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SCHULE/697: Bildung für alle! (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016

Bildung für alle!
Die soziale Herkunft entscheidet über den Bildungs(miss)erfolg

von Isabell van Ackeren


In den letzten Jahren konnten Studien zu Schulleistungen den systematischen Zusammenhang zwischen sozialer/ethnischer Herkunft und dem Bildungserfolg hierzulande eindrücklich empirisch belegen. Die soziale Schere öffnet sich insbesondere zwischen der gemeinsamen Grundschulzeit und dem Ende der Sekundarstufe I mit ihren differenzierenden Schulformen und unterschiedlichen Anregungs- und Lernmilieus. Die Diskussion über eine gerechte Verteilung von Zugangschancen zu Bildung wurde bereits vor einem halben Jahrhundert geführt, etwa von Georg Picht und Ralf Dahrendorf. Dabei steht schulische Bildung im Spannungsverhältnis zwischen dem pädagogischen Auftrag des Förderns, Kompensierens und Ausgleichens sowie der gesellschaftlichen Funktion von Schule, durch Zensuren und Abschlüsse hinsichtlich Laufbahnen und Chancen zu sortieren. Zugleich ist - wie schon in den 60er Jahren - zu fragen, woher künftig der qualifizierte Nachwuchs, den Betriebe, öffentliche Verwaltungen und Wissenschaftsorganisationen zur Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit benötigen, kommen soll - auch angesichts der Veränderung der Bevölkerung in Entwicklung und Zusammensetzung.

Nicht selten wird ein Bildungssystem dann als gerecht und zukunftsfähig erachtet, wenn diejenigen jungen Menschen die besten Möglichkeiten in der Gesellschaft haben, die die besten Leistungen erbringen. Dabei zeigt die Forschung zur schulischen Leistungsbeurteilung, dass diese gerade nicht nur von den gezeigten Leistungen abhängt, sondern auch durch Hintergrundmerkmale der Schülerinnen und Schüler sowie milieuspezifische Verhaltensweisen beeinflusst wird: Gleiche Leistungen werden vor dem Hintergrund der Differenz zwischen Schüler- und Schulhabitus unterschiedlich bewertet. Dabei spielen der Migrationshintergrund, das Geschlecht und sogar Vornamen als Indikatoren sozialer und kultureller Herkunft - mehr implizit als bewusst und intendiert - eine Rolle. Die Perspektive der Leistungsgerechtigkeit birgt aber auch die Gefahr, dass sich das System Schule und letztlich die Gesellschaft entlastet, indem die Verantwortung für den Bildungserfolg und die Erreichbarkeit gesellschaftlicher Positionen an das Individuum und sein soziales Umfeld delegiert wird. Aus der Perspektive der Anerkennungs- bzw. Befähigungsgerechtigkeit hingegen wird gefordert, für herkunftsbedingt schlechter mit bildungsrelevanten Ressourcen ausgestattete Personen gerade mehr Kompensationsmöglichkeiten zu bieten und mehr Ressourcen für ihre schulische Bildung aufzuwenden. Auch vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Begabung als dynamisches und entwicklungsfähiges Potenzial ergeben sich Handlungsmöglichkeiten, aber auch Verantwortlichkeiten von Gesellschaft und Bildungsinstitutionen auf unterschiedlichen Ebenen - von der institutionellen bis zur politisch-administrativen Ebene.

Strategien gegen den Bildungsmisserfolg

Internationale und erste nationale Studien konnten zeigen, dass es Schulen in sozial-räumlich benachteiligter Lage mit ungünstiger Schülerzusammensetzung gibt, denen es trotz ihrer ungünstigen Voraussetzungen gelingt, messbar gute Lernergebnisse zu erreichen. Dabei haben schulische Merkmale in Schulen mit ungünstiger sozialer Mischung der Schülerschaft größere Erklärungskraft als in sozial günstiger zusammengesetzten Schulen; Schul- und Unterrichtsqualität sind bei ersteren besonders wichtig. Die vorliegenden Befunde zeigen, dass es eben nicht nur das Ergebnis individueller Anstrengungen oder der Ausdauer und Anpassungsfähigkeit von einzelnen Bildungsaufsteigern ist, sondern es auch auf institutioneller Ebene gelingen kann, Benachteiligung deutlich abzumildern. Diese Schulen sind oftmals dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Entwicklungsbedarfe gezielt datengestützt analysieren. Sie entwickeln kompensatorische Strategien, um fehlende materielle, soziale, aber auch emotionale Ressourcen auszugleichen. Dazu gehört eine sichere und geordnete Lernumgebung, um die Lernzeit weitgehend störungsfrei und intensiv zu nutzen. Die positive Schüler-Lehrer-Beziehung zeigt sich in einer wertschätzenden und anerkennenden Kommunikationskultur. Lernziele werden offengelegt und verschiedene Wege, diese zu erreichen, werden angeboten. Dies versetzt die Lernenden eher in die Lage, ihren eigenen Lernprozess selbstbestimmt zu gestalten und Lernstrategien zu entwickeln sowie auf der Basis von Selbstwirksamkeitserfahrungen unterschiedliche Interessen auszubilden und damit die Möglichkeit zu erlangen, zwischen verschiedenen Lebensentwürfen zu wählen. Dabei gerät das fachliche Lehren und Lernen nicht aus dem Blick; es gelingt, Unterforderung zu vermeiden, eigene Denkaktivitäten und Konstruktionen zu fördern, das Schüler-Ich zu stärken und diskursiv mit Fehlern umzugehen. Bei Lehrkräften in erfolgreichen Schulen in segregierter Lage konnten höhere Erwartungen an die Schülerleistung identifiziert werden als in weniger effektiven Schulen mit ähnlicher Schülerzusammensetzung. An Schulen mit hohen Anteilen mehrsprachig Lernender kommt zudem einem sprachsensiblen Unterricht als Prinzip aller Unterrichtsfächer besondere Bedeutung zu, um Teilhabe an fachlichen Lernprozessen zu befördern.

