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SCHULE/613: Professor Wolfgang Melzer begleitete Modellversuch Gemeinschaftsschule (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 8 vom 4. Mai 2010

In Thüringen mit Zukunft - in Sachsen "abgewählt"
Interview mit Professor Wolfgang Melzer

Die Fragen formulierte Christa Bäumel


TU-Experten befragt: Professor Wolfgang Melzer begleitete wissenschaftlich den Modellversuch Gemeinschaftsschule / Noch vor dem Abschlussbericht beschloss die Koalition 2009, den Modellversuch auslaufen zu lassen


UJ: Wie gestaltete sich der Entstehungsprozess der der Gemeinschaftsschulen in Sachsen? Was wurde von den Beteiligten akzeptiert, wurden Änderungen nötig, worauf waren Anlaufschwierigkeiten zurückzuführen?

PROFESSOR WOLFGANG MELZER: Der Modellversuch bezieht in den beiden ersten Phasen der wissenschaftlichen Begleitung, die mit der Vorlage eines zweiten Berichtes nunmehr abgeschlossen sind, 5 Gemeinschaftsschulen bzw. Versuchsschulen und 6 Vergleichsschulen (4 Mittelschulen, 2 Gymnasien) ein. Die Stichprobengröße legt nahe, dass man mit Verallgemeinerungen jeglicher Art vorsichtig sein muss. Sie können aber davon ausgehen, dass die Gemeinschaftsschulen, die sich für den Modellversuch beworben haben, von vornherein ein hohe Motivation besitzen, ein besonderes pädagogisches Profil mit längerem gemeinsamen Lernen und individueller Förderung für die Schüler umzusetzen. In den Fallanalysen - wir nennen sie "Schulportfolios" - zeigen sich dementsprechend positive pädagogische Ergebnisse, z. B. bei der von den Schülerinnen und Schülern beurteilten Unterrichtsqualität. Wir haben unter den Vergleichsschulen aber auch eine Mittelschule, die in verschiedenen Bereichen sehr gut abschneidet und gute Voraussetzungen mit sich bringen würde, als Gemeinschaftsschule zu arbeiten.

Im Übrigen muss man die zu evaluierenden Schulen an ihren Ausgangsbedingungen messen: Eine entscheidende Gelingensbedingung ist der Anteil der Schüler mit mittlerem bis hohem Kompetenz- und Entwicklungspotenzial. Gemeinschaftsschulen mit einem weit überwiegenden Schülerpotenzial auf niedrigem Kompetenzlevel werden im Konkurrenzkampf der Schulen nur mit besonderen pädagogischen Anstrengungen bestehen können.

Ansonsten hängen die möglichen und tatsächlichen Entwicklungen auch von dem jeweiligen Modell ab. Wir haben in dem jetzt ausgeweiteten Modellversuch neben Modellschulen (Versuchsschulen), die primär aus Gründen des Standorterhalts eingerichtet wurden, auch solche, die bereits seit 20 Jahren nach besonderen pädagogischen Konzepten arbeiten. Entsprechend dieser Vorgeschichte besitzen die GMS unterschiedliche Erfahrungen und setzen sich spezifische Ziele. Dabei sind sie allerdings nicht frei gewesen, woraus sich wiederum gewisse Anfangsschwierigkeiten ergeben haben ...

Gemeinsam ist allen Schulen die auch bereits im Vorfeld vorangegangene Diskussion, wie Schule anders und attraktiver gestaltet werden kann, sowie die Suche nach einem Schulkonzept, um neue Methoden umsetzen zu können. Einen Rahmen setzten dabei die vom SMK gesetzten Leitlinien und der Rahmen für Gemeinschaftsschulen.

