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SCHULE/641: Ganz ist nicht genug - Lernwerkstatt statt Hausaufgaben (DJI)


DJI Bulletin 3/2010, Heft 91
Deutsches Jugendinstitut e.V.

GANZ IST NICHT GENUG
Lernwerkstatt statt Hausaufgaben

Von Elke Kaufmann und Katharina Wach


Viele Familien erleben die tägliche Hausaufgabensituation als belastend. Ganztagsschulen können insbesondere bildungsbenachteiligte Kinder unterstützen, allerdings wirft die oft fehlende Kontinuität der pädagogischen Angebote nach dem Schulübertritt neue Probleme auf.


Mit dem Eintritt in die Schule kommt auf die Schulanfänger und deren Eltern, neben der neuen Situation des Schulalltags und des Unterrichts, auch die Anforderung zu, die täglichen Hausaufgaben zu bewältigen. Die meisten Kinder werden hierbei, unabhängig von der sozialen Herkunft der Familie, zumindest von einem Elternteil zu Hause unterstützt (Gerber/Wild 2009). Ergebnisse aus der Hausaufgabenforschung zeigen jedoch, dass der pädagogische Nutzen dieser Unterstützung stark von den häuslichen Bildungsressourcen und von der Form der elterlichen Unterstützung abhängt. Insbesondere kontrollierendes Verhalten, Leistungsdruck und Strafen beeinträchtigen die Motivation der Kinder und deren Leistungsentwicklung. Kinder kann zudem auch eine allzu intensive Elternhilfe demotivieren, da diese die eigenständige Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Hausaufgaben behindert (Wild/Gerber 2007; Wild/Rammert/Siegmund 2006).


Steigender Leistungsdruck in der Grundschule

Der Schulwechsel nach der Grundschule und die damit verbundenen schulischen Anforderungen sind häufig Anlass für die Verstärkung des Leistungsdrucks durch die Eltern, da sie ihren Kindern in der Regel die bestmögliche Bildung in einer weiterführenden Schule ermöglichen wollen. Es gelingt in den Familien nicht immer, eine das Kind wahrnehmende und in seiner Autonomie emotional unterstützende Hilfestellung zu gewährleisten, wie sie von Seiten der Forschung empfohlen wird (Schneider 2010; Wild/Rammert/Siegmund 2006). Für die Kinder besteht allerdings eine große Abhängigkeit von den Unterstützungsbedingungen im Elternhaus, und nicht selten führt die Hausaufgabensituation in Familien zu vielfältigen Konflikten.

In der Diskussion um Ganztagsschulangebote wird mit der Hausaufgabenbetreuung unter anderem die Erwartung verbunden, die Familien zu entlasten. Quantitativ steht sie an der Spitze der im Ganztag realisierten Angebotsformen (Holtappels 2007), und für einen Großteil der Eltern stellt sie einen wichtigen Aspekt für die Anmeldung ihrer Kinder in der Ganztagsschule dar (Beher u. a. 2007). Der Bildungsbericht 2010 verweist auf einen rasanten Ausbau der Ganztagsschulen in den letzten Jahren. Inzwischen wird an mehr als jedem dritten Schulstandort in Deutschland Ganztagsbetrieb angeboten - etwa an 42 Prozent aller schulischen Einheiten des Primar- und Sekundarbereichs I. Ein besonders starker Ausbau ist im Grundschulbereich zu verzeichnen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010).


Das Handicap der Herkunft verringern

Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit dem Titel »Die soziale Konstruktion der Hausaufgabensituation« ist der Frage nachgegangen, inwieweit die pädagogische Gestaltung der Hausaufgabenbetreuung im Ganztag einen Beitrag zu einem Abbau herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung leisten kann, indem sich Kinder dort mit den schulischen Aufgaben auseinandersetzen können, ohne unter direktem Einfluss des Elternhauses zu stehen. Im Rahmen der qualitativen Studie wurden drei Hausaufgabensettings in Ganztagsschulen ausgewählt, deren pädagogische Gestaltung in Bezug auf das Konzept der Selbstregulation unterschiedliche Ausprägungen aufweist.

Das erste Setting zeichnet sich durch eine verbindlich festgelegte Hausaufgabenstunde für alle Kinder in einem dafür vorgesehenen Schulraum aus. Flexibilität und Entscheidungsspielräume kennzeichnen im Unterschied dazu die zweite Variante: Schülerinnen und Schüler können frei wählen zwischen unterschiedlichen Hausaufgabenzeiten mit und ohne Betreuung sowie in Einzel- oder Teamarbeit. Im Vergleich zu diesen beiden Varianten arbeitet das dritte Setting nicht mit Hausaufgaben im herkömmlichen Sinn, sondern regelt das Üben des Lernstoffs über die Integration der Hausaufgabenfunktion in den rhythmisierten Ganztagsunterricht. Die selbstbestimmte Auseinandersetzung mit dem Lernstoff im Rahmen einer Lernwerkstatt ersetzt in diesem Fall die Hausaufgaben.

Neben den Lehrkräften und den in der Hausaufgabenbetreuung tätigen pädagogischen Fachkräften wurden jeweils drei Kinder mit unterschiedlicher sozialer Herkunft und der für die Hausaufgabenbetreuung zuständige Elternteil befragt. Die Untersuchungen fanden in der vierten und nochmalig nach dem Schulwechsel in der fünften Klasse statt. Die Ergebnisse sind zwar nicht repräsentativ, aber sie weisen darauf hin, dass Ganztagsschulen bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler bei den Hausaufgaben unterstützen können, dabei allerdings die Kontinuität der pädagogischen Gestaltungsformen der Hausaufgabenbetreuung eine wichtige Rolle spielt.


