Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → BILDUNG

SCHULE/664: Ganztagsschule - Mehr als Schule (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100

Mehr als Schule
Die vielfältigen Angebote in Ganztagsschulen können die individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unterstützen - wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

Von Christine Steiner



Die Ganztagsschule hat in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Lag ihr Anteil in der Bundesrepublik Mitte der 1980er-Jahre gerade einmal bei fünf Prozent (Hagemann 2009), stellen inzwischen mehr als die Hälfte aller Schulen ein Nachmittagsangebot bereit (Bertelsmann 2012). Eines der vielfältigen Ziele des Ganztagsschulausbaus ist die bessere Bildung und Förderung der Schülerinnen und Schüler. Nicht zuletzt die Eltern wünschen sich, dass ihr Kind durch den Ganztagsbesuch mehr unterstützt wird. Dabei haben sie nicht nur die fachbezogene Betreuung im Blick, sondern auch die Förderung der sozialen Entwicklung ihres Kindes (Diekmann u.a. 2007). Das Bildungsverständnis der Eltern ist also nicht alleine auf das schulische Lernen ausgerichtet. Und soweit die bisher vorliegenden Studien der Ganztagsschulforschung zeigen, wird - trotz mancher Befürchtungen zu Beginn des Ausbauprozesses - auch in den Schulen ein umfassender Bildungsanspruch verfolgt (Bertelsmann 2012).

Ganztagsschulen haben bei der Umsetzung dieses Anspruches einen recht großen Spielraum (Tillmann 2011). In der Regel wird das Ganztagsangebot in Kooperation mit außerschulischen Partnern und unter Mitarbeit von Angehörigen unterschiedlicher Professionen gestaltet. Die Schulen bieten dabei sowohl unmittelbar unterrichtsbezogene Angebote, wie etwa Förderkurse, als auch Möglichkeiten zur sozialen Förderung sowie vielfältige Betreuungs- beziehungsweise Freizeitangebote, beispielsweise Sportaktivitäten, Kochkurse oder Theater-AGs, an. Freiräume, deren Gestaltung in der Hand der Kinder und Jugendlichen liegen, gehören oft ebenso zum Ganztagsrepertoire. Mit dieser Vielfalt versuchen die Schulen, ihrem erweiterten Bildungsanspruch Rechnung zu tragen (Bertelsmann 2012).

Dieser kurze Überblick über die Gestaltung der Ganztagsschulen zeigt, dass dort nicht einfach mehr Schule, sondern mehr als Schule stattfindet. Er liefert jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die angestrebte breite individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler im Schulalltag auch erfolgreich umgesetzt wird.


Entscheidend ist die pädagogische Qualität der Angebote und der Lehrer-Schüler-Beziehung

In Deutschland liegen bislang nur einzelne Befunde über die Auswirkungen der Integration non-formaler und informeller Bildungsangebote in die Schule vor, so beispielsweise zum Einfluss sportlicher Aktivitäten auf den späteren Berufsverlauf (Cornelißen/Pfeiffer 2007). In den USA wurden die Wirkungen außerunterrichtlicher Aktivitäten hingegen recht intensiv untersucht. Vor allem die Studien zu den After-School-Programs, die den deutschen Ganztagsangeboten im Hinblick auf Gestaltung und Zielsetzung sehr ähnlich sind, belegen eine Reihe positiver Effekte. Sie reichen von der Förderung der Motivation und des Sozialverhaltens über den schulischen Erfolg (Feldman/Matjasko 2005) bis zur Herausbildung weiterreichender Bildungsaspirationen und besserer Berufschancen (Villarruel u.a. 2005).

Die Studien zeigen jedoch auch, dass sich solche Wirkungen nicht automatisch einstellen. Sie hängen vielmehr von der pädagogischen Qualität der Angebote und der Qualität der Beziehungen zwischen Teilnehmenden und Betreuenden ab (Prozessqualität). Weiterhin spielt der zeitliche Umfang der Inanspruchnahme eine wichtige Rolle (Mahoney u.a. 2005). Das bedeutet, dass die Effekte außerunterrichtlicher Aktivitäten von der sozialen Praxis beeinflusst werden, in die sie eingebunden sind. Dass diese eine wichtige Rolle für das Lernen spielt, wird auch durch die Erkenntnisse der Schulqualitätsforschung unterstrichen. Demnach unterstützen kooperative und partizipative Arbeits- und Sozialbeziehungen ein gutes Schulklima und anregende schulische Bedingungen die individuelle Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler (Ditton 2009). Der non-formale Charakter von Ganztagsangeboten, die in der Regel nicht benotet werden und oft freiwillig sind, kann die Etablierung dieser kooperativen und partizipativen Beziehungen unterstützen.


INFOKSTASTEN

 

Zur Studie StEG

Im Rahmen der »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG) wurden im Rahmen der 1. Projektphase zwischen 2005 und 2009 bundesweit drei Befragungen an jeweils mehr als 300 Ganztagsschulen organisiert und ausgewertet, um langfristige Entwicklungen aufzuzeigen. Die Untersuchung, die unter anderem vom Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wurde, stellt damit die quantitativ umfassendste Ganztagsschulstudie in Deutschland dar. Mit Beginn des Jahres startete die 2. Projektphase, in der einige der aufgeworfenen Fragen untersucht werden. Weitere Informationen stehen unter
www.projekt-steg.de

Der ganztägige Schullalltag steigert das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen

Im Hinblick auf die Förderung fachlicher Kompetenzen durch den Besuch von Ganztagsangeboten liegen recht widersprüchliche Ergebnisse vor. Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Ganztagsschülerinnen und -schüler keinen Leistungsvorsprung gegenüber jenen Kindern und Jugendlichen erzielen, die nur halbtags unterrichtet werden (Züchner/Fischer 2011). In Längsschnittuntersuchungen wie der StEG-Studie (siehe Infokasten "Zur Studie StEG"), die Schülerinnen und Schüler über einen längeren Zeitraum begleiten, konnten aber durchaus Auswirkungen auf die fachliche Kompetenzentwicklung und die Schulnoten festgestellt werden. Angesichts des Forschungsstandes wird in den StEG-Analysen systematisch sowohl dem Einfluss der zeitlichen Dimension als auch der Prozessqualität nachgegangen. Interessanterweise zeigen die Befunde zur Notenentwicklung, dass nicht nur die Dauer der Inanspruchnahme ausschlaggebend ist, sondern die Erfahrung von Selbstbestimmung, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit in den Angeboten (Kuhn/Fischer 2011).

Dass ein ganztägig organisierter Schulalltag die soziale Integration der Schülerinnen und Schüler sowie das Schulklima verbessert, belegen bereits frühere Untersuchungen (Holtappels u.a. 2007). Laut der StEG-Studie wirkt sich der Ganztagsbesuch auch förderlich auf das Wohlbefinden und die Lernzielorientierung der Teilnehmenden aus (Fischer u.a. 2011a). Die Erforschung der Entwicklung sozialer Kompetenzen erweist sich allerdings als schwierig, da es sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was soziale Kompetenz bedeutet. In ihrer kritischen Würdigung verschiedener wissenschaftlicher Ansätze zur Bestimmung sozialer Kompetenzen kommen die Wissenschaftler Michael Bayer, Hartmut Ditton und Florian Wohlkinger zu dem Ergebnis, dass darin im Wesentlichen zwei Fähigkeiten thematisiert werden: Anpassungs- und Durchsetzungsfähigkeit (Bayer u.a. 2012).

Die zur Ganztagsschule vorliegenden Forschungsergebnisse legen einen Schwerpunkt auf die Anpassungsfähigkeit, durch die Kinder und Jugendliche positive Sozialbeziehungen aufrechterhalten und Konflikte mit Gleichaltrigen vermeiden können. Demnach tragen Ganztagsangebote dazu bei, problematisches Verhalten im Schulalltag (etwa die Störung des Unterrichts) sowie Gewalt und Absentismus zu reduzieren. Dabei spielen sowohl die Dauer der Inanspruchnahme als auch die Beziehung zwischen den Teilnehmenden und Betreuenden eine Rolle. Weiterhin zeigen sich Ganztagsschülerinnen und -schüler öfter bereit, soziale Verantwortung zu übernehmen. Hier ist neben der Dauer der Inanspruchnahme vor allem die pädagogische Qualität der Angebote wichtig (Fischer u.a. 2011b).

Die vorgestellten Befunde machen deutlich, dass Ganztagsangebote die individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durchaus unterstützen. Doch wie immer klärt Forschung nicht nur Fragen, sondern wirft auch neue auf. So ist vor allem das Verhältnis von Teilnahmedauer und Prozessqualität noch recht unklar (Fischer u.a. 2011a). Auch scheint es nicht weiter sinnvoll, die Ganztagsangebote gewissermaßen summarisch zu betrachten. Stattdessen müssen einzelne Aktivitäten genauer untersucht werden. Noch weitgehend unerforscht ist außerdem das Zusammenspiel von außer- und innerschulischen Angeboten und damit auch die Frage, ob sich in der Ganztagsschule Erlerntes und Erfahrenes auch außerhalb beziehungsweise nach der Schule bewähren kann.


