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SCHULE/638: Ein bisschen Aufbruch (DJI)


DJI Bulletin 3/2010, Heft 91
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Ein bisschen Aufbruch

Von Heinz-Jürgen Stolz


Deutsche Städte und Gemeinden sollen lokale Netzwerke aufbauen, um die Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder zu verbessern. Ganztagsschulen spielen dabei eine zentrale Rolle. Doch werden die Sorgen der lokalen Akteure auf Bundes- und Landesebene nicht gehört, bleiben die geplanten Reformen im Ansatz stecken.


Die Bildungschancen sind in Deutschland höchst ungleich verteilt. Erneut belegte dies im Juni 2010 der nationale Schultest, der nach dem Willen der Kultusministerkonferenz (KMK) künftig das bundesweite Pisa-Ranking ablösen soll. Die Aussicht eines Kindes, ein Gymnasium zu besuchen, hängt demnach noch immer sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Selbst bei gleichen Deutsch-Leseleistungen ist die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, für Arbeiterkinder 4,5 mal geringer als für Akademikerkinder.

Als Ansatzpunkt zur Schaffung von mehr Bildungsgerechtigkeit gilt hierzulande seit einigen Jahren die systematisch vernetzte und konsensuelle Ausgestaltung des »Gesamtzusammenhangs von Bildung, Erziehung und Betreuung« auf lokaler und regionaler Ebene (JMK/KMK 2004). Mit der »Aachener Erklärung« des Deutschen Städtetags (DST 2007) erhielt diese fachpolitische Perspektive einen entscheidenden Auftrieb. Die kommunalen Spitzenverbände erklärten in der Folgezeit, dass Landkreise, Städte und Gemeinden ihre Bildungsverantwortung wahrnehmen werden, ohne dies von bereitgestellten Finanzmitteln der Bundesländer abhängig zu machen. Warum dieses Unterfangen im lokalen Kontext aber besser gelingen sollte als auf Länder- und Bundesebene, war zunächst nicht unmittelbar einsichtig. Dabei stellen sich folgende zentrale Fragen: Inwieweit wird auf lokaler Ebene bereits das Ziel verfolgt, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen? Lässt sich innerhalb einer Gemeinde oder eines Stadtteils überhaupt ein Konsens aller betroffenen Akteure herstellen? Wenn ja, wie tragfähig erweist er sich? Und wie verbindet sich die Ganztagsschulentwicklung mit dem Aufbau von sogenannten lokalen Bildungslandschaften, die gewährleisten sollen, dass die vorhandenen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebote auf die konkreten Lebenslagen der Bevölkerung zugeschnitten sind?

Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigte sich das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in den vergangenen drei Jahren im Rahmen zweier im Verbund organisierter Forschungsprojekte, die sich mit der Kooperation von Ganztagsschulen und Jugendhilfe in lokalen Bildungslandschaften auseinandersetzten. Dabei wurden Fallstudien in bundesweit sechs Modellregionen durchgeführt, die in einem strukturierten Auswahlprozess ermittelt wurden. Lokale Entscheidungsträger wurden zu zwei Erhebungszeitpunkten befragt; insgesamt fanden 140 Interviews statt und ergänzend wurde eine Vielzahl von Dokumenten - vor allem Planungsunterlagen und Sitzungsprotokolle - analysiert.