Die Unterstützung endet in der Sackgasse

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass insbesondere Kinder, die im Elternhaus keine Lernunterstützung bekommen, von der pädagogischen Lösung einer Integration der Hausaufgabenfunktion in den Unterricht profitieren können. Vor allem für Kinder und Eltern aus eher bildungsfernen Milieus konnte sie effektive Hilfe bieten. So scheinen besonders diese Kinder die notwendigen Anknüpfungspunkte zu finden, indem sie im Rahmen einer Lernwerkstatt Arbeitsweisen und Lerntechniken aufgreifen und entwickeln, die ihnen eine selbstregulative Lösung der Arbeitsaufträge ermöglichen. In der Lernwerkstatt liegen für die Kinder Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen zur individuellen Auswahl bereit.

Wenngleich sich diese Variante einer Integration der Hausaufgabenfunktion in den Unterricht als eine grundsätzlich sehr unterstützende, im Hinblick auf herkunftsbedingte Bildungsbenachteiligung ausgleichende pädagogische Lösungsform erweist, so ist dennoch auf problematische Aspekte hinzuweisen. Die Untersuchungsergebnisse deuten an, dass der Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe I eine entscheidende Hürde darstellt. Denn oft endet die an reformpädagogische Prinzipien angelehnte Gestaltung des Unterrichts- und Lernalltags mit dem Übertritt in eine weiterführende Schule. Damit erfahren Kinder, die während der Grundschulzeit keine Hausaufgaben im herkömmlichen Sinn zu bearbeiten hatten, eine abrupte Veränderung der Lernbedingungen. Dies kann problematische Einbrüche in der Schullaufbahn nach sich ziehen. Eine erstmalige Konfrontation mit Hausaufgaben in der fünften Klasse kann sich insbesondere für Kinder, denen zu Hause Unterstützung fehlt, als folgenschwer erweisen. Selbst wenn die untersuchten Personen in der Grundschule selbstregulierte Arbeits- und Lerntechniken beherrschten, kann sich offenbar mit einer abrupten Veränderung der Lern- und Hausaufgabensituation in der Sekundarstufe I das Gefühl des Alleingelassenseins sowie der Überforderung einstellen.


Schulübergreifende Lösungen sind notwendig

Resümierend lässt sich festhalten, dass die Integration der Hausaufgabenfunktion in den Unterricht zwar durchaus eine Lösung darstellt, die Familien im Umgang mit schulischen Anforderungen unterstützt und auf herkunftsbedingte Bildungsbenachteiligung ausgleichend wirken kann. Wenn den Familien beziehungsweise den Kindern jedoch in der Sekundarstufe keine entsprechenden Anschlussoptionen geboten werden, kann es zu problematischen Bildungsverläufen kommen. Entsprechende Gestaltungsformen der Lern- und Hausaufgabensituation auch nach der Grundschulzeit vorzuhalten, kann deshalb ein entscheidender Aspekt nachhaltiger Unterstützungsprogramme sein.


Die beiden Autorinnen Dr. Elke Kaufmann und Katharina Wach führten gemeinsam das Forschungsprojekt »Die soziale Konstruktion der Hausaufgabensituation« durch, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde. Die Soziologin Katharina Wach, die seit September 2010 in der Abteilung »Jugend- und Jugendhilfe« des Deutschen Jugendinstituts (DJI) tätig ist, beschäftigte sich seit 2008 mit dem Thema Bildungsungleichheit im Kontext der Hausaufgabenbetreuung an Ganztagsschulen. Die Sozialpädagogin Elke Kaufmann arbeitete zwischen 2007 und August 2010 am DJI. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die individuelle Förderung an Ganztagsgrundschulen, qualitative Sozialforschung, Methoden der Kindheitsforschung und transnationale soziale Unterstützung.
Kontakt:
wach@dji.de
elke.kaufmann@uni-hildesheim.de


Literatur:

Autorengruppe Bildungsberichtserstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld

Beher, Karin u. a. (2007): Die offene Ganztagsschule in der Entwicklung. Empirische Befunde zum Primarbereich in Nordrhein-Westfalen. Weinheim/München

Gerber, Judith / Wild, Elke (2009): Mit wem wird wie zu Hause gelernt? Die Hausaufgabenpraxis im Fach Deutsch. In: Unterrichtswissenschaft, S. 213-229

Holtappels, Heinz-Günter (Hrsg.; 2007): Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Weinheim/München

Schneider, Sybille (2010 i. E.): Bildungsrelevante Unterstützungsleistungen in der Familie. In: Lange, Andreas / Xyländer, Margret (Hrsg.): Bildungswelt Familie: Disziplinäre Perspektiven, theoretische Rahmungen und Desiderate der empirischen Forschung. Weinheim

Wild, Elke / Gerber, Judith (2007): Charakteristika und Determinanten der Hausaufgabenpraxis in Deutschland von der vierten zur siebten Jahrgangsstufe. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Heft 3, S. 356-380

Wild, Elke / Rammert, Monika / Siegmund, Anita (2006): Die Förderung selbstbestimmter Formen der Lernmotivation in Elternhaus und Schule. In: Prenzel, Manfred / Allolio-Näcke, Lars (Hrsg.): Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. München/Berlin, S. 370-397


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2010, Heft 91, S. 16-17
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2010