Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → BILDUNG

SCHULE/602: Blockierte Zukunft? Pisa-Risikoschüler beim Übergang Schule - Beruf (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2009

Blockierte Zukunft?
Pisa-Risikoschüler beim Übergang Schule - Beruf

Von Eva Quante-Brandt, Eva Anslinger, Theda Grabow


Jugendliche und junge Erwachsene mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten haben immer seltener die Möglichkeit, in das deutsche Ausbildungssystem einzumünden. Verantwortlich hierfür sind vor allem die steigenden Anforderungen in technischen und handwerklichen Berufen sowie das stetige Zurückgehen einfacher Tätigkeiten am Arbeitsplatz. Das Forschungsprojekt "Literalitätsentwicklung von Arbeitskräften" (lea.) untersucht in einem Teilprojekt die Ursachen für eine unzureichend entwickelte Literalität sowie die Motivation der jungen Erwachsenen, ihre Kenntnisse im Verlauf der beruflichen Ausbildung aufzuarbeiten.


Die Diskussion um die Ergebnisse der Pisa-Studie, genauer der Schulleistungsstandsstudien zur Kompetenzmessung von Schülerinnen und Schülern, hat zu dem umstrittenen Begriff der "Risikogruppe" geführt. Schülern mit einer schwach ausgeprägten Lesekompetenz wird mit Pisa bescheinigt, dass sie auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt signifikant weniger Erfolg haben als ihre Altersgenossen. Generell ist es für Menschen mit geringer Grundbildung schwieriger geworden in den Arbeitsmarkt einzumünden. Einfacharbeitsplätze und Anlerntätigkeiten werden sukzessiv abgebaut oder ins Ausland verlagert. Die Arbeits- und damit die Lebenschancen von Lese- und Schreibschwachen hängen also nicht zuletzt von der Beschäftigungsstruktur einer Gesellschaft sowie von der Lage auf dem Arbeitsmarkt ab.

Die Situation auf dem Erwerbsarbeitsmarkt schlägt sich auch im Ausbildungsmarkt nieder. Reproduziert wird die so genannte Risikogruppe im deutschen dreigliedrigen Schulsystem vor allem in Haupt- und Förderschulen. Aber auch in Gesamt- und zu einem geringen Teil in Realschulen fallen Schüler in diese Gruppe. Damit handelt es sich in erster Linie um ein gesellschaftliches Risiko und nicht, wie die Diskussionen über Pisa suggerieren, um ein individuelles Problem.

Schulleistungsstudien wie Pisa blicken zwar auf die Kompetenz der Schüler. Sie geben jedoch keinen Aufschluss darüber, wie die Lernenden ihre Kenntnisse persönlich einschätzen. Selbst- und fremdreflexive Einblicke in diese Gruppe werden in der Bildungsforschung bislang kaