauern und -zäunen die israelische Armee und Siedlungen auf der andern Seite anzugreifen. Die Existenz dieser Tunnel war bekannt, aber ihre große Zahl und Wirksamkeit war eine Überraschung. Wie vietnamesische Kämpfer zu ihrer Zeit Tunnel benutzten, benutzt Hamas die Tunnel für Angriffe, Kommandoposten, Operationszentren und Waffenlager. Viele von ihnen sind mit einander verbunden.

Für die Bevölkerung auf der israelischen Seite sind die Tunnel eine Quelle der Angst. Die Idee, dass zu irgendeiner Zeit der Kopf eines Hamas-Kämpfers in der Mitte eines Kibbuz-Esssaals auftauchen könnte, ist nicht gerade amüsant.

Jetzt ist also das Kriegsziel, so viele Tunnel wie möglich zu entdecken und zu zerstören. An dieses Ziel hat niemand auch nur im Traum gedacht, bevor alles anfing.

Wenn politische Zweckmäßigkeit es verlangt, so kann es morgen schon ein anderes Kriegsziel geben. In Israel wird es mit einhelliger Zustimmung akzeptiert werden.


DIE ISRAELISCHEN Medien sind jetzt total unterwürfig. Es gibt keine unabhängige Berichterstattung. "Militär-Korrespondenten" ist es nicht erlaubt, den Gazastreifen zu betreten, um eigene Erfahrungen zu machen; sie sind bereit, wie Papageien die Armeeberichte nachzuplappern und stellen sie so dar, als wären es ihre persönlichen Beobachtungen. Eine Menge Ex-Generäle warten auf, um die Situation zu kommentieren - alle sagen genau dasselbe, ja benutzen dieselben Worte. Die Öffentlichkeit schluckt all diese Propaganda und nimmt sie für bare Münze.

Die kleine Stimme von Haaretz mit ein paar Kommentatoren, wie die von Gideon Levy und von Amira Hass, gehen in der ohrenbetäubenden Kakophonie unter.

Ich fliehe vor dieser Gehirnwäsche und höre beiden Seiten zu, wechsle ständig zwischen israelischen TV-Stationen und Aljazeera (auf Arabisch und Englisch). Was ich sehe, sind zwei verschiedene Kriege, die gleichzeitig geschehen, aber auf zwei verschiedenen Planeten.

Für Zuschauer der israelischen Medien ist Hamas die Inkarnation des Bösen. Wir bekämpfen "terroristische Ziele". Wir bombardieren "terroristische" Ziele (wie das Haus der Familie des Hamasführers Ismail Haniye). Hamaskämpfer ziehen sich nie zurück, sie fliehen. Ihre Führer kommandieren nicht aus Untergrund-Kommandoposten, sie verstecken sich. Sie verbergen ihre Waffen in Moscheen, Schulen und Krankenhäusern (Wie wir es während des britischen Mandats taten). Tunnel sind "Terroristentunnel". Hamas verwendet zynischer Weise die zivile Bevölkerung als "menschliche Schutzschilde" (wie Churchill die Londoner Bevölkerung). Gaza-Schulen und Krankenhäuser werden nicht von israelischen Bomben getroffen, Gott bewahre!, sondern von Granaten der Hamas (die auf mysteriöse Weise auf Abwege geraten sind) und so weiter.

Mit arabischen Augen gesehen, sehen die Dinge irgendwie anders aus. Hamas ist eine patriotische Gruppe, die mit unglaublichem Mut gegen immense Widrigkeiten kämpft. Sie sind keine ausländischen Kräfte, die das Leiden der Bevölkerung ausnutzen; sie sind die Söhne genau dieser Bevölkerung, Mitglieder der Familien, die jetzt en masse getötet werden, die in den Häusern aufwuchsen, die jetzt zerstört werden. Es sind ihre Mütter und Geschwister, die nun in den UN-Unterkünften zusammengedrängt leben - ohne Wasser und Strom, nur mit ihrer Kleidung am Leib, sonst nichts.

Mir hat die Logik in der Dämonisierung des Feindes nie eingeleuchtet. Als ich ein Soldat im 48er-Krieg war, hatten wir mit unseren Kameraden an anderen Fronten hitzige Diskussionen. Jeder bestand darauf, dass sein besonderer Feind - Ägypter, Jordanier, Syrer - der tapferste und wirksamste wäre. Es ist wenig ruhmreich, gegen eine verkommene Bande "abscheulicher Terroristen" zu kämpfen.

Geben wir doch zu, dass unser gegenwärtiger Feind mit großem Mut und Erfindungsgeist kämpft. Fast auf wundersame Weise funktioniert ihre zivile und militärische Kommandostruktur noch gut. Die zivile Bevölkerung unterstützt sie trotz ihres immensen Leids. So dass nach fast vier Wochen Kampf gegen eine der stärksten Ameen der Welt der Feind immer noch aufrechtsteht.

Wenn wir dies zugeben, mag uns das helfen, die andere Seite zu verstehen. Das ist sowohl für die Kriegsführung als auch für den Friedensschluss und sogar für einen Waffenstillstand von großer Bedeutung.


OHNE VERSTÄNDNIS für den Feind oder ein klares Konzept von dem, was wir wirklich wollen, ist sogar das Erreichen eines Waffenstillstandes eine mühsame Aufgabe.

Zum Beispiel: Was wollen wir von Mahmoud Abbas?