DIE AUTORIN

Dr. Christine Steiner ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut und arbeitet an der Studie StEG mit. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungs- und Jugendforschung, Lebensverlaufsanalyse, Arbeitsmarktsoziologie und Ostdeutschlandforschung.
Kontakt: steiner@dji.de


LITERATUR

BAYER, MICHAEL/DITTON, HARTMUT/WOHLKINGER, FLORIAN (2012): Konzeption und Messung sozialer Kompetenz im Nationalen Bildungspanel. NEPS Working Paper Nr. 8. Bamberg

BERTELSMANN STIFTUNG (Hrsg.; 2012): Ganztagsschule als Hoffnungsträger für die Zukunft? Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand. Bielefeld

CORNELISSEN, THOMAS/PFEIFER, CHRISTIAN (2007): The impact of participation in sports on educational attainment. New evidence from Germany. SOEPpapers Nr. 68. Berlin

DIEKMANN, KATJA/HÖHMANN, KARIN/TILLMANN, KATJA (2007): Schulorganisation, Organisationskultur und Schulklima an ganztägigen Schulen. In: Holtappels, Heinz-Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig (Hrsg.): Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG). Weinheim, S. 164-185

DITTON, HARTMUT (2009): Familie und Schule - eine Bestandsaufnahme der bildungssoziologischen Schuleffektforschung von James S. Coleman bis heute. In: Becker, Rolf (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. Wiesbaden, S. 239-258

FELDMAN, AMY E./MATJASKO, JENNIFER L. (2005): The role of schoolbased extracurricular activities in adolescent development: A comprehensive review and future directions. Review of Educational Research, 75, S. 159-211

FISCHER, NATALIE/BRÜMMER, FELIX/KUHN, HANS-PETER (2011a): Entwicklung von Wohlbefinden und motivationalen Orientierungen in der Ganztagsschule. Zusammenhänge zwischen Prozess- und Beziehungsqualität. In: Fischer, Natalie/Holtappels, Hans-Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig/Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Weinheim, S. 227-245

FISCHER, NATALIE/KUHN, HANS-PETER/ZÜCHNER, IVO (2011b): Entwicklung des Sozialverhaltens in der Ganztagsschule. Wirkungen der Ganztagsteilnahme und der Angebotsqualität. In: Fischer, Natalie/Holtappels, Hans-Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig/Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Weinheim, S. 246-266

HAGEMANN, KAREN (2009): Die Ganztagsschule als Politikum. Zeitschrift für Pädagogik, 54. Beiheft, S. 209-229

HOLTAPPELS, HEINZ-GÜNTER/KLIEME, ECKHARD/RADISCH, FALK/RAUSCHENBACH, THOMAS/STECHER, LUDWIG (2007): Forschungsstand zum ganztägigen Lernen und Fragestellungen von StEG. In: Holtappels, Heinz-Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig (Hrsg.): Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG). Weinheim, S. 37-50

KUHN, HANS-PETER/FISCHER, NATALIE (2011): Entwicklung der Schulnoten in der Ganztagsschule. Einflüsse der Ganztagsteilnahme und der Angebotsqualität. In: Fischer, Natalie/Holtappels, Hans-Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig/Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Weinheim, S. 207-226

MAHONEY, JOSEPH L./LARSON, REED W./ECCLES, JACQUELYNNE S./LORD, HEATHER (2005): Organized activities as developmental contexts for children and adolescents. In: Mahoney, Joseph L./Larson, Reed W./Eccles, Jacquelynne S. (Hrsg.): Organized activities as contexts of development: Extracurricular activities, after-school, and community programs. Mahwah (NJ), S. 3-23

TILLMANN, KLAUS-JÜRGEN (2011): Die Steuerung von Ganztagsschulen. Zum Verhältnis von Schulautonomie, freien Anbietern und staatlicher Regulierung, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 15, S. 11-24

VILLARRUEL, FRANCISCO A./MONTERO-SIEBURTH, MARTHA/DUNBAR, CHRISTOPHER/OUTLEY, CORLISS W. (2005): Dorothy, there is no yellow brickroad: The paradox of community youth development approaches for Latino and African American urban youth. In: Mahoney, Joseph L./Larson, Reed W./Eccles, Jacquelynne S. (Hrsg.): Organized activities as contexts of development: Extracurricular activities, after-school, and community programs. Mahwah (NJ), S. 111-130

ZÜCHNER, IVO/FISCHER, NATALIE (2011): Ganztagsschulentwicklung und Ganztagsschulforschung. In: Fischer, Natalie/Holtappels, Hans-Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig/Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Weinheim, S. 9-17


DJI Impulse 4/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

*

Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100, S. 14-16
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2013