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SCHULE/614: Hamburg - Eltern & Kinder unter Druck (Sozialismus)


Sozialismus Heft 3/2010

Eltern & Kinder unter Druck
185.000 Stimmen gegen Schulreform in Hamburg - woher kommen die?

Von Klaus Bullan


185.000 Hamburger Bürgerinnen und Bürger haben sich in einem Volksbegehren unter dem Slogan "Wir wollen lernen" gegen die Schulreform der schwarz-grünen Regierung ausgesprochen, die die Verlängerung des gemeinsamen Lernens in der Grundschule von vier auf sechs Jahre zum zentralen Inhalt hat.

Insbesondere unter den Eltern war die Ablehnung groß. Auch wenn die Aktivisten des Volksbegehrens aus den gut betuchten Elbvororten kommen und es im Kern darum geht: "Wir wollen unter uns bleiben beim Lernen", so ist die hohe Zustimmungsrate als "politischer Paukenschlag" (Ole von Beust) wahrgenommen worden. In der Tat kommen die Gegner der Reform aus allen politischen Lagern. Selbst unter linken und grünen Eltern stößt die Schulreform auf Widerstand, auch wenn die meisten Gegner aus dem Umfeld der CDU und der FDP kommen. Vor allem die Verlängerung der Grundschule um zwei Jahre und damit die Verkürzung der Gymnasialzeit sowie das Verfahren des Übergangs auf das Gymnasium nach Klasse 6 nach Schulentscheidung (Abschaffung des Elternwahlrechts) stehen im Fokus der Kritik.

Die bei der schwarz-grünen Schulreform vorgesehene Abschaffung des Elternwahlrechts, also der Möglichkeit, die Kinder auch gegen die Schulempfehlung auf eine "höhere Schule" zu schicken, hat auch bei Unterschichtseltern Skepsis ausgelöst, zeigen doch empirische Untersuchungen, dass gerade Eltern aus bildungsfernen sozialen Milieus ihre Kinder überproportional häufig gegen die Empfehlung der LehrerInnen aufs Gymnasium schicken - und das mit Recht, versuchen sie doch damit die Benachteiligung ihrer Kinder zu kompensieren.

Die schwarz-grüne Koalition hat ihre Schulreform deshalb nachbessern müssen, um nicht Gefahr zu laufen, beim im Sommer 2010 anstehenden Volksentscheid gegen die Verteidiger der Bildungsprivilegien vor allem aus den besserverdienenden sozialen Schichten zu unterliegen.

Angesichts der hohen Bedeutung, der Fragen der Schule und Bildung in Deutschland gegenwärtig zukommt, starren alle politisch Verantwortlichen auf Hamburg. Zu groß scheint vielen politischen Protagonisten das Risiko, mit Schulstrukturreformen Teile ihrer Anhängerschaft zu verprellen. Selbst kleine Schritte hin zu längerem gemeinsamem Lernen wie in Hamburg, stehen unter dem Verdacht der Gleichmacherei, der Leistungsfeindlichkeit und der Verschlechterung der Konkurrenzbedingungen des eigenen Kindes im Kampf um Studienplätze und Berufschancen. "Angriff auf die Bildungsbürger" lautet die Überschrift über einem entsprechenden Artikel in der WELT vom 14.11.2009.

Insofern geht es in Hamburg aber auch um mehr als die Verlängerung der Phase des gemeinsamen Lernens, nämlich um die Reformfähigkeit von Schule und Gesellschaft. Gelingt es in dieser schwierigen Krisenkonstellation noch gesellschaftliche Mehrheiten für eine Modernisierung etwa der Bildungs-, Integrations- oder auch der Umweltpolitik zu organisieren, oder behalten die Verteidiger des status quo mit seiner extremen sozialen Polarisierung die Oberhand - mit der Gefahr, dass die gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen zunehmen und rechtspopulistische Diskurse befördert werden?


"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"

"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern", zu denen heute in den Augen vieler Kinder aus einkommensschwachen Familien, Hartz IV-EmpfängerInnen und MigrantInnenkinder gehören, ist das Credo von Teilen der Elternschaft. Die Angst ist groß, dass die Heterogenität in den Schulklassen zu Leistungseinbußen führt. Zwangsweise dazu verurteilt zu sein, mit Kindern aus Unterschichten oder ausländischen Kindern gemeinsam in einer Klasse lernen zu müssen, mit Kindern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind und so das Lernniveau der gesamten Lerngruppe drücken und das Lerntempo reduzieren, was dann zulasten der eigenen Kinder, der schnellen und intelligenteren Lerner geht, ist eine Horrorvorstellung für viele Eltern. Verweise auf wissenschaftliche Untersuchungen aus dem In- und Ausland, dass heterogene Lerngruppen weder zu einer Reduzierung des Gesamtniveaus noch zu einer Ausbremsung der besonders leistungsfähigen Schülerinnen führt, überzeugen viele Eltern nicht.

