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SCHULE/680: Schulstrukturen verschlanken und flexibilisieren (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107

Schulstrukturen verschlanken und flexibilisieren

Von Kai Maaz, Stefan Kühne und Horst Weishaupt



Soziale Ungleichheiten bestimmen immer noch die Bildungsabschlüsse von vielen Schülerinnen und Schülern. Wenn notwendige schulstrukturelle Reformen darauf abzielen, das bisherige undurchlässige Schulsystem aufzubrechen, zeigt sich, dass mehr Jugendliche höhere Kompetenzstände und höhere Bildungsabschlüsse erreichen.


Damit die Funktionsfähigkeit des Schulsystems gewährleistet werden kann, müssen die mit dem Schulsystem befassten Akteure und politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf die gesellschaftlichen Verhältnisse angemessen reagieren. Zu den großen Herausforderungen gehören der demografische Wandel und der damit verbundene, zum Teil dramatische Rückgang der Schülerinnen- und Schülerzahl - insbesondere in den ländlichen Regionen. Von diesem Rückgang ist im Wesentlichen die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund betroffen, während der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund weiter ansteigen wird und sich dadurch die soziale Zusammensetzung von Schulklassen weiter verändert. Durch das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben nimmt - ebenfalls durch die demografische Entwicklung - der zukünftige Bedarf an gut qualifizierten Arbeitskräften zu.

Schon seit Jahren vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Bildungsnachfrage der Bevölkerung, der als anhaltender Trend zur Nachfrage nach höherer Bildung bezeichnet werden kann. Im Schulwesen lässt sich dies an steigenden Übergangsquoten zu Schularten beobachten, die den Erwerb der Hochschulreife ermöglichen. Zugleich weist das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich nach wie vor ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit auf. Die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften kann - in Anbetracht der zukünftigen demografischen Entwicklung - nur dann befriedigt werden, wenn dem Bildungserfolg sozial weniger begünstigter Gruppen erhöhte Aufmerksamkeit zukommt.


Veränderungen der Schulstruktur im Sekundarbereich

Die Bundesrepublik Deutschland geht regional (bezogen auf die Bundesländer) unterschiedlich mit diesen Herausforderungen um. Neben kleineren Veränderungen in der Anpassung der Bildungsangebote können insbesondere die strukturellen Veränderungen im Sekundarschulsystem als Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen und Herausforderungen verstanden werden.

Mit landesspezifischen (und nicht immer eindeutig abgrenzbaren) Bezeichnungen versehen, sind in allen Bundesländern neue nicht-gymnasiale Schularten geschaffen worden beziehungsweise aus der Zusammenlegung bereits bestehender Schularten hervorgegangen. Durch die landesspezifische Ausgestaltung jener Schularten, die mehrere Bildungsgänge unter einem Dach vereinen und damit mehr als eine Abschlussoption bieten, kam es jedoch zu keiner grundlegenden Vereinheitlichung der Schulstruktur in Deutschland.

Das Spektrum an Schularten mit mehreren Bildungsgängen reicht - im Vergleich zwischen und zum Teil auch innerhalb der Bundesländer - vom bildungsgangübergreifenden gemeinsamen Unterricht (integrativ) bis hin zu separat organisierten Bildungsgängen unter dem Dach einer Schule, die von Beginn an auf den Erwerb von spezifischen Abschlüssen ausgerichtet bleiben (additiv). Nach wie vor variiert das Schulartangebot im Sekundarbereich I je nach Bundesland vom zweigliedrigen bis zum sechsgliedrigen System (siehe Abbildung 1[*]). Gleichwohl: In der Gesamtbetrachtung ist ein deutlicher Trend in Richtung eines Zwei-Säulen-Modells erkennbar, das neben dem Gymnasium nur eine weitere Schulart vorsieht und den Schülerinnen und Schülern den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife auf unterschiedlichem Wege ermöglicht.


Drei Veränderungen bei den Bildungsabschlüssen und bei der Bildungsnachfrage

Die schulstrukturellen Veränderungen korrespondieren mit drei interessanten Veränderungen bei der Bildungsnachfrage.

Erstens setzt sich die Entkopplung des erreichten Bildungsabschlusses von der besuchten Schulart weiter fort. Dementsprechend hat sich beispielsweise der Anteil der mittleren Schulabschlüsse an Hauptschulen von 2006 bis 2012 von 21 auf 28 Prozent erhöht. Schularten, die mehrere Bildungsgänge anbieten, gewinnen immer mehr an Bedeutung. Bildungswege sollen so lange wie möglich offen gehalten und frühere Bildungsentscheidungen ohne größere Kosten revidiert werden können.

Zweitens erwerben immer mehr Jugendliche eine Studienberechtigung - inzwischen jeder zweite eines Jahrgangs. Dazu tragen zunehmend berufliche Schulen bei, die mit ihren naturwissenschaftlich-technischen, wirtschaftswissenschaftlichen und erzieherischen Schwerpunkten ein spezifisches Angebot für Absolventinnen und Absolventen mit einem mittleren Schulabschluss bieten, wenn der Besuch eines Gymnasiums nicht mit dem individuellen (Kompetenz-)Profil zu vereinbaren ist.

Drittens gewinnen Zweitabschlüsse nach einem ersten Schulabschluss (oder dem Abgang aus einer allgemeinbildenden Schule) eine immer größere Bedeutung. Die Chance zum Nachholen eines höher qualifizierenden Abschlusses wird also von immer mehr Jugendlichen genutzt.


