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SCHULE/640: Schüler im Stress (DJI)


DJI Bulletin 3/2010, Heft 91
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Schüler im Stress

Von Regina Soremski


Ganztagsschulen sollen Eltern und Kinder entlasten, können aber neue Zeitprobleme schaffen. Wie es Jugendlichen gelingt, Freizeit- und Schulalltag zu vereinbaren.


Die Ganztagsschule gilt aus bildungs- und familienpolitischer Perspektive als Antwort auf veränderte gesellschaftliche Anforderungen: Sie soll Kinder und Jugendliche intensiver fördern und den Eltern erleichtern, Beruf und Familie zu vereinbaren. Mit der Ganztagsschulorganisation gehen jedoch auch verlängerte Schulzeiten einher, ohne dass bislang vertiefend nach den Folgen für die Kinder und Jugendlichen gefragt wurde. Diese Frage ist vor allem im Kontext der neueren Jugend- und Bildungsforschung interessant. Sie folgt der Annahme, dass sich Schule und Freizeit beziehungsweise formelle und informelle Bildungsorte in räumlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht verschränken (Schröer/Böhnisch 2006). In der Mittelschicht tritt dieses Phänomen besonders markant hervor: Die Freizeit der Kinder ist terminlich und institutionell stark reglementiert, da sie in zusätzlichen Musik-, Sport- und Nachhilfestunden bestmöglich gefördert werden sollen (Büchner/Koch 2001; Lareau 2003).

Die qualitative Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit dem Titel »Bildungsprozesse zwischen Familie und Ganztagsschule« widmete sich dem Thema der Ganztagsschule sowohl aus der Perspektive der Familien als auch aus der der Jugendlichen, die ein offenes oder gebundenes Ganztagsangebot der Realschule oder des Gymnasiums besuchten. Um deren Alltag zu erfassen, wurden episodische Interviews mit 16 Ganztagsschülerinnen und -schülern im Alter zwischen 12 und 16 Jahren sowie mit deren Familien geführt, eine teilnehmende Beobachtung an drei Schulen im großstädtischen Raum Bayerns organisiert und Online-Tagebücher ausgewertet. Die Daten geben erste Hinweise darauf, inwieweit es Ganztagsschülerinnen und -schülern gelingt, Freizeit und Schulalltag zu vereinbaren.


Institutionalisierte Freizeit

Der Ansatz der Ganztagsbildung verfolgt das zentrale Ziel, Kinder und Jugendliche zu einer eigenständigen Lebensführung zu befähigen (Coelen/Otto 2008). Dabei geht es auch darum, die verschiedenen Alltagsanforderungen und -bedürfnisse in Familie, Schule und Peergroup miteinander zu koordinieren, wie es das Konzept der alltäglichen Lebensführung beschreibt (Voß 1991). Im Kontext der Ganztagsschule kann dies insbesondere für Jugendliche zu einem Handlungsdilemma führen: Während die Ganztagsschule ihnen große Selbstständigkeit zugesteht, indem sie nach Bedarf und Neigung die Freizeitangebote nutzen können, werden sie gleichzeitig mit einem Angebot konfrontiert, das institutionellen (Bildungs-) Interessen folgt. Dieses Dilemma zwischen Autonomie und Selektion stimmt bedenklich hinsichtlich einer jugendspezifischen Identitätsentwicklung, die Gefahr läuft, an emanzipatorischen Spielräumen zu verlieren und tendenziell stärker mit dem Leistungsprimat der Schule konfrontiert zu werden (Scherr 2004), was mit einem zunehmend institutionalisierten Freizeitalltag einhergeht (Hunner-Kreisel 2008).

Vor diesem Hintergrund zeigen die Befunde der DJI-Studie, dass die Freizeitangebote der Ganztagsschule von den Jugendlichen der Mittelschicht nicht als gleichberechtigte Freizeitaktivitäten neben den außerschulischen Hobbys anerkannt werden. Die erstaunliche Folge ist jedoch keine »Flucht« in informelle Freizeitkontexte, sondern eine Verdopplung von institutionellen Freizeitangeboten im Wochenalltag. Am Beispiel des Freizeitsports stellt sich dies folgendermaßen dar: Jugendliche Ganztagsschülerinnen und -schüler treiben offenbar trotz ihres verlängerten Schultags mit Freizeitangeboten etwa genauso viel Sport außerhalb der Schule wie ihre Altersgenossen an der Halbtagsschule. Zumindest zeigt die Online-Tagebucherhebung im Rahmen der DJI-Studie, dass die wöchentlichen Sportaktivitäten der untersuchten Jungen etwa zehn Stunden und die der Mädchen sechs bis sieben Stunden umfassen. Damit liegt der Umfang ihrer Freizeitsportaktivitäten im bundesweiten Durchschnitt (Wahler u. a. 2004). Das wirft die Frage auf, wie es jugendlichen Ganztagsschülerinnen und -schülern gelingt, das Freizeitprogramm neben dem Ganztagsschulbesuch zu bewältigen.