In der Tat ist die Erkenntnis heute verbreitet, dass die Bildung der Kinder eine immer größere Bedeutung im Kampf um den zukünftigen Platz in der Gesellschaft einnimmt. Konkurrenz unter Kindern bereits im Kindergartenalter, Verunsicherung über die Perspektive der eigenen Kinder bei Eltern, die selbst unter dem Motto: "Du sollst es einmal besser haben als wir" aufgewachsen sind und heute wissen, dass dieses Ziel für ihre Kinder kaum mehr erreichbar ist, sind Gründe, dass Eltern heute vielfältig unter Druck stehen. Hinzu kommt, dass staatliches Handeln im Bildungsbereich und in der Familienpolitik sich nur geringer Beliebtheit erfreut. Häufig empfinden Eltern Gesellschaft und Politik als wenig familienfreundlich. Misstrauen gegenüber staatlichem Handeln ist gerade auch in der Bildungspolitik weit verbreitet. Ein chaotischer Flickenteppich von Schulstrukturen in den 16 Bundesländern, der nicht nach den Bedürfnissen der SchülerInnen und Eltern, sondern nach den föderalen Egoismen der Kultusministerien organisiert ist, eine Unterausstattung in Kitas, Schulen und Hochschulen mit finanziellen Ressourcen - auch im internationalen Vergleich -, die soziale Selektivität im Bildungswesen und die deutlichen Qualitätsmängel in vielen Bereichen sind der Nährboden für dieses Misstrauen.

In dieser Situation greifen selbst Teile der politisch Verantwortlichen aus bürgerlichen Kreisen, wie Unionspolitiker etwa aus Hamburg, aber auch Handwerkskammerfunktionäre und Unternehmer die Schulstrukturfrage auf und erkennen, dass das vielfach gegliederte Schulsystem, das im 19. Jahrhundert der Ständegesellschaft geschaffen wurde, nicht mehr angemessen für die Probleme heute ist.

Die soziale Selektivität des gegliederten Schulwesens hat verheerende Folgen für die gesamte Gesellschaft. Milliarden Euro werden Jahr für Jahr in ein Schulsystem gepumpt, um die gravierendsten Misserfolge der Schule zu kompensieren. Fast 10% der SchülerInnen verlassen Jahr für Jahr die Schulen ohne einen Abschluss, die Risikogruppe derjenigen, die nach neun bis zehn Schuljahren allenfalls Grundschulniveau erreicht, ist in Deutschland exorbitant hoch und liegt in vielen Großstädten bereits bei über 25%. Jeder vierte Schüler muss ein Schuljahr wiederholen im Laufe seiner Schullaufbahn, Hunderttausende durchlaufen Jahr für Jahr Warteschleifen von Berufsvorbereitungsmaßnahmen, weil für sie keine Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen.

Auf der anderen Seite fehlen schon jetzt Hochschulabsolventen, können die aus Altersgründen ausscheidenden Ingenieure und LehrerInnen nicht durch ausgebildete Nachwuchskräfte ersetzt werden. Die Erkenntnis, dass Deutschland es sich nicht leisten kann, auf die Potenziale der MigrantInnenkinder und der Kinder aus Nichtakademikerfamilien zu verzichten, ist inzwischen weit verbreitet. Wenn bereits 83% aller AkademikerInnenkinder studieren, aber weniger als 23% der Kinder von NichtakademikerInnen, ist klar, wo die Reserven liegen, die durch das gegliederte Schulwesen und die frühe Trennung bisher von guter Bildung ferngehalten werden. Das haben auch bürgerliche Kräfte längst erkannt.

Die Notwendigkeit grundlegender Reformen dieses Systems konkurriert mit dem Beharren auf überkommenen Strukturen, eine Auseinandersetzung, die für Teile der beteiligten Eltern und Verbandsvertreter - etwa der Philologen - mit dem Ziel des Erhalts von Privilegien für ihre Klientel geführt wird, aber auch weit darüber hinaus geht, indem auch alle verunsicherten Eltern einbezogen sind. Der Druck, der auf den Eltern lastet, die Verunsicherung über die Zukunft ihrer Kinder, die berechtigte Kritik an der Bildungs- und Familienpolitik der Regierungen und die generelle Skepsis gegenüber Reformen/Veränderungen sind der Nährboden für diejenigen, die unter dem Motto: "Wir wollen lernen" im Kern Abgrenzung und Ausgrenzung verfolgen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat bei Sinus-Sociovision eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit den Selbstverständnissen, den Befindlichkeiten und Bedürfnissen von Eltern in verschiedenen Lebenswelten auseinandersetzt. Die Ergebnisse, die 2008 unter dem Titel "Eltern unter Druck" vorgelegt wurden, sind bemerkenswert.(1)


Eltern unter Druck

"Enge Bindungen und langfristiger Zusammenhalt wie in der klassischen Familie passen zunehmend weniger in Wirtschaft und Gesellschaft, die von Kurzfristigkeit und Flexibilität geprägt sind. Die moderne Arbeitswelt fordert den möglichst uneingeschränkt mobilen und verfügbaren Menschen. Idealerweise sind dies Menschen ohne familiale Bindungen, die sich schnell an veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen anpassen können. Bereits in der Schule werden heute Flexibilität und Kreativität propagiert." /3/

Dies beeinträchtigt das Leben von Familien in vielfältiger Weise. Zum einen sind die Ansprüche fast aller Eltern, was die aktive Beteiligung am Familienleben, an Kinderbetreuung und -erziehung betrifft, gewachsen. Zum anderen setzt die Arbeitswelt für immer mehr Eltern dieser Beteiligung immer engere Grenzen. Dies gilt keineswegs mehr nur für Menschen in akademischen Berufen, die z.B. oft auf Dienstreisen sind, sondern z.B. auch für meist weibliche Beschäftigte etwa im Einzelhandel, die oft erst nach 20 Uhr nach Hause kommen.