Der Bedarf an Ganztagsschulen ist unumstritten

Die Ergebnisse der beiden Untersuchungen zeigen, dass es in den Modellregionen durchaus zu einem tragfähigen fachpolitischen Konsens im Hinblick auf die systembezogene Vernetzung von Schule und Partnern kommt, allerdings hängt die Verständigung stark von den zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Auch erste Ansätze einer integrierten Fachplanung lassen sich erkennen, welche die Schulentwicklungsplanung mit der Jugendhilfe-, Sozial- und Raumplanung verzahnen soll, um lokale Bildungslandschaften aufzubauen. Grundsätzlich halten die Akteure ein Bildungsnetzwerk mit den Kerninstitutionen Jugendhilfe und Schule ebenso für notwendig wie ein lokales Bildungsmanagement, das öffentlich verantwortet ist. Der Etablierung einer partizipativ orientierten Aushandlungs- und Beteiligungskultur (»Local Governance«) wird dabei eine hohe Bedeutung beigemessen. Um diesen partizipativen Ansatz erfolgreich umsetzen zu können, braucht es aus Sicht vieler befragter Akteure aber vor allem selbstständige Schulen, die zum einen über erweiterte Handlungsspielräume gegenüber Schulaufsichtsbehörden und Schulträgern verfügen sollten und zum anderen von einer kommunalen Schulträgerschaft unterstützt werden, die sich auch für pädagogische Angelegenheiten zuständig betrachtet.

Ein wichtiger Anspruch der untersuchten Regionen ist die Schaffung bruchloser Übergänge im Bildungssystem, vor allem an den Schnittstellen zwischen Kindertagesstätten und Grundschule sowie zwischen Schule und Beruf. Als zentraler Querschnittsaspekt gilt stets das Ziel, mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem herzustellen. Die Umwandlung des Halbtagsschulsystems hin zu einem Ganztagsschulsystem erscheint den meisten Beteiligten in den untersuchten Modellregionen als alternativlos. Sehr rege wird dort allerdings über konkrete Gestaltungsfragen diskutiert. In der Kritik stehen bei den Befragten vor allem die übergeordneten bundes- und landespolitischen Entscheidungsebenen. Die häufigsten Kritikpunkte sind, dass diese zum einen nicht für eine ausreichende personelle Ressourcenausstattung für Ganztagsschulen (Lehr- und Fachkräfte) sorgen und zum anderen die auf lokaler Ebene für notwendig erachteten ordnungspolitischen Reformen nicht angehen. Als längst überfällige Reformen gelten beispielsweise die Schaffung von auf den schulpädagogischen Bereich erweiterten kommunalen Zuständigkeiten sowie die Revision des in der Föderalismusreform festgeschriebenen bildungspolitischen Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern.


Impulse für pädagogische Innovationen fehlen

Zwar stimmen die meisten Befragten den im Fachdiskurs formulierten Grundorientierungen (BMFSFJ 2005) zu, die beispielsweise eine konsequent beteiligungsorientierte und bürgernahe Planung sowie eine institutions- und einrichtungsübergreifende Zusammenarbeit von Lehr- und Fachkräften in »multiprofessionellen Teams« beinhalten. Die Umsetzung gelingt aber oftmals nicht in vollem Umfang. So bleibt insbesondere die direkte Mitsprache von Kindern, Jugendlichen und Eltern bei Planungsvorhaben immer noch selten. Entgegen der eigenen Wahrnehmung der lokalen Akteure dominiert - objektiv betrachtet - in den Regionen zumeist die »schulzentrierte« Gestaltungsvariante des Aufbaus von Bildungslandschaften, bei der die Einzelschule als Spinne im Netz agiert, um die sich alle anderen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebote gruppieren. Die »kooperationsorientierte« Umgestaltung des gesamten lokalen Raums zu einem Netz miteinander verknüpfter Lernorte und Lernumgebungen (Stolz 2006) wird hingegen nur in Ansätzen verfolgt.

Auch im Hinblick auf Ganztagsschule und Ganztagsbildung ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch groß. Zwar waren die Anstrengungen der Modellregionen in den vergangenen Jahren erfolgreich, Ganztagsangebote flächendeckend auszubauen. Die Qualitätsentwicklung wurde dabei allerdings häufig vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit beginnt eine der Regionen mit dem Aufbau eines lokalen Qualitätszirkels, um (Mindest-)Standards für die Bereitstellung von Ganztagsangeboten zu erarbeiten.