Schließlich attestieren zahlreiche Studien der Schulleitung besondere Relevanz, da sie das Schulklima und die gelebte Kultur nachhaltig beeinflussen kann. An effektiven Schulen in benachteiligter Lage ist sie als Kultur des Zutrauens in die Leistungsfähigkeit von Lernenden sowie durch eine chancenorientierte Grundhaltung gekennzeichnet. Das Handeln der Schulleitung erweist sich besonders dann als effektiv, wenn es transparent und kooperativ ist. Schulentwicklungskapazitäten können durch Verantwortungsübernahme und Partizipationsmöglichkeiten, etwa im Rahmen schulischer Steuergruppen, erweitert werden. Eine hohe, aber an eine Evaluation der Wirksamkeit gebundene Innovationsorientierung und eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung des Kollegiums sind dabei förderlich. Dabei sollte wiederum der Unterricht im Vordergrund stehen, verbunden mit einer Deprivatisierung der Unterrichtspraxis durch Herstellung einer schulinternen Öffentlichkeit, um den Austausch über Unterrichtsqualität und -entwicklung zu stärken. Netzwerke mit anderen Schulen und außerschulischen Einrichtungen können das Sozialkapital von Schulen erweitern und das Schulimage nachhaltig aufwerten.

Politische Strukturmaßnahmen

Insgesamt bedeuten die skizzierten Ansätze hohe Anforderungen an Reflexionsvermögen und Haltungen, Kenntnisse und Handlungskompetenzen von Schulen mit ungünstigen Standortbedingungen hinsichtlich einer kontextsensiblen Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung. Vielen dieser Schulen scheint es dabei nicht aus eigener Kraft zu gelingen, herkunftsbedingte Ungleichheiten an- bzw. auszugleichen. Externe Unterstützungssysteme, wie gezielte Fortbildungsangebote (gerade auch für Schulleitungen an sogenannten "Brennpunktschulen"), einzelschulische Entwicklungsberatung und Materialien zu erprobten Konzepten können die Schulen unterstützen. Kooperationen und Netzwerkbildungen mit anderen Schulen können dabei helfen, konkrete Problemlagen zu diskutieren sowie Transferstrategien für gute Praxisbeispiele zu entwickeln. Der diagnostische Blick für Schulentwicklungsstrategien im Kontext spezifischer sozialräumlicher Herausforderungen muss zudem in der Lehrerbildung geschärft werden. Dies ist mit der Ausbildung eines förderorientierten, für Bildungsungleichheit sensiblen Habitus und spezifischen Handlungskompetenzen zu verbinden, und zwar unabhängig von einer schulformspezifischen Lehrerausbildung. Die Lehrerausbildung und -fortbildung haben in dieser Hinsicht großen Entwicklungsbedarf, wobei z.B. die von Bund und Ländern getragene "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" Impulse erwarten lässt.

Schließlich sind Strukturmaßnahmen der Schulentwicklungsplanung, auch auf kommunaler Ebene, zu diskutieren. Dazu gehören die Stärkung ganztägiger Bildung mit vergleichbaren Standards, die Steuerung der Schülerzusammensetzung im Einzugsgebiet der Schulen sowie Schulformumwandlungen und Schulfusionen. Die OECD bilanzierte auf Basis der Befunde der PISA-Erhebungen des vergangenen Jahrzehnts, dass es Schulsysteme, die durch einen hohen Differenzierungsgrad zwischen Schulen und Klassen gekennzeichnet sind, im Allgemeinen nicht geschafft hätten, höhere Gesamtleistungen zu erreichen und zudem durch größere soziale Ungleichheiten gekennzeichnet seien.

Auch eine differenzielle Ressourcenausstattung der Schulen kann einen Beitrag leisten, um den Zusammenhang zwischen herausfordernden Kontextbedingungen und den Bildungschancen zu entkoppeln. Dazu bedarf es allerdings vergleichbarer auf einzelne Schulen zugeschnittener Indikatoren zum familialen ökonomischen, kulturellen und schulbezogenen sozialen Kapital sowie zu Strukturdaten zum Einzugsgebiet der Schulen. Eine vergleichsweise differenzierte sozialindexgesteuerte Ressourcenzuweisung an Schulen gibt es bislang nur in Hamburg. Bundesweit ist die indikatorenbasierte Finanzierung einzelner Schulen gleichwohl unterentwickelt. Eine solche bedarfsorientierte Zuteilung könnte mit konkreten Zielvereinbarungen, einem erweiterten Angebot an spezifischen Unterstützungsmaßnahmen und einer entsprechenden Evaluation hinsichtlich der erzielten Erfolge verbunden werden. Insgesamt erscheint aber das Zusammenspiel der Kompensation von Ressourcen und strukturellen Maßnahmen auf der politisch-administrativen Steuerungsebene, der Anerkennung aller Schülerinnen und Schüler auf der Schulebene und herkunftssensibler pädagogischer Interventionen im Unterricht geeignet, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg bzw. -misserfolg abzumildern.


Isabell van Ackeren leitet seit 2009 die Arbeitsgruppe Bildungsforschung an der Universität Duisburg-Essen in der Fakultät für Bildungswissenschaften.
isabell.van-ackeren@uni-due.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016, S. 23 - 26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2016

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