"De facto führt Elternschaft am Arbeitsplatz zur Schwächung der zugeschriebenen Kompetenz, der übertragenen Verantwortlichkeiten und der Aufstiegschancen in Unternehmen. Die Gesellschaft erwartet, dass Eltern viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, doch die Arbeitswelt vollzieht einen Totalzugriff auf die Eltern, vor allem auf die Väter." /16/

Dies führt zu einer Retraditionalisierung partnerschaftlicher Rollenverteilung in der Familie. Mangelnde Vereinbarkeit von anspruchsvollem Beruf und Familie, von Leitungsfunktion und Teilzeitarbeit bzw. Job-Sharing-Modellen oder schlicht die Einkommensdifferenz zwischen Männern und Frauen führen oft dazu, dass der Mann für das Einkommen, die Frau - zumindest phasenweise - für die Kinderbetreuung zuständig wird.

Kinder und Familie bedeuten für viele Menschen, auch materielle Einschränkungen in zum Teil erheblichem Ausmaß in Kauf zu nehmen. Finanziellen Leistungen an Familien kommt bei allen Eltern eine hohe Bedeutung zu, allerdings werden Kinder- und Elterngeld generell als unzureichend angesehen. Für viele Familien ist "Elternschaft häufig ein echtes Armutsrisiko". /232/ 2,6 Mio. Kinder leben heute in relativer Armut. /vgl. 22/

Aber auch für die Mittelschichten sind Kinder oft ein materielles Problem: "Gerade in der bürgerlichen Mitte existieren massive Ängste vor dem Verlust des Status quo und werden die finanziellen Voraussetzungen für Elternschaft als immer schwieriger erlebt, so dass Eltern dieser Milieus oftmals nur noch in ein Kind 'investieren'." /232/

Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder werden von vielen Eltern als unzureichend betrachtet. Es gibt zu wenig Krippenplätze für unter 3-Jährige, zu wenig Ganztagskitaplätze und zu wenig Ganztagsschulen. Wenn solche Plätze vorhanden sind, sind sie oft in den Öffnungszeiten (morgens und abends) zu wenig auf die Bedürfnisse der berufstätigen Eltern abgestimmt.

Einer forsa-Umfrage aus 2009 zufolge halten 57% der Eltern mehr Ganztagsschulen für dringend nötig, meinen jeweils mehr als Dreiviertel aller Eltern, dass die Politik eine bessere Förderung der Familie durch finanzielle Entlastungen und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Vorrang behandeln solle. Von der "Betreuungsoffensive" des Familienministeriums hatten 72% "50 gut wie gar nichts" gemerkt.(2)

Den erschwerenden Rahmenbedingungen für das Leben in der Familie stehen massiv gestiegene eigene und gesellschaftliche Erwartungen gegenüber, die den Druck auf Eltern verstärken. "Nahezu allen Eltern ist heute die Bedeutung von Bildung und Schule als die zentrale Zuweisungsstelle von sozialen Lebenschancen präsent." /13/

Auf die Frage, wie wichtig ihnen persönlich der Schulabschluss ihres Kindes ist, antworten Dreiviertel der Eltern mit "sehr wichtig", weitere 22% mit "eher wichtig". Demgegenüber ist das Vertrauen in das öffentliche Schulwesen gering, was zur Folge hat, dass die Hinwendung zu Privatschulen für die, die es sich leisten können, zunimmt und die eigene Anstrengung, Bildung entweder selbst in die Hand zu nehmen oder hinzuzukaufen, enorm groß ist. 40% der Eltern betätigen sich regelmäßig oder häufig als Hilfslehrer bei den täglichen Hausaufgaben.

"Dominant ist längst nicht mehr nur in gehobenen Kreisen, sondern v.a. in der Mittelschicht der Druck, das eigene Kind noch mehr zu fördern: Privaten Zusatzunterricht bekommen Kinder längst nicht mehr erst ab der weiterführenden Schule bei der Diagnose schlechter Noten. Schon in der Grundschule unternehmen Eltern enorme Anstrengungen und investieren viel Geld in private Anbieter - ohne dass das Kind dramatisch schlechte Noten hätte. Die Mütter verzichten teilweise auf eigene Erwerbstätigkeit, um ihrem Kind im privaten Kreis - im Wechsel mit gleichgesinnten Eltern - Lerngruppen daheim zu organisieren, damit das Kind die Gymnasialempfehlung bekommt. Sie sind wahre Experten auf den Websites der Schulbuchverlage und in Bezug auf Lernmaterialien und Übungsaufgaben." /34f./

Der Markt für Bildungsangebote ist inzwischen unüberschaubar. Dabei geht es nicht allein um das Milliardengeschäft der Nachhilfe, die schon längst nicht mehr auf GymnasialschülerInnen und einkommensstärkere Familien konzentriert ist. Jede/r dritte SchülerIn der Klassen 5 und 6 nimmt z.B. in Hamburg Nachhilfeunterricht in Anspruch. Es ist ein besonderes Krisensymptom, dass gerade Kinder aus benachteiligten Familien verstärkt auf Nachhilfe zurückgreifen müssen. Weniger Förderunterricht und größere Lerngruppen an fast allen Schulen haben zu dieser Expansion des privaten Bildungsmarkt beigetragen.

Nicht die besser verdienenden Schichten an den Gymnasien nehmen vermehrt Nachhilfe in Anspruch, sondern die unteren sozialen Schichten an Haupt- und Realschulen. 22,8% der Haupt- und RealschülerInnen nehmen in Klasse 5 oder 6 Nachhilfe in Deutsch, 23,1% in Mathematik - die entsprechenden Zahlen für die Gymnasien sind 8,4% und 15,9%. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Kinder an den Gymnasien vermehrt von ihren Eltern "Nachhilfe" erhalten.

