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SCHULE/623: Organisierte Armut - soziale Ausgrenzung im gegliederten Schulsystem (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 128/Juni 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Organisierte Armut

Soziale Ausgrenzung im gegliederten Schulsystem

Von Lisa Pfahl


Kurzgefasst: Eine wachsende Zahl armer und behinderter Kinder und Jugendlicher wird im deutschen Bildungswesen nicht gemeinsam mit Gleichaltrigen an Regelschulen, sondern in Sonderschulen unterrichtet. Die meisten von ihnen verlassen die Sonderschule als junge Erwachsene ohne qualifizierenden Abschluss. Deshalb haben ehemalige Sonderschüler nur wenig Chancen, durch Arbeit an der Gesellschaft teilzuhaben. Das Problem, dass behinderte Schüler geringere Bildungschancen besitzen und wegen fehlender Abschlüsse ein hohes Verarmungsrisiko laufen, wird erzeugt durch das gegliederte Schulwesen.


Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind arm. Sie leben in Familien, die nur wenig Geld zum Leben haben - meist wegen Arbeitslosigkeit. In der sozialpolitischen Diskussion über den Kampf gegen Armut von Kindern und Jugendlichen wird oft vergessen, dass das Bildungssystem dabei eine zentrale Rolle spielt. Armut und Bildung stehen in einem gleich doppelten Zusammenhang: Arme Kinder und Jugendliche haben geringere Bildungschancen - und fehlende Bildungsabschlüsse bergen im Lauf des Lebens ein großes Armutsrisiko. Am wenigsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt und das höchste Armutsrisiko haben Kinder und Jugendliche, die früh aus dem allgemein bildenden Schulsystem genommen werden und in Schulen gedrängt werden, die geringwertige Schulabschlüsse vergeben, wie Sonderschulen.

Ein Blick in die Geschichte der Sonderschule, die vor über einem Jahrhundert als "Hilfsschule" gegründet wurde, zeigt, wie aus einer Idee, die als individuelle Unterstützung gemeint war, heute eine Praxis der Aussonderung erwachsen ist, die vielen jungen Menschen dauerhaft Teilhabe- und Lebenschancen nimmt.

Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurden in Deutschland eigene Schultypen für die verschiedenen Stände etabliert. Nach Gymnasien, Wirtschaftsschulen und Volksschulen entstand um 1900 eine weitere Schulform für all jene Schülerinnen und Schüler, die von der allgemeinen Schulpflicht durch Krankheit, Obdachlosigkeit oder Behinderungen noch nicht erfasst wurden. Während es zunächst Hilfsklassen gab, entwickelten sich nach und nach flächendeckend Hilfsschulen. Die damalige Idee der Sonderpädagogik war inklusiv motiviert: Kinder mit Behinderungen sollten am Bildungswesen teilnehmen. Ihre Schulen sollten "Schonräume" sein, sichere Orte für benachteiligte und behinderte Menschen.

Historische Texte aus der Anfangszeit der Hilfsschule als eigenständige Institution zeugen davon, dass soziale Ursachen von Armut mit medizinischen Begründungen für Schulversagen vermischt werden - ohne dass das eine als Ursache des anderen benannt wird oder die Wechselwirkungen deutlich gemacht werden. Die Schaffung einer separaten Institution wird damit begründet, dass so die Volksschulen entlastet werden. So heißt es beispielsweise 1908 in einer Schrift über die Hilfsschule: "Für die Volksschule bedeutet die Hilfsschule Befreiung von schwachbegabten Schülern, die den Unterrichtsfortschritt hemmen und die Stimmung herabdrücken." Doch die Hilfsschulen sollten die Schülerinnen und Schüler auch von Armutskrankheiten heilen. Auf die sozialen Probleme einzuwirken und die Lebensumstände sogenannter Sorgenkinder zu verbessern, hatte bei der Einführung der Hilfsschule eine große Bedeutung.

Seitdem beruht die Sonderpädagogik auf der Beobachtung, Beschreibung und Aussonderung von Schülerinnen und Schülern. Sie zielt darauf ab, arme und kranke Kinder und Jugendliche, die im Unterricht auffallen, in ihrer "andersartigen" und unterlegenen sozialen Position wissenschaftlich zu untersuchen, zu schützen und zu verstehen: "Die Schule [...] hat es mit Lernprozessen und dem daraus resultierenden Ergebnis der Leistung und des Verhaltens zu tun. Sonderpädagogik als spezielle Disziplin interessiert sich in diesem Zusammenhang für auftretende Lern- und Leistungsauffälligkeiten bzw. Störungen im Werdeprozess des Menschen und deren Behebbarkeit. Ansatzpunkt der Sondererziehung ist das zu erwartende oder bereits eingetretene Lern- und Leistungsversagen", formulierte es der Bildungsrat 1973.

Der Mainstream der Sonderpädagogik versteht sich damals wie heute als Fürsprecher von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Benachteiligungen. Die Tatsache, dass die Segregation die Schülerinnen und Schüler in ihren Bildungs- und Lebenschancen im Vergleich zu Gleichaltrigen benachteiligt, wird von den Experten zwar erkannt - grundlegend in Frage gestellt wurde die Praxis schulischer Aussonderung durch den Berufsverband der Sonderpädagogik deshalb aber noch nicht.

