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SCHULE/605: Österreich - "Gesamtschule ist unverzichtbar" (guernica)


guernica Nr. 4/2009
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Schulreform: "Gesamtschule ist unverzichtbar"

Interview mit Bernhard Golob, AHS-Lehrer und unabhängiger Gewerkschaftsvertreter in Wien, über Gesamtschule, Ganztagsschule, Zentralmatura und was notwendig wäre, um eine demokratische Schulreform in Gang zu bringen


GUERNICA: Ständig wird über "die Schule" diskutiert, werden Bildungsreformen gefordert. Dabei polarisiert Ministerin Schmied sehr: Einerseits tritt sie für die Gesamtschule ein, andererseits hat ihre Forderung, die LehrerInnen sollen zwei Stunden mehr in der Klasse stehen, einen massiven Arbeitskampf ausgelöst. Wie siehst du - als unabhängiger Gewerkschafter in der AHS - die aktuelle Situation?

BERNHARD GOLOB: Zu Amtsbeginn waren ja die Aussagen von Ministerin Schmied im Vergleich zur Gehrer-Zeit recht erfrischend: Für kleinere Klassen, für die Gesamtschule, für ganztägige Betreuung. - Umso schlimmer dann das Erwachen: Statt die Reformen finanziell abzudecken, sollten die LehrerInnen die Neuerungen quasi selbst finanzieren: durch eine Verlängerung der Arbeitszeit. Das ist Neoliberalismus pur. Wenn Lohnabhängige so etwas akzeptieren, dann kommen ganz viele ganz schnell unter die Räder: Warum dann nicht auch die Probleme im Gesundheitsbereich, bei der Bahn, bei der Post "lösen", indem die Krankenschwestern, die Eisenbahner, die Postler unbezahlt mehr arbeiten? Und wenn die das müssen, dann natürlich auch die Leute in der Privatwirtschaft. Wäre ja nur "gerecht".... Die Industriellenvereinigung kann sich freuen über so eine sozialdemokratische Politik.

GUERNICA: Aber Frau Ministerin Schmied hat doch gemeint, die Gesamtarbeitszeit der LehrerInnen solle nicht verlängert werden, sie wolle nur umschichten: Für die zwei Stunden mehr in der Klasse sollen die LehrerInnen zwei Stunden weniger administrative Arbeiten machen. Das wäre "arbeitsneutral" und käme den Kindern zugute.

BERNHARD GOLOB: Das ist purer Zynismus. Zwei Stunden mehr "in der Klasse" heißt ja nicht, dass ich zwei Stunden mehr in einer Klasse stehe und ich woanders Arbeit einsparen kann. Im Gegenteil: Ich bekomme de facto eine zusätzliche Klasse dazu. Also statt z. B. sechs Klassen habe ich dann eben sieben, statt z. B. 180 Kinder dann 210 zu unterrichten. Und natürlich muss ich diese neuen Stunden extra vor- und nachbereiten, inklusive Hausübungen, Schularbeiten, Elterngespräche etc. Das ist eine massive Verlängerung der Arbeitszeit ohne irgendeine "administrative Entlastung". Und es geht auf Kosten der Betreuungsqualität: Ich habe ja dann 30 Kinder mehr.

GUERNICA: Wie stehst du zur Gesamtschule?

BERNHARD GOLOB: Im Gegensatz zu vielen AHS-LehrerInnen, die skeptisch sind oder sich vor den "wilden" Hauptschulkindern fürchten, halte ich die Gesamtschule für unbedingt nötig. Unzählige Studien bestätigen, dass sie zur Förderung von Kindern aus unterprivilegierten Schichten unverzichtbar ist. Und dass sie auch in Österreich funktionieren kann, zeigt ja die Volksschule. Die ist eine funktionierende Gesamtschule. - Allerdings: Eine gut funktionierende Gesamtschule kann nicht "kostenneutral" sein. Einfach die Hauptschulen umbenennen und ein paar Kleinigkeiten verändern - das ist zuwenig. Eine seriöse, flächendeckende Gesamtschule braucht genügend Geld, genügend Personal, kleinere Klassen und die entsprechenden Strukturen: also z.B. Teamteaching, differenzierte Förderkurse, bezahlte Teamzeiten, PsychagogInnen, Vernetzung mit den Jugendämtern, eine Demokratisierung der Schulverwaltung etc. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Aber es ginge: Es gibt - z. B. im PISA-Vorzeigeland Finnland - genügend funktionierende Beispiele. Im Übrigen wäre das auch ein wichtiger Beitrag, um Kinder mit Migrationshintergrund besser zu fördern und ihnen mehr Chancen zu bieten.

GUERNICA: Damit verbunden stellt sich die Frage der ganztätigen Betreuung bzw. der Ganztagsschule? Was sind da die unterschiedlichen Modelle?

BERNHARD GOLOB: "Ganztägige Betreuung" ist ein Überbegriff. In der Praxis heißt das zur Zeit meistens, dass ein Teil der Kinder - meist die mit berufstätigen Müttern - in die "Nachmittagsbetreuung" geht. Dort gibt's Mittagessen, die Kinder machen Hausübungen und haben Freizeit. Manchmal gibt es auch (freiwillige) Förderstunden. Die Betreuungsqualität ist dabei unterschiedlich und hängt vom Standort bzw. von den BetreuerInnen ab. Im schlechteren Fall sind das eher Kinder-Aufbewahrungsanstalten. Dieses Konzept wird vor allem von der ÖVP vertreten. Davon zu unterscheiden ist eine echte Ganztagsschule: Da wechseln Lern-, Freizeit- und Förderstunden über den ganzen Tag "verschränkt" ab, die Betreuung erfolgt auch am Nachmittag durch die "eigenen" LehrerInnen der Kinder, die diese kennen und gezielt fördern können. Dieses System kann eher familiäre Defizite ausgleichen als die bloße Nachmittagsbetreuung. Echte Ganztagsschulen gibt es zur Zeit aber wenig, obwohl der Bedarf groß wäre. Es bleibt abzuwarten, welche Initiativen Frau Minister Schmied da setzt - und zu welchen Konditionen. Also z. B.: Gibt es einen Kostenbeitrag der Eltern? Wird die Arbeitszeit der LehrerInnen verlängert? Wie schaut die pädagogische Qualität aus?

GUERNICA: A propos pädagogische Qualität. Vor kurzem wurde die Zentralmatura beschlossen. Bringt die wirklich mehr Gerechtigkeit mit sich, weil dann das Matura-Niveau vergleichbarer wird?

BERNHARD GOLOB: Es stimmt schon, dass das "Niveau" (was auch immer man darunter versteht) an den einzelnen Standorten sehr unterschiedlich ist. Aber das war es immer schon und hat jahrzehntelang keinen Bildungspolitiker hinter dem warmen Ofen hervorgelockt. - Ich glaube eher, dass es um andere Dinge geht: Einerseits um die angestrebte EU-weite Vereinheitlichung der universitären Ausbildungsrichtlinien (Stichwort Bologna-Prozess) und andererseits um die schrittweise Einführung von Zugangsbeschränkungen an den Universitäten. Ein Numerus-Clausus, der wesentlich auf den Maturanoten aufbaut, kann nur effizient sein, wenn die Matura gleichgeschaltet ("zentral") ist. Darum geht es. Um Effizienz in der Selektion, nicht um "Gerechtigkeit" in der Bildung. Die Zentralmatura ist ein wesentlicher Schritt zur Einschränkung des freien Hochschulzugangs. Und das, obwohl der Akademikeranteil in Österreich mit 18 % deutlich unter dem OECD-Schnitt liegt. Wir bräuchten mehr Studierende, nicht weniger.

GUERNICA: 2008 wurden 130 Millionen Euro für Nachhilfe ausgegeben. Andererseits sind in den vergangenen Jahren in vielen Fächern Unterrichtsstunden gekürzt worden. Was genau bedeuten diese Stundenkürzungen?

BERNHARD GOLOB: Die gab es zweimal: zuerst 1995, noch unter Rot-Schwarz, und dann nochmals durch Frau Gehrer unter Schwarz-Blau. Da wurden vielen Fächern einfach Stunden weggenommen. Verkauft wurde das mit dem Schmäh der "Schüler-Entlastung". In Wirklichkeit ging es einfach um eine platte Einsparungsmaßnahme. So gab es vor 1995 z. B. fünf Deutschstunden in der ersten und zweiten Klasse Hauptschule und AHS - jetzt sind es jeweils nur noch vier. Oder statt drei Geschichtsstunden in der zweiten Klasse gibt's jetzt nur noch zwei. Gekürzt wurden fast alle Fächer. Auch Turnen, obwohl die Politiker immer über die Bewegungsarmut der Kinder klagen. Oder Fremdsprachen, während die Politik gleichzeitig zur EU-Sprachenoffensive aufgerufen hat. In vielen Fächern, z. B. Geschichte, Geographie, Physik, gibt es Jahrgänge mit nur mehr einer einzigen Wochenstunde. Das ist lächerlich bezüglich der Unterrichtsqualität! Das gehört zurückgenommen!

GUERNICA: Aber warum bezeichnest du das als "Einsparungsmaßnahme"? Betrifft es nicht eher die pädagogische Qualität?

BERNHARD GOLOB: Beides! Es spart bei der Qualität und beim Personal: Ein AHS-Lehrer muss pro Woche 20 "Werteinheiten" (=Stunden) unterrichten. Wenn jetzt Stunden gekürzt werden, muss der Lehrer/die Lehrerin mehr Klassen unterrichten, um auf diese 20 Stunden zu kommen. Das spart Lehrerposten und der Finanzminister freut sich. Die LehrerInnen haben derart natürlich mehr Klassen, also mehr Kinder, also weniger Zeit für das einzelne Kind.

GUERNICA: Du zeichnest ein eher düsteres Bild der bestehenden Situation. Was müsste deiner Meinung nach geschehen, um positive Veränderungen im Schulbereich voranzutreiben?

BERNHARD GOLOB: Da fällt mir schon viel ein. Aber es hängt vom politischen Willen, von den finanziellen Ressourcen und der inhaltlichen Zielsetzung ab. 1995 - im Jahr des EU-Beitritts - wurden in Österreich noch 6,2 % des BIP für Bildung ausgegeben (damaliger OECD-Schnitt 5,4 %). 2006 waren es nur noch 5,5, % - und damit weniger als der OECD-Schnitt von nunmehr 5,7 %. Das ist die Entwicklung. Die gehört umgekehrt! - Ausreichend Geld ist natürlich noch keine Garantie für sinnvolle Neuerungen, aber es ist eine Voraussetzung dafür. Mit entsprechenden finanziellen Ressourcen könnte man seriöse Strukturen für die Gesamtschule und ein vergrößertes Angebot an Ganztagsschulen durchsetzen. Nicht durch Mehrarbeit der LehrerInnen, wie Frau Schmied das will, sondern durch mehr Lehrerposten, bessere Arbeitsbedingungen, durch kleinere Gruppen, mehr Fördermaßnahmen etc. Solche positiven Maßnahmen, die die pädagogische Qualität verbessern, würden es auch der schwarzen Führung der Lehrergewerkschaft schwieriger machen, sich gegen sinnvolle Reformen zu stellen. Gegenwärtig wird es den Betonierern in der Lehrergewerkschaft ja leicht gemacht: Sie können - leider zu Recht - sagen, dass viele Reformvorschläge der Ministerin auf Kosten der LehrerInnen gehen. Das demotiviert viele KollegInnen und macht sie konservativer, als sie an sich vielleicht wären. Reformen muss man mit den LehrerInnen machen, nicht gegen sie. Dazu gehören auch Maßnahmen zur inneren Demokratisierung der Schulen, die ja oft immer noch recht feudal-hierarchisch strukturiert sind. Also z. B. gewählte Schulleitungsteams auf Zeit statt noch mehr Macht für die DirektorInnen (wie es jetzt unter dem Schlagwort "Personalhoheit" geplant wird). Dazu gehört natürlich auch eine neue, gemeinsame LehrerInnenausbildung auf universitärem Niveau.

Zu tun gäbe es viel! Wenn man es gemeinsam mit den Betroffenen, und nicht gegen sie angehen würde, gäbe es sicher auch mehr Unterstützung für sinnvolle Neuerungen. Übrigens auch von den SchülerInnen und von den Eltern, die - zu Recht - über verkrustete Strukturen und hohe Nachhilfekosten klagen. Auch die müsste man ins reformpädagogische Boot holen. Die haben ja auch ein massives Interesse an einer besseren Schule. Wesentlich wäre es, gemeinsam mit allen demokratischen Kräften (z. B. Elternvereinen, Universitäten, Gewerkschaften) eine breite gesellschaftliche Kampagne für eine lebendige, innovative Schulreform zu entwickeln. Und was das fehlende Geld betrifft: Für die Rettung der Hypo Alpe Adria war binnen kürzester Zeit sehr viel Geld da.


Bernhard Golob ist AHS-Lehrer und unabhängiger Gewerkschaftsvertreter (ÖLI - UG ; Österr. LehrerInneninitiative - Unabh. Gew.) in Wien.


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Quelle:
guernica Nr. 4/2009, Seite 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2010