Hinsichtlich Anlaufschwierigkeiten einiger Modellversuche wird seitens der Einzelschulen häufig in den Expertengesprächen die fehlende Offenheit der Leitlinien und des Rahmens für Gemeinschaftsschulen angesprochen: dies u. a. führte zu der Situation, dass von den Einzelschulen geplante Konzeptionen nicht genehmigungsfähig waren und bis zu 15 Mal überarbeitet werden mussten (z.B. hinsichtlich der Umsetzung der äußeren Differenzierung in Form abschlussbezogener Kurse).

Probleme stellten in diesem Zusammenhang auch die z. T. vorhandene Unsicherheit seitens der Elternschaft über den zeitlichen Beginn des Modellversuchs, den Umgang mit den drei Lehrplanniveaus (Hauptschul-, Realschulabschluss, Abitur) und die Wege der erforderlichen Lehrerqualifizierung (Fortbildung, gegenseitige Schulbesuche, Kooperationen, gemeinsame konzeptionelle Beratungen) dar.

UJ: Konnten Sie - mittels Analyse von Leistungs- und Sozialdaten - erfassen, ob sich Schülerkompetenzen unter den "besonderen pädagogischen Bedingungen" günstiger entwickeln? Welche?

PROFESSOR WOLFGANG MELZER: Schülerkompetenzen beziehen sich in diesem Zusammenhang neben dem Fachleistungsstatus auch auf den als Untersuchungsinstrument eingesetzten Kognitiven Fähigkeitstest von Heller & Perleth. Grundsätzlich liegen auf Schulebene diese kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler, die an einer GMS lernen, zwischen jenen an Mittelschulen bzw. Gymnasien. Vorerst kann dies auch aufgrund der Verteilung der Bildungsempfehlungen an diesen Schularten erklärt werden. Im weiteren Untersuchungsdesign ist jedoch vorgesehen, Schülerinnen und Schüler mit ähnlichen Kompetenzwerten unter Kontrolle weiterer Variablen (wie beispielsweise Geschlecht und dem Ausmaß individueller Förderung) einzelfall-analytisch hinsichtlich ihres eingeschlagenen Bildungsweges zu betrachten. Dementsprechend ist die Frage einer Entwicklung von Kompetenzen unter Berücksichtigung der Schulform grundsätzlich nur im Längsschnitt, also in Form einer Panelstudie, zu leisten (erste Daten liegen bereits vor und werden gegenwärtig noch ausgewertet). Mit der umfassenden Beantwortung dieser Frage muss daher noch gewartet werden.

UJ: Wie beeinflusste die Schulkultur Lernen und soziales Verhalten auch von Kindern aus sozial schwachen Bereichen? War zu erkennen, dass gemeinsames Lernen fördern und verbinden kann?

PROFESSOR WOLFGANG MELZER: Hinsichtlich der Auswertung von Skalen zur Schulkultur wird neben dem Geschlecht und der besuchten Schulart auch immer der soziale Hintergrund der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Dieser wird über den sog. FAS-Index (family affluence scale) abgebildet und erfasst über die Abfrage des Vorhandenseins bestimmter Güter im elterlichen Haushalt wie z. B. der Anzahl von Autos oder der Häufigkeit einer Urlaubsreise in den letzten 12 Monaten den familiären Wohlstand.

Insgesamt schätzen Kinder aus Elternhäusern mit vergleichsweise geringem sozialen Wohlstand z. B. die schulische Belastung höher ein, als dies bei Schülerinnen und Schülern aus Elternhäusern mit einem eher hohen sozialen Wohlstand der Fall ist. Bei der Wahrnehmung von Aspekten individueller Förderung ergibt sich jedoch kein Zusammenhang zum sozialen Wohlstand. Inwiefern den Versuchsschulen tatsächlich ein Ausgleich sozialer Herkunftsnachteile und damit ein höheres Maß an Bildungsgerechtigkeit gelingt, wird ebenfalls die Auswertung der Längsschnittdaten zeigen, dies vor allem im Hinblick auf den tatsächlich erreichten Schulabschluss unter Berücksichtigung des Fähigkeitspotenzials.