Die KESS 7-Studie aus Hamburg, die alle Schülerinnen in allen siebten Klassen untersucht hat, bestätigt diese Entwicklung: "Durchaus im Einklang steht dieser Befund aber beispielsweise mit den Ergebnissen der letzten beiden Shell-Jugendstudien (vgl. Langness, Leven & Hurrelmann 2006), wonach gerade in weniger privilegierten sozialen Lagen die Verbreitung von Nachhilfeunterricht sich innerhalb von nur vier Jahren von 13 Prozent auf 29 Prozent mehr als verdoppelt hat. Hier ist anzunehmen, dass die seit vielen Jahren zu beobachtenden schlechten Arbeitsmarktchancen von Hauptschülerinnen und -schülern, die sich vorwiegend aus niedrigeren sozialen Lagen rekrutieren, dazu beiträgt, dass auch viele dieser Familien versuchen, die finanziellen Ressourcen dafür aufzubringen, ihre Kinder beim Erreichen guter Schulleistungen zu unterstützen." /KESS 7, S. 20/

Den Förderangeboten sind keine Grenzen gesetzt und dies treibt mitunter kuriose Blüten. In den "Helen-Doron-Learning Centern" wird Early English für Babies im Alter von 3-18 Monaten angeboten. Kurse für Gebärdensprache für Kleinkinder, die noch nicht sprechen können, gibt es inzwischen in vielen deutschen Großstädten. Die US-Franchisekette "FasTracKids" bietet unter dem Slogan "Education for tomorrows leaders" Kurse für 2 - 9-Jährige in Ökonomie, Mathematik, Naturwissenschaften und Rhetorik an.


Soziale Distinktion und Abschottung

Auch wenn Eltern aller sozialer Schichten unter Druck geraten, stellt sich dies für die verschiedenen sozialen Schichten oder sozialen Milieus sehr unterschiedlich dar. "So beobachten wir in den letzten Jahren ein deutliches Auseinanderdriften der Milieus in räumlicher als auch in kultureller Hinsicht. Deutschland scheint auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft zu sein, wobei die Trennungslinie eben nicht nur über Einkommen und Vermögen, sondern auch über kulturelle Dimensionen wie etwa Bildungskapital und Bildungsaspirationen, aber auch Werte und Alltagsästhetik verläuft. Ebenso erweisen sich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medienumgang als Abgrenzungsfaktoren." /8/

Die räumliche Abgrenzung beginnt spätestens mit Beginn der Elternschaft. "Spätestens beim Nachwuchs hört die Toleranz auf, und man zieht aus Problemvierteln weg in Wohngebiete mit Gleichgesinnten. Dies führt zu einer erheblichen Entmischung von Stadtteilen. Der Eintritt in das biografische Stadium der Elternschaft ist der entscheidende rite de passage für den Umzug: Wer will auf dem Spielplatz die Bank schon mit arbeitslosen Männern mit Bierflasche oder >herumlungernden Jugendlichen< teilen? Wer will schon, dass die beste Freundin des eigenen Kindes aus der Unterschicht kommt? Gerade weil Eltern wissen (bzw. meinen), wie wichtig für die Entwicklung des Kindes in den ersten Jahren der Einfluss des Umfelds ist, ist die Vermeidungslogik rational. Nicht mehr nur die höchsten Kreise, nicht mehr nur Akademikerfamilien, sondern bereits die breite Mittelschicht grenzt sich massiv nach unten ab. Man könnte hier schon beinahe von einer Art Kontaktsperre sprechen." /50/

Wenn es nicht gelingt, Kontakt gänzlich zu vermeiden, gibt es mehr oder weniger subtile Wege, sich zu unterscheiden oder abzugrenzen. Musik, Ernährung, Gesundheit, Kleidung, Bildung, Medienkonsum sind da geeignet. Bioprodukte werden zum Statussymbol wie der Einkauf in Naturkostläden, unauffällige Markenkleidung versus Kleidung mit starken Reizen, das Verbot, Kinder zu besuchen, bei denen ungestörter, unkontrollierter TV- und DVD-Konsum üblich ist. /vgl. 51/ "Musik ist ein sicheres Vehikel der Distinktion nach unten und ist als Strategie längst von der bürgerlichen Mitte entdeckt worden. Hier kann man sicher sein, dass man keinen Kindern aus der sozialen Unterschicht begegnet." /50/

Die Autoren der Studie sprechen von einer ersten Demarkationslinie sozialer Abgrenzung, die zwischen den sozialen Milieus verläuft, die auf der einen Seite ihre Kinder bewusst erziehen, sich kümmern und sie fördern, und denen, die froh sind, wenn ihre Kinder nicht kriminell oder schwanger werden. "Diese erste Demarkationslinie trennt sozial-hierarchisch die Ober- und Mittelschicht von den Milieus am unteren Rand der Gesellschaft." /51/

Eine zweite Demarkationslinie trennt die mittleren und gehobenen Schichten voneinander. Die bürgerliche Mitte grenzt sich nicht nur gegenüber den Unterschichten ab, sondern bemüht sich, den Anschluss an die oberen Schichten zu halten, doch diese wahren Distanz: "Enge Freundschaften zwischen Eltern aus verschiedenen Milieus scheinen immer seltener zu werden. Man bleibt lieber unter sich." /53/

Die bürgerliche Mitte ist dabei in einem Dilemma: "Finanzieller Druck betrifft aber keineswegs nur Eltern am unteren Rand der Gesellschaft, sondern hat die breite Mittelschicht erfasst - zumindest im Lebensgefühl und in der (latenten) Angst vor dem sozialen Abstieg. In der bürgerlichen Mitte ist die soziokulturelle Norm einer >heilen Familie> mit >guter Versorgung> groß und meint konkret das eigene Haus mit Garten sowie die vielfältige Förderung der eigenen Kinder. Dazu braucht man materielle Ressourcen, Geld, und man verzichtet persönlich auf vieles, damit die Familie gesichert und die Kinder optimal gefördert werden." /18f./

Das zwingt die Mutter häufig, berufstätig zu sein, obwohl ihre Ansprüche an intensive Betreuung ihrer Kinder permanente Präsenz im Haus erfordert. Sie kann damit nicht mit den Schichten mithalten, die es sich leisten können, zu Hause zu bleiben, um z.B. den täglichen Fahrdienst zu Ballett, Musikunterricht, Reiten o.ä. zu organisieren.

In der Studie werden die unterschiedlichen sozialen Milieus der Eltern in Deutschland differenziert betrachtet. Dabei ergeben sich - bezogen auf Einstellungen der Eltern zu Schulstrukturfragen, aber auch zur Bedeutung von Bildung und Erziehungsstilen sowie den "feinen Unterschieden" zwischen den sozialen Milieus - Gruppierungen, die im folgenden genauer betrachtet werden.

"Die Sinus-Milieus sind das Ergebnis von drei Jahrzehnten sozialwissenschaftlicher Forschung. Die Sozialstrukturanalyse des Milieumodells orientiert sich an der Lebensweltanalyse unserer Gesellschaft. Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Grundlegende Orientierungen gehen dabei ebenso in die Analyse ein wie der Alltag in Bezug auf Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum. Milieus konstituieren sich über drei Hauptdimensionen: Werte (Kognitionen, Einstellungen), Lebensstil (Routinen, Gewohnheiten) und soziale Lage (Einkommen, Bildung, Beruf, Alter). Die Sinus-Milieus rücken somit den Menschen und seine Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld." /28, Fn. 3/

Die Milieus im Bereich der traditionellen Werte (Konservative, Traditionsverwurzelte und DDR-Nostalgiker) werden hier nicht berücksichtigt, da sie einen zu hohen Altersdurchschnitt aufweisen, um für Eltern mit Kindern unter 16 relevant zu sein. Eine zweite Korrektur des Modells besteht darin, dass die Migrantenmilieus gesondert in den Fokus genommen werden.


Migrantenmilieus

Fast allen Migrantenmilieus ist ein hohes Interesse an guter Bildung für ihre Kinder gemeinsam. Unterschiede gibt es hinsichtlich des dafür erbrachten persönlichen Einsatzes.

Exemplarisch das religiös verwurzelte Milieu: "Großen Wert legt man auf eine gute Bildung/Ausbildung der Kinder, damit sie eine bessere berufliche und gesellschaftliche Stellung erreichen können, als man selbst; idealtypisch: Söhne sollen studieren, Töchter eine Ausbildung in einem klassischen Frauenberuf machen." /62/

Eine noch größere Rolle spielt die Bildung der Kinder in den Migranten-Milieus im Prozess der Modernisierung, die sicherlich in den großen Ballungsgebieten quantitativ von großer Bedeutung sind. Im statusorientierten Milieu ist es wichtigstes Ziel, "den Kindern eine (überdurchschnittlich) gute Bildung und Ausbildung mitzugeben, die als Voraussetzung für beruflichen Erfolg und sozialen Aufstieg (etwas besseres erreichen) gesehen wird; die Kinder sollen nicht nur schulisch erfolgreich sein, sondern auch zusätzliche Soft Skills erwerben (z.B. durch Sport- oder Musikunterricht); viele Kinder dieses Milieus erhalten professionelle Nachhilfe (z.B. in Deutsch)". /67/

Im adaptiven Integrationsmilieu ist es von überragender Bedeutung, "dass die Kinder eine gute schulische Bildung bekommen, um später beruflich weiterzukommen; dafür ist man bereit, sich intensiv um die schulische Laufbahn der Kinder zu kümmern, ihnen kontinuierlich bei den Hausaufgaben zu helfen, sich im Elternbeirat zu engagieren und zusätzlichen Kunst-, Musik, Sportunterricht zu bezahlen." /69/


Gesellschaftliche Leitmilieus

Etwa 40% der Eltern werden zu den drei als Leitmilieus gewerteten Gruppen gezählt.(3) Die "Etablierten", die "Postmateriellen" und die "modernen Performer" gehören zu den obersten gesellschaftlichen Schichten.

Etablierte machen fast 15% der Eltern bundesweit aus. "Gerne wird die Dazugehörigkeit durch einen gewissen Status symbolisiert und man präferiert, weitestgehend unter seinesgleichen zu bleiben." /80/ Das Familienleben ist in regelmäßigen Bahnen organisiert, es gibt eine traditionelle Rollenverteilung mit dem Vater als Familienoberhaupt und erfolgreich Berufstätigen und der Mutter, die zumindest in den ersten drei Jahren zu Hause bleibt und für das Kind sorgt. Das finanzielle Budget spielt bei der Art der Freizeitgestaltung kaum eine Rolle. "Mitgliedschaft in exklusiven Tennis-, Golf- oder Hockeyverein, Marken und Designerkleidung bis hin zum eigenen Pferd sind oftmals die Zugangsberechtigung zu den elitären Kreisen dieses Milieus." /89f/