Risikolagen beeinflussen den Bildungsabschluss

Soziale Benachteiligungen im Schulbesuch und -erfolg bestehen jedoch auch weiterhin. Bezogen auf die Partizipation an Bildungsgängen, die zu den höchstmöglichen Bildungszertifikaten führen, lassen sich in Folge der Flexibilisierungen der Bildungswege zumindest geringe positive Entwicklungen beobachten. Deutlich wird aber eine schwächere Kopplung des Schulbesuchs an die soziale Herkunft - zumindest trifft dies bei älteren gegenüber jüngeren Jugendlichen zu (siehe Abbildung 2[*]). So besuchen Kinder im Alter von 12 bis unter 17 Jahren, die ohne Risikolage aufwachsen - also ohne erwerbslose, armutsgefährdete oder bildungsferne Elternhäuser - zu 42 Prozent ein Gymnasium. Bei Kindern, die mit mindestens einer dieser Risikolagen aufwachsen, sind es nur halb so viele (20 Prozent). Besonders gering fällt mit 6 Prozent der Gymnasialbesuch von Schülerinnen und Schülern aus, die von allen drei Risikolagen betroffen sind.

Für die 17- bis unter 21-Jährigen hingegen stellt sich die Situation anders dar: Immerhin 35 Prozent der Jugendlichen mit mindestens einer Risikolage besuchen Gymnasien oder berufliche Schulen, die zur Hochschulreife führen - im Vergleich zu 47 Prozent, die nicht von einer Risikolage betroffen sind. Ein Großteil der Jugendlichen aus niedrigen sozialen Verhältnissen scheint also erst später die Chance wahrzunehmen, die Hochschulreife zu erlangen. Dies kann als Hinweis darauf angesehen werden, dass eine Differenzierung von Bildungswegen im Sekundarbereich II zum Abbau von Bildungsbenachteiligungen beiträgt.


Das Kompetenzniveau hat sich in Deutschland deutlich verbessert

Betrachtet man neben den Schulabschlüssen die erreichten Kompetenzstände der Schülerinnen und Schüler, so weisen Studien für den Primarbereich auf eine hohe Stabilität des Leistungsniveaus hin. Im Sekundarbereich I lässt sich - beginnend mit desillusionierenden Ergebnissen bei PISA 2000 bis zur letzten PISA-Studie aus dem Jahr 2012 - ein kontinuierlicher Trend zu höheren Kompetenzen der 15-Jährigen beobachten. Hervorzuheben ist, dass die Verbesserung der durchschnittlichen Kompetenz nicht zuletzt auf Leistungssteigerungen zurückzuführen ist, die an den nicht-gymnasialen Schularten - vor allem auch durch Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Status - erzielt wurden. Der Zusammenhang von familiärer Herkunft und erreichtem Kompetenzniveau hat sich in einigen Kompetenzbereichen leicht verringert, und Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erreichten in der PISA-Studie 2012 höhere Kompetenzstände als bei der ersten Erhebung im Jahr 2000. Die Verringerung von Leistungsrückständen der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vollzieht sich dabei in allen sozialen Herkunftsgruppen: Sowohl diejenigen aus sozial schwächeren als auch diejenigen aus privilegierteren Elternhäusern weisen in der PISA-Studie aus dem Jahr 2012 höhere Kompetenzstände als im Jahr 2000 auf und haben sich auch im Vergleich zu Gleichaltrigen mit ähnlicher sozioökonomischer Herkunft, die keinen Migrationshintergrund haben, verbessert. Für die Verbesserung von Chancengleichheit und einer optimaleren Ausschöpfung von Bildungspotenzialen stellen die weiterhin wirkenden sozialen Disparitäten beim Kompetenzerwerb allerdings nach wie vor eine der zentralen Herausforderungen im Bildungssystem dar.

Mit den schulstrukturellen Veränderungen, die in der Tendenz auf ein Zwei-Säulen-Modell hinauslaufen, werden die Voraussetzungen für die Sicherung eines breiten Bildungsangebots im Sekundarschulbereich geschaffen und die Flexibilisierung von Bildungswegen ermöglicht. Gleichwohl erweisen sich die seit vielen Jahren dokumentierten sozialen Disparitäten des Bildungserwerbs als äußerst zäh, wenngleich sich das Ausmaß sowohl bei den Disparitäten des Kompetenzerwerbs als auch bei der Bildungsbeteiligung leicht reduziert hat. Angesichts der demografischen Entwicklung müssen vor allem die Anstrengungen zum Abbau sozialer Benachteiligungen intensiviert werden.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Kai Maaz ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens" am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Schwerpunkte seiner Forschung sind Bildungsübergänge, sozio-kulturelle Disparitäten des Bildungserfolgs, Schulentwicklung und Bildungsreformen.
Kontakt: maaz@dipf.de

Stefan Kühne, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator in der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens" am DIPF. Schwerpunkte seiner Forschung sind Untersuchungen mit und zu Bildungsstatistiken und Bildungsindikatoren.
Kontakt: kuehne@dipf.de

Prof. em. Dr. Horst Weishaupt war zuletzt am DIPF in der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens" tätig. Schwerpunkte seiner Forschung sind regionale und ökonomische Aspekte des Bildungswesens und Bildungsmonitoring.
Kontakt: weishaupt@dipf.de

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DJI Impulse 3/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse
Dort finden Sie auch im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabellen und Graphiken der Printausgabe unter
http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull107_d/DJI_3_14_WEB.pdf

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107, S. 11-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2014