Zudem ist derzeit nicht erkennbar, dass von den neu gegründeten Netzwerken ein deutlicher Impuls für notwendige pädagogische Innovationen ausgeht: Weder arbeiten die Lehrkräfte im Ganztag verstärkt mit anderen Professionen wie etwa sozial-, jugend- und freizeitpädagogischen Fachkräften zusammen, noch entwickeln sich aus der lokalen Vernetzung anspruchsvolle gemeinsame pädagogische Konzepte. Ursprünglich hatte die Bundesregierung diese zur Bedingung für die Gewährung von Fördermitteln gemacht. Nach dem infrastrukturellen Ausbau der Ganztagsschulen sollte deshalb künftig deren Qualitätsentwicklung stärker ins Blickfeld rücken.


Die Demokratisierung der Bildung gerät ins Stocken

Die Untersuchungen des DJI zeigen, dass die Akteure vor Ort derzeit - modellregionsübergreifend - an institutionelle und systembezogene Grenzen ihrer Bemühungen zum Aufbau lokaler Bildungslandschaften stoßen. Auf landes- und bundespolitischer Ebene gilt es deshalb zu diskutieren, wie die personellen und finanziellen Ressourcen verbessert werden können, wie die Zuständigkeiten in der Bildungspolitik gegebenenfalls angepasst und die Bemühungen um mehr Schulautonomie konsequenter unterstützt werden können. Denn fest steht: Sollten sich die Zweifel unter den lokalen Akteuren erhärten, dass die Ziele unter den bestehenden Bedingungen überhaupt erreichbar sind, ist langfristig mit einem starken Motivationseinbruch zu rechnen. Die Konsequenz wäre, dass die Gestaltungsperspektive, »Bildungslandschaften von unten zu denken« (Reutlinger 2009), fachpolitisch gezwungenermaßen aufgegeben werden müsste. Auf Basis der vorliegenden Forschungsergebnisse lässt sich jedenfalls festhalten, dass lokale Bildungslandschaften sich derzeit noch nicht in einem theoretisch wie empirisch anspruchsvollen Sinne als »Beteiligungslandschaften« qualifizieren lassen, in denen auch Kindern, Jugendlichen und Eltern eine verstärkte Mitsprache in der Schule und auch bei kommunalen Planungsprozessen ermöglicht wird.


Der Autor Dr. Heinz-Jürgen Stolz leitet seit kurzem die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik am Deutschen Jugendinstitut (DJI) und unterstützt dabei geschäftsführend das Bundesjugendkuratorium. Zuvor betreute der Soziologe die beiden im Verbund durchgeführten Forschungsprojekte mit den Titeln

»Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe« und »Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Jugendhilfe und Schule«. Erstgenanntes Projekt wurde zwischen Februar 2007 und April 2010 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Letzteres startete das DJI im Juli 2008 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Es wird voraussichtlich im Dezember 2010 abgeschlossen.
Kontakt: stolz@dji.de


Literatur

BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2005): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin

Coelen, Thomas / Otto, Hans-Uwe (Hrsg.; 2008): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden

Deutscher Städtetag (2007): Aachener Erklärung des Deutschen Städtetages anlässlich des Kongresses »Bildung in der Stadt«.
http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/veranstalt/2007/58.pdf
(02.09.2009)

Jugend- und Kultusministerkonferenz (2004): Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe zur »Stärkung und Weiterentwicklung des Gesamtzusammenhangs von Bildung, Erziehung und Betreuung«.
http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/ 2004/2004_06_04_Zusammenarbeit_Schule_Jugendhilfe.pdf
(26.07.2010)

Reutlinger, Christian (2009): Bildungslandschaften raumtheoretisch betrachtet.
http://www.sozialraum.eu/bildungslandschaften-raumtheoretisch-betrachtet.php
(26.08.2010)

Stolz, Heinz-Jürgen (2006): Dezentrierte Ganztagsbildung. Diskurskritische Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte. In: Otto, Hans-Uwe / Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Zeitgemäße Bildung. Herausforderungen für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. München, S. 114-130


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2010, Heft 91, S. 8-10
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2010