Für die Kinderbetreuung werden oft private Tagesmütter oder Au-Pairs herangezogen, aber auch die Großmütter. An die Kinder werden hohe Leistungserwartungen gestellt und sie sind in ihrer Freizeit stark verplant: "Wettkämpfe sind schon sehr wichtig. Sie müssen sich ja messen und schauen, wo sie stehen. Und später bekommen sie auch nicht alles geschenkt im Leben." /87/

Postmaterielle Eltern machen ca. 12,5% der Eltern aus. Sie sind in hohem Maße an gesellschaftlichen und kulturellen Fragen interessiert und oft engagiert, bei Greenpeace oder in politischen Verbänden. Sie legen großen Wert auf partnerschaftliches Verhalten auch in der Familie und lehnen traditionelle Rollenverteilungen ab, weshalb die Frauen, wenn sie wegen kleiner Kinder zu Hause bleiben oder nur halbtags arbeiten, weil der Mann z.B. mehr verdient, häufig unzufrieden mit Rückfällen in traditionelle Familienstrukturen sind.

Postmaterielle Mütter verstehen sich als Lebensabschnittsbegleiterin ihrer Kinder, sie engagieren sich stark, betrachten dies aber nur als eine Phase im Leben und verzichten nicht auf ihre eigenen Interessen. Soziale Werte in der Erziehung sind ihnen wichtig, sie ernähren sich bewusst und leben umweltverträglich, sie sind medienkritisch. Sie unterstützen qualitativ hochwertige außerfamiliäre Betreuung für ihre Kinder, sind aber kritisch gegenüber den qualitativen und quantitativen Mängeln der öffentlichen Bildungseinrichtungen.

Postmaterielle Eltern gehören zum einzigen gesellschaftlichen Leitmilieu, in dem klar gegen das gegliederte Schulwesen Position bezogen wird.

Moderne Performer sind unter den Eltern ähnlich stark vertreten wie Postmaterielle, sie machen 12,4% der Eltern in Deutschland aus, und sind vermutlich deutlich überrepräsentiert in Großstädten.

Moderne Performer zeigen einen extremen Leistungsehrgeiz für sich selbst und für ihre Kinder, andere werden allenfalls als Hemmnisse für die Entfaltung des eigenen Kindes wahrgenommen. Daraus ergibt sich eine bewusst distanzierte Haltung gegenüber Kindern der Unterschicht, weil diese ihr Kind ausbremsen könnten. Konsequenterweise sind moderne Performer für die frühe Selektion im Schulwesen und bevorzugen für ihr Kind die Privatschule. "Mein Mann will auch mal hier in so eine ganz schlimme Ecke mit ihm fahren und dort mal solche Neubaugegenden zeigen, wo die Häuser beschmiert sind und die Aufgänge beschmiert sind, dass er mal sieht, wo die Leute wohnen, die eben in der Schule nicht aufpassen. Ihm wirklich mal zeigen, es gibt Leute, die haben nichts, und es liegt viel an einem selbst. Das wollen wir ihm schon auf jeden Fall mitgeben." /135/


Mainstream Milieus

Zu den Mainstream-Milieus werden die Bürgerliche Mitte sowie die Konsum-Materialisten gezählt, es sind insgesamt gut 30% der Eltern.

Dem Milieu der Bürgerlichen Mitte (18,8% aller Eltern) sind familiäre Geborgenheit und gesicherte, harmonische Verhältnisse wichtig. Der Mann ist in der Regel der Haupternährer, eine traditionelle Rollenteilung stellt kein größeres Problem dar. Vielmehr herrscht hier die Auffassung vor, dass die Kinder in den ersten drei Jahren am besten bei der Mutter und nicht in öffentlichen Einrichtungen aufgehoben sind. Eltern der bürgerlichen Mitte stehen massiv unter Druck: Sie wollen einerseits den Anschluss an die Bessergestellten halten und tun praktisch alles für das Weiterkommen ihrer Kinder, was sie auch unter finanziellen Gesichtspunkten unter erheblichen Druck setzt. "Unser Sohn geht auf eine private Schule. 800 Euro Schulgeld sind natürlich eine Menge, aber es ist gut investiertes Geld, und bisher hält er sich ganz gut. Und es ist toll, der Unterricht ist dort zweisprachig, das verschafft ihm einen immensen Vorsprung später." /160/

Das Erreichen des Abiturs für die eigenen Kinder ist eine Notwendigkeit für das Vorankommen, "schlechter Umgang" wird verhindert, wo es nur geht. Eltern der bürgerlichen Mitte ziehen gezielt in Wohngebiete, wo das Umfeld für den Erfolg der Kinder günstig ist. Die hohen Statusaspirationen, der Zwang, zu den Bessergestellten dazuzugehören, zwingt die Eltern zu hohen Investitionen in das eigene Kind. Dies führt häufig zu inneren Konflikten.

"Einerseits wollen sie dem Kind optimale Startchancen und Wettbewerbsvorteile ermöglichen, sich über die genannten Angebote hinaus umfassend um das Kind kümmern, seine Hausaufgaben betreuen, private Lerngruppen organisieren und leiten, sich in der Schule engagieren. Andererseits müssen entsprechende Angebote finanziert werden, das heißt ein zweites Einkommen ist in der Regel notwendig, um dem Kind all dies überhaupt zu ermöglichen. Geht die Mutter allerdings einer Berufstätigkeit nach, kann sie sich nicht in entsprechendem Maße um die schulischen Belange des Kindes kümmern - ein Circulus vitiosus. Diese heterogenen Ansprüche evozieren einen Druck, der im Milieu der bürgerlichen Mitte als besonders stark und ausgeprägt erlebt wird und für welchen noch keine persönlichen Lösungsstrategien gefunden wurden." /152/