Viele Jahre lang hat die israelische Führung ihn offen verachtet. Ariel Sharon nannte ihn bekanntermaßen ein "gerupftes Huhn". Israels Rechte glauben, dass er "gefährlicher sei als Hamas", da die naiven Amerikaner wahrscheinlich bereit sind ihm zuzuhören. Benjamin Netanjahu tat alles Mögliche, um sein Ansehen zu zerstören und alle Friedensverhandlungen mit ihm zu sabotieren. Die israelische Führung verleumdet ihn, weil er die Versöhnung mit der Hamas anstrebt. Netanjahu hat das auf seine kurze prägnante Art so ausgedrückt: "Entweder Frieden mit uns oder mit Hamas".

Aber diese Woche strecken unsere Führer fieberhaft ihre Hände nach Abbas aus. Sie krönen ihn zum einzig wahren Führer des palästinensischen Volkes und fordern von ihm, dass er die führende Rolle bei den Verhandlungen zur Waffenpause spiele. Alle israelischen Kommentatoren erklärten, dass eine der großen Erfolge des Krieges die Schaffung eines politischen Blocks sei, der aus Israel, Ägypten, Saudi-Arabien, den Golfemiraten und Abbas besteht. Der gestrige "Nicht-Partner" ist nun ein zuverlässiger Verbündeter.

Das Problem ist, dass viele Palästinenser Abbas jetzt verachten, während sie mit Bewunderung auf Hamas blicken, das leuchtende Beispiel arabischer Ehre. (In der arabischen Kultur spielt die Ehre eine weit größere Rolle als in Europa.)

Im Augenblick schauen die israelischen Sicherheitsexperten mit wachsender Sorge auf die Situation in der Westbank. Die Jungen - und nicht nur die Jungen - scheinen für eine dritte Intifada bereit zu sein. Die Armee schießt schon mit scharfer Munition auf Demonstranten in Kalandia, Jerusalem, Bethlehem und anderen Orten. Die Zahl der Toten und Verletzten in der Westbank steigt. Für unsere Generäle ist dies noch ein weiterer Grund für einen baldigen Waffenstillstand in Gaza.


EIN WAFFENSTILLSTAND wird zwischen Leuten vereinbart, die aufeinander schießen. In diesem Fall Israel und Hamas. Leider führt kein Weg daran vorbei.

Was will Hamas? Im Gegensatz zu unserer Seite hat Hamas sein Ziel nicht geändert: Dass die Blockade des Gazastreifens aufgehoben wird.

Dies kann vielerlei bedeuten. Das Maximum: Die Übergänge von Israel zu öffnen, die Reparatur und Wiedereröffnung des zerstörten Flughafens Dehaniah im südlichen Gazastreifen, den Ausbau eines Seehafens in Gazastadt (anstelle des bestehenden kleinen Fischerhafens), Fischern aus Gaza erlauben, dass sie weiter draußen vor der Küste fischen dürfen.

(Nach Oslo phantasierte Shimon Peres von einen großen Hafen in Gaza, der dem ganzen Nahen Osten dienen und Gaza in ein zweites Singapur verwandeln solle.)

Das Minimum würde das Öffnen der israelischen Übergänge sein für freien Im- und Export von Waren, um sich selbst zu ernähren (ein selten erwähnter Aspekt) und die Genehmigung für die Gazaer, in die Westbank und weiter zu fahren.

Dafür würde Israel sicherlich internationale Inspektion verlangen, damit keine neuen Tunnel gebaut werden und das Arsenal von Granaten nicht aufgestockt wird.

Israel würde auch fordern, dass Abbas und seine Sicherheitskräfte, die von der Hamas (und nicht nur von ihr) als israelische Kollaborateure angesehen werden, eine gewisse Rolle übernehmen würden.

Die israelische Armee fordert auch, dass, selbst wenn ein Waffenstillstand in Kraft tritt, sie die Zerstörung aller ihr bekannten Tunnel vollendet, bevor sie sich zurückzieht.

(Hamas fordert auch die Öffnung des Übergangs nach Ägypten - aber das ist nicht Teil der Verhandlungen mit Israel.)


WENN ES direkte Verhandlungen gegeben hätte, dann wäre dies verhältnismäßig leicht gewesen. Aber mit so vielen konkurrierenden Vermittlern ist es schwierig.

Am letzten Mittwoch brachte Haaretz erstaunliche Nachrichten: der israelische Außenminister - ja, das Lehen Avigdor Liebermans - schlägt vor, das Problem an die UN weiter zu reichen. Lasst sie die Bedingung für den Waffenstillstand vorschlagen.

Die UN? Die Institution, die in Israel im Allgemeinen verachtet wird? Auf jiddisch sagt man, "Wenn Gott will, dann kann man auch mit einem Besenstiel schießen".

Wenn wir einmal davon ausgehen, dass ein Waffenstillstand erreicht wird, was dann?

Werden dann Friedensverhandlungen möglich? Wird Abbas sich als Vertreter aller Palästinenser fühlen, einschließlich Hamas? Wird dieser Krieg der letzte sein oder bleibt er nur eine weitere Episode in der endlosen Kette von Kriegen?



ICH HABE eine verrückte Phantasie.

Frieden wird kommen, und Filmemacher werden Filme auch über diesen Krieg drehen.

Eine Szene: israelische Soldaten entdecken einen Tunnel und betreten ihn, um ihn von Feinden zu säubern. Zur selben Zeit betreten Hamaskämpfer den Tunnel von der andern Seite - auf ihrem Weg, einen Kibbuz anzugreifen.

Die Kämpfer treffen sich in der Mitte unterhalb des Zaunes. Sie sehen einander bei schwachem Licht. Und dann geben sie sich die Hände, anstelle zu schießen.

Eine verrückte Idee? Tatsächlich. Leider.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 01.08.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2014