Schulsport, Squash und Spaß vereinen

Im Rahmen gelingender Vereinbarkeitsstrategien erfahren die Jugendlichen die schulische Freizeit als Fortsetzung außerschulischer Peer-Aktivitäten. Dabei kommt es zu einer Verschränkung schulischer und außerschulischer Freizeitaktivitäten, die im Alltag von Sebastian S. beispielweise folgendermaßen aussieht: Zunächst besucht der 16-Jährige am Montag zwei Stunden Sportunterricht, nach der Schule trainiert er dann im Verein Hockey. Mittwochs trifft er sich mit Freunden im Fitnessstudio der Schule. Am Freitag trainiert er abermals Hockey und spielt anschließend am Abend Basketball. »Das heißt, ich mach' eigentlich ziemlich viel«, sagt er selbst über sein umfangreiches Sportprogramm und fügt hinzu, dass er sich auch manchmal mit Schulfreunden zum Squash-Spielen außerhalb der Schule trifft. Indem Sebastian Freizeitsport mit Schulsport gleichsetzt, gelingt es ihm nicht nur, das Angebot der Ganztagsschule wie etwa den Sportunterricht zeitlich in seine Freizeitpraxis zu integrieren: »Ich verbind' das halt dann gleich mit viel Freizeit«. Darüber hinaus vereinbart er es auch räumlich und sozial mit den eigenen Interessen und Peer-Aktivitäten. Letzteres zeigt sich vor allem daran, dass er sich mit seinen Schulfreunden sowohl im Fitnessstudio der Schule als auch außerhalb der Schule zum Squash-Spielen trifft.

Im starken Kontrast zu dieser positiven Verbindung von Schul- und Freizeitsport steht die Wahrnehmung des 13-jährigen Richard H., der streng zwischen den Sphären Schule und Freizeit trennt. Seine Freunde leben in seinem Heimatort, nur einzelne besuchen dieselbe Schule wie er. Demnach beklagt er, dass er seit dem Besuch der Ganztagsschule »nicht mehr so viel Freizeit« hat, da er sich mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft nur noch abends für »eine Stunde oder eineinhalb treffen« kann. Die Organisation seiner Freizeit erlebt Richard somit als »viel stressiger«, weil er seine Zeit zwischen den Freunden in der Schule, im Verein und in der Nachbarschaft aufteilen muss. Mit diesem engen Konzept von Freizeiterleben, das auf sozialer und (wohn-)räumlicher Nähe basiert, scheint die Verschränkung schulischer und außerschulischer Freizeitaktivitäten nur im Ausnahmefall zu gelingen.


Hoher Anspruch an Schulen

Beide Fälle, die jeweils exemplarisch einen Typus der Vereinbarkeit zwischen Freizeit und Ganztagsschule dokumentieren, veranschaulichen, dass der Freizeitalltag Jugendlichen Kompetenzen selbstständiger Lebensführung abverlangt. Die Untersuchungsergebnisse deuten an, dass weniger die verlängerten Schulzeiten als belastend erlebt werden, sondern mehr noch die Koordination der außerschulischen Freizeitaktivitäten, die im Vereinsbereich nicht selten von den Eltern angeregt und unterstützt werden. Damit Freizeit nicht zum Stress wird, entwickeln die Ganztagsschülerinnen und -schüler Strategien, den Schul- und Freizeitkontext zu verknüpfen. Das Ganztagsangebot kann diese Verknüpfung erleichtern, allerdings nur, wenn es der Schule gelingt, sich auch als attraktiver Ort im Freizeitalltag der Jugendlichen zu etablieren. Dazu gehört insbesondere die Öffnung der Schule für Freunde und für die Freizeitpraxis ihrer Schülerinnen und Schüler.


Die Autorin Regina Soremski ist Soziologin und wissenschaftliche Referentin in der Abteilung »Familie und Familienpolitik« am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Familien- und Jugendforschung sowie Bildungs- und Migrationsforschung. Sie führte das Forschungsprojekt »Bildungsprozesse zwischen Familie und Ganztagsschule«, das zwischen April 2008 und Juni 2010 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde, gemeinsam mit dem Grundsatzreferenten der Abteilung, Prof. Dr. Andreas Lange, durch.
Kontakt: Soremski@dji.de


Literatur

Büchner, Peter / Koch, Katja (2001): Von der Grundschule in die Sekundarstufe. Band 1. Opladen

Coelen, Thomas / Otto, Hans-Uwe (2008): Zur Grundlegung eines neuen Bildungsverständnisses. In: Dies. (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden, S. 17-25

Hunner-Kreisel, Christine (2008): Jugendliche. In: Thomas Coelen / Hans-Uwe Otto (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden, S. 40-48

Lareau, Annette (2003): Unequal childhoods. Class, race and family life. Berkley / Los Angeles

Scherr, Albert (2004): Jugendsoziologische und jugendpädagogische Aspekte schulischer Ganztagsangebote. Folgen und Nebenwirkungen einer veränderten Bildungslandschaft. In: Neue Praxis, Heft 6, S. 550-557

Schröer, Wolfgang / Böhnisch, Lothar (2006): Die Entgrenzung der Jugend und die sozialbiografische Bedeutung des Junge-Erwachsenen-Alters. In: Tully, Claus J. (Hrsg.): Lernen in flexibilisierten Welten. Wie sich das Lernen der Jugend verändert. Weinheim/München, S. 41-57

Voß, G. Günther (1991): Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft. Stuttgart

Wahler, Peter u. a. (2004): Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung. Wiesbaden


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2010, Heft 91, S. 14-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2010