Konsum-Materialisten machen 11,6% aller Eltern aus. Sie gehören zu den unteren und mittleren Einkommensschichten, haben einen Hauptschulabschluss mit oder ohne Berufsausbildung. Wegen ihrer eng begrenzten finanziellen Ressourcen und ihrem geringen Bildungskapital sind sie oft sozial benachteiligt und Ausgrenzung ist ein für sie relevantes Thema. Gleichzeitig grenzen sie sich häufig gegenüber Schwächeren ab. "Und da kommen dann die ganzen Afrikaner und lassen sich hier die Zähne machen, das finde ich nicht o.k." /165/

Ihr Erziehungsstil ist autoritär, Strafen gehören integral dazu. Sie gehören zu denjenigen sozialen Milieus, die sich meist nicht aktiv in die schulischen Belange einschalten. "Ich kenne ihre Schule schon, ja, das ist halt ne ganz normale Schule. Ich fahre da morgens auf dem Weg zur Arbeit immer dran vorbei." /179/ Und: "Ich verlass mich da auf die Schule, dass die alles Wichtige beibringen. Was soll ich sonst auch groß machen?" /181/

Erziehung hat nur einen Minimalanspruch. Es ist keine Aufgabe, über die man sich viele Gedanken macht oder z.B. Literatur zu Rate zieht. Stattdessen haben TV-Erziehungsshows einen hohen Stellenwert, weil sie im eigenen Milieu spielen und als Mittel zur Beruhigung dienen. "Man sieht dann, dass die eigene Erziehung doch ganz gut klappt." "Ich guck mir das mit der Super-Nanny an, wie die Kinder ausrasten, das interessiert mich schon, wie es da so zugeht bei manchen. Da habe ich extra mein Kind dabei und sage: 'Guck mal, so nicht'." /172/

Diese Eltern wären angewiesen auf Ganztagsschulen, kostenlose Hausaufgabenbetreuung und Förderunterricht in einer integrativen Schule für alle. Sie sind, weil sie häufig die Leidtragenden des gegliederten Schulwesens am Ende der Hierarchie sind, Anhänger einer Gemeinschaftsschule. Allerdings ist es außerordentlich schwer, sie dafür zu aktivieren.


Hedonistische Milieus

Hierzu zählen die Experimentalisten und die Hedonisten. Dazu gehören 18,7% der Eltern. Es handelt sich in ihrer Grundorientierung um die Milieus, die im mittleren und unteren Sozialsegment liegen und gleichzeitig auf Neues orientiert sind.

Eperimentalisten (8,5% der Eltern) zählen sich zur Lifestyle-Avantgarde. Sie pflegen ein modernes Partnerschaftsverhältnis, auch wenn sie in Phasen der Kindererziehung in traditionelle Rollenverteilungen verfallen, sehen sie das nur als eine vorübergehende Phase an, die ihnen grundsätzlich kein Problem macht. Sie sind stark toleranzorientiert, haben keine sozialen Berührungsängste und legen großen Wert auf soziales Verhalten: Unabhängig von Herkunft, Schicht, Religion oder Hautfarbe soll das Kind seinen Mitmenschen Achtung und Respekt entgegenbringen - manche Eltern sehen hier sogar das Kind selbst als Vorbild. /vgl. 195/ "Es ist wirklich traurig, dass man die Kinder in jungen Jahren schon so sehr auf Leistung trimmt. Und wenn manche dann auf die Hauptschule kommen, haben sie später überhaupt keine Chancen mehr, weil die anderen total davonziehen." /202/

Die Hedonisten (10,2% der Eltern) sind, was ihre Einstellungen zu Erziehung und ihre soziale Lage betrifft, zwischen den Konsum-Materialisten und den Experimentalisten angesiedelt. Sie gehören zu den einkommensschwachen und wenig gebildeten Milieus. Sie leben im Hier und Jetzt, machen sich wenig Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder und setzen von daher stark auf die Kompetenz der öffentlichen Bildungseinrichtungen. Sie leben oft in prekären Arbeitsverhältnissen (z.B. als Kellnerin, Promoterin oder in Call-Centern) und sind von daher auf zeitlich flexible Betreuungseinrichtungen für ihre Kinder angewiesen. Kinder werden in eigene Freizeitaktivitäten eingebunden, "laufen einfach so mit". Sie zeigen keine hohen Leistungsansprüche gegenüber ihrem Kind und auch keine Ängste vor schädlichen sozialen Einflüssen.

"Schließlich kritisieren Hedonistische Eltern das dreigliedrige Schulsystem, das zu einer frühen Benachteiligung bestimmter Schüler führt. Als Alternative benennen auch sie z.B. Gesamtschulen. Zudem wünschen sie sich insbesondere den Ausbau von Ganztagsschulen. Dies jedoch vermutlich weniger vor dem Hintergrund eines bestimmten pädagogischen Konzepts als vielmehr aufgrund persönlicher Bequemlichkeit." /223/


Fazit

Fast alle Eltern - unabhängig von ihrer Milieuzugehörigkeit - halten Erziehung und Bildung für ihre Kinder für von zentraler Bedeutung für deren Zukunft. Auch üben fast alle Eltern z.T. scharfe Kritik an der Familienpolitik der Regierungen. Eltern fühlen sich nicht genug wertgeschätzt in dieser Gesellschaft. Das Umfeld wird oft als kinderfeindlich eingeschätzt.