Die aktuellen Zahlen zeigen, dass heute der Schonraum zu einem Abschieberaum geworden ist. Circa 500.000 Kindern und Jugendlichen wird heute ein "sonderpädagogischer Förderbedarf" attestiert. Bei den meisten dieser "schulisch behinderten" Kinder und Jugendlichen werden Lernbehinderungen diagnostiziert, beispielsweise Konzentrationsstörungen, Lern- und Leistungsrückstände oder eine verzögerte Sprachentwicklung. Hinter dieser Diagnose verschwindet die von den Kindern unverschuldete sozioökonomische Benachteiligung: Denn ein Großteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen für Lernbehinderte stammen aus armen Familien. Die Mehrheit ihrer Eltern ist arbeitslos oder geht einfachen Tätigkeiten in geringfügiger Beschäftigung nach. Überdurchschnittlich häufig sind die Schüler dabei nichtdeutscher Herkunft. An Stelle dieses Blicks auf die soziale Lage der Kinder tritt jedoch verstärkt die Zuschreibung individueller Defizite, die die kognitive und biologische Konstitution der Kinder erfasst.

An den Feststellungsverfahren und Schulüberweisungen beteiligte Fachleute wie Lehrer, Schulpsychologen und Sonderpädagogen stellen den Kindern (und ihren Eltern) dabei bis heute eine "individuelle Förderung" in Aussicht. Die Realität sieht jedoch anders aus. Der Sonderschulbesuch führt in der Regel nicht zu einem Schulabschluss: 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen die Sonderschule ohne einen qualifizierenden Abschluss, und entsprechend wechseln die allermeisten anschließend in einer Reihe von nicht qualifizierenden Maßnahmen anstatt in eine Berufsausbildung oder in Arbeit.

Große Teile der Schülerschaft bleiben von Bildungs- und Berufswegen ausgeschlossen. Durch ihre häufige Ausbildungslosigkeit sind sie im besten Fall auf Erwerbstätigkeiten festgelegt, die mit erhöhten Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiken verbunden sind. Doch gerade der Wettbewerb um gering qualifizierte Arbeit ist besonders hart. Ungelernte sind ungefähr doppelt so häufig vom Erwerbsleben ausgeschlossen wie der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Zudem sind sie häufiger von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen und finden häufig keine existenzsichernde Beschäftigung.

Die folgenschwere schulische Aussonderung stößt zunehmend auch auf internationale Kritik. Der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Bildung, Vernor Muñoz, kritisierte im Jahr 2007 das deutsche Sonderschulwesen scharf. Dieses verletze das Menschenrecht auf Bildung. Alle Kinder und Jugendlichen müssten gleichermaßen die Chance auf einen Schulabschluss bekommen. Der UN-Bildungsbericht bemängelte zudem, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und Benachteiligungen würden in Deutschland durch den Besuch von Sonderschulen stigmatisiert. Dies verweigere ihnen wichtige Bildungserfahrungen, die in einem inklusiven Bildungswesen für alle zugänglich sind.

Auch die 2009 von der Bundesregierung ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention schreibt in Artikel 24 fest, dass das Recht auf Bildung und Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen erst durch ein inklusives Schul- und Bildungswesen gewährleistet ist. Die Unterzeichnerstaaten haben sich verpflichtet, eine entsprechende Bildungspolitik unabhängig von der Kostenfrage zu betreiben.

Die Idee, Kinder und Jugendliche nach gesundheits- und armutsbedingten Lernrückständen getrennt in einem gegliederten System zur Schule zu schicken, steht aktuell in einigen Bundesländern zur Diskussion. Einige Kultusminister behaupten, Menschen mit Behinderungen könnten durch die Sonderschulen bereits an der Gesellschaft teilhaben. In einigen Bundesländern werden Gesetzentwürfe diskutiert, nach denen Schulen, in denen alle Kinder und Jugendlichen einer Nachbarschaft gemeinsam lernen, bislang verengt als bildungspolitische "Option" verstanden werden und nicht als das, was eigentlich benötigt würde: ein flächendeckendes, obligatorisch inklusives Bildungswesen als wichtiger Bestandteil demokratischer Sozialpolitik.

Viele andere europäische Länder vermeiden frühe Ausleseprozesse oder fördern gesundheitlich, sozial oder wirtschaftlich benachteiligte Schülerinnen und Schüler an ihrer Regelschule aktiv. Eine Bekämpfung von Bildungsarmut durch die Auflösung von Sonderschulen und die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler in einem egalitären Bildungswesen stärkt die gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen. So können sie als Erwachsene Demokratie mitgestalten und ihrer sozialen Ausgrenzung besser entgegenwirken - auch wenn ihre Ausgangspositionen nicht die gleichen waren.


Lisa Pfahl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Ihr Forschungsinteresse gilt in erster Linie Fragen der sozialen Ungleichheit, der Bildungssoziologie, den Gender und Disability Studies sowie der Hermeneutik und Wissenssoziologie.
pfahl@wzb.eu

Literatur

Dagmar Hänsel, Hans J. Schwager, Die Sonderschule als Armenschule. Vom gemeinsamen Unterricht zur Sondererziehung nach Braunschweiger Muster, Bern: Peter Lang Verlag 2004, 330 S.

Kultusministerkonferenz, Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1997 bis 2006, Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Dokumentation Nr. 185, April 2008, Bonn: Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2008, 127 S.

Lisa Pfahl, Techniken der Behinderung. Der Lernbehinderungsdiskurs, die deutsche Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiographien, Bielefeld: transcript Verlag 2010 (im Erscheinen)

Lisa Pfahl, Justin J.W. Powell, (2009) "Menschenrechtsverletzung im deutschen

Schulsystem: behindert werden durch Sonderbeschulung", in: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr (Hg.), Grundrechtereport. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2009, S. 95-99


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 128, Juni 2010, Seite 11-13
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2010