UJ: Erleben die Schüler selbst ihre Schule als etwas Neues, an dem sie auch mitschaffen (wollen)? Wie äußert sich das?

PROFESSOR WOLFGANG MELZER: Die Wahrnehmung der eigenen Schule als etwas Neues oder auch Besonderes lässt sich u. a. an den subjektiv wahrgenommenen Partizipationsmöglichkeiten ablesen. Diesbezüglich positive Befunde konnten vor allem für jene Schulen nachgewiesen werden, welche schon länger nach reformpädagogischen Prinzipien arbeiten.

Schulen, an denen also den Schülerinnen und Schülern seit jeher ein hohes Maß an Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht eingeräumt wird, zeigen auch in unseren Erhebungen hohe Zustimmungsraten bei den entsprechenden Skalen.

Die Wahrnehmung der Schule als etwas Besonderes lässt sich jedoch beispielsweise an der Einschätzung von Aspekten der wahrgenommenen Lehrerunterstützung ablesen. So fühlen sich Schüler häufiger von den Lehrern bestärkt, eigene Meinungen und Ansichten gegenüber der Klasse zu vertreten.

UJ: Inzwischen wurde bekannt, dass die Gemeinschaftsschule bis 2014 schrittweise ein "Auslaufmodell" werden soll. Welche Ihrer Untersuchungsergebnisse sprechen dafür? Sehen Sie dennoch Möglichkeiten - bei aller kritischen Hinterfragung -, die Versuchsphase gerade an Schulen mit besonders engagierten Mitarbeitern und Elternvertretern dennoch bestehen zu lassen?

PROFESSOR WOLFGANG MELZER: Man muss betonen, dass keines der bisherigen Ergebnisse dafür spricht, dass die Gemeinschaftsschule zum "Auslaufmodell" wird. Bei der Entscheidung über das Auslaufen des Modellversuchs handelt es sich um einen rein politischen, nicht auf unseren Forschungsdaten basierenden Beschluss.

Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang der von der Politik eingeleitete "Umbau" der Mittelschulen zu "Oberschulen". Man wird sehen, ob in diesen Prozess Erfahrungen der Versuchsschulen und gegebenenfalls einige unserer Forschungsergebnisse einfließen können. Auf jeden Fall hat der Schritt des SMK für erhebliche Unruhe an den Schulen und bei allen Beteiligten gesorgt. Diese setzen sich so auch massiv für das Fortbestehen der Modellversuche ein (z. B. mittels Unterschriftenaktionen) und hinterfragen den Sinn einer wissenschaftlichen Begleitung, wenn Entscheidungen ohne Rücksicht auf deren Ergebnisse getroffen werden.

Abschließend möchte ich auf das Anlaufen der Gemeinschaftsschule in Thüringen (TGMS) verweisen. Dort wird die GMS als schulgesetzliche Wahlschulart eingeführt. Erfreulich ist, dass dabei unser binäres Verständnis von Gemeinschaftsschule übernommen wurde.

Die pädagogischen Leitideen der Thüringer Gemeinschaftsschule (TGMS) basieren auf zwei Grundprinzipien, dem der Veränderung der Schulstruktur im Sinne eines längeren gemeinsamen Lernens und dem der Veränderung der Schul- und Unterrichtskultur im Sinne der Gestaltung eines kompetenz- und entwicklungsfördernden Lernumfeldes.

Die individuelle Förderung der Schüler entsprechend ihren unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten, Interessen und Begabungen soll an der TGMS vor allem in klasseninternen Lerngruppen mit binnendifferenziertem Unterricht erfolgen, während die sächsischen Versuchsschulen laut der SMK-Vorgaben stärker äußerlich differenzieren müssen. Unsere Forschungsgruppe wird auch diesen Prozess im Auftrag des Thüringer Bildungsministeriums wissenschaftlich begleiten.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 8 vom 04.05.2010, S. 3
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2010