Insbesondere die materielle (finanzielle) Förderung für Familien wird als völlig unzureichend erachtet. Die Ausstattung mit Betreuungseinrichtungen, die den Bedürfnissen der Eltern und Kinder gerecht werden, wird kritisch gesehen. Die flächendeckende Bereitstellung und flexible und ausreichende Öffnungszeiten für Kinderkrippen, Kitas und (Ganztags-)Schulen werden eingefordert und die Qualität der Bildungseinrichtungen (Engagement der Lehrer, Gruppengrößen) stehen in der Kritik.

Viele Eltern aus den "gehobenen" sozialen Milieus können das kompensieren durch privat finanzierten Zukauf von Bildung, sei es durch Tagesmütter und Aux Pairs, sei es durch Privatschulen, Förderkurse und Nachhilfe in jeglicher Form. Die Tendenz, dass es eine Grundversorgung mit öffentlicher Bildung für alle gibt und bei höheren Ansprüchen und Ambitionen die private Initiative der Familien, die sich das leisten können, gefragt ist, ist deutlich erkennbar.

Viele Familien - vor allem aus den unteren sozialen Milieus - sind davon von vornherein abgekoppelt. Viele andere müssen enorme Anstrengungen aufbieten, um bei dieser Entwicklung Schritt zu halten. Dies führt zu massiven Einschränkungen ihrer Lebensqualität. Die meisten Familien sind dazu bereit, diese hohen Aufwendungen zu betreiben, weil sie wissen, dass die Zukunft ihres Kindes davon abhängt.

Der Druck, der auf den Eltern lastet, ist allgegenwärtig. Angesichts der Erkenntnis, dass der eigene Status, die eigenen Lebensziele von den Kindern kaum noch erreicht werden können ("Du sollst es einmal besser haben"), sind tiefe Verunsicherung und Skepsis gegenüber den Bildungsinstitutionen und der Bildungspolitik verbreitet - ebenso wie die Abgrenzung und die Ausgrenzung möglicher Konkurrenten um Lebenschancen ihrer Kinder in vielen Milieus, vor allem in den meisten Mainstream- und gesellschaftlichen Leitmilieus.

Die, die aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihres Bildungskapitals am wenigsten in der Lage sind, sich in diese Auseinandersetzung aktiv mit ihren Interessen einzumischen, leiden gerade am meisten unter den bestehenden Verhältnissen in der Bildung.

Das Ergebnis dieser Aus- und Abgrenzungsstrategie zwischen den sozialen Milieus ist eine "neue Art von Klassengesellschaft", in der die unterschiedlichen sozialen Schichten unter sich bleiben und der Kontakt zu anderen Schichten mehr und mehr verloren geht. Damit ist zum einen die Gefahr verbunden, dass das öffentliche Bildungssystem von der Kita über die Schulen bis zu den Hochschulen immer mehr ausgedünnt und auf eine "Grundsicherung" reduziert wird, in der nur das Nötigste an Bildung für alle angeboten wird, während die Milieus, die über entsprechende Ressourcen verfügen, mit privaten Angeboten die öffentliche Bildung ergänzen können bzw. sich über Privatbetreuung im Kleinkindalter, Privatschulen und privaten Universitäten völlig aus dem öffentlichen Bildungssektor zurückziehen.(4) Je mehr sich die gesellschaftlichen Leitmilieus aus der öffentlichen Bildung zurückziehen, desto schwächer wird die Lobby derjenigen, die sich gegen die Ausdünnung öffentlicher Bildung zur Wehr setzen.

Zum anderen befördert diese Entwicklung ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft, weil schon in der Schule mehr und mehr der Kontakt zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus verloren geht. Der "Habitus der Distinktion", der "Rückzug in Enklaven Gleichgesinnter" spaltet die Gesellschaft immer weiter.

Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, muss die gesellschaftliche Linke den Kampf um das öffentliche Bildungswesen und seine Verbesserung in den Mittelpunkt rücken. Es geht um die bestmögliche Bildung für alle. Dazu gehört, dass die Bildungseinrichtungen personell und materiell besser ausgestattet werden, aber auch, dass Strukturen, die ungleiche Bildungschancen und soziale Selektion befördern, wie das gegliederte Schulwesen und die sozialen Barrieren beim Hochschulzugang, überwunden werden.

Erst wenn sichergestellt ist, dass alle Schulen und Hochschulen den SchülerInnen und Studierenden die optimalen Lernbedingungen garantieren, wird die Angst, die falsche Schul- oder Hochschulwahl zu treffen, nicht mehr das Einfallstor für Privilegiensicherung und soziale Distinktion sein.


Klaus Bullan ist Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hamburg und Mitherausgeber von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) Tanja Merkle/Carsten Wippermann, Eltern unter Druck, Stuttgart 2008; die Ziffern in Schrägstrichen beziehen sich auf diesen Text.

(2) Forsa: Familie und Wahl - repräsentative Befragung unter Eltern im Auftrag der Zeitschrift ELTERN, Berlin, Juni 2009

(3) Die zahlen der Eltern weichen von denen im allgemeinen Bild der Milieus ab.

(4) Dass der Staat den größten Teil der Privatschulkosten aus Steuermitteln finanziert und so selbst an der Untergrabung des öffentlichen Bildungswesens beteiligt ist, kommt erschwerend hinzu.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Klaus Bullan und Gewerkschaftsmitglieder demonstrieren im Hamburger Rathaus
- Demo gegen die Schulreform in Hamburg
- Die Sinus-Milieus in Deutschland 2006: Soziale Lage und Grundorientierung


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Quelle:
Sozialismus Heft 4/2010, Seite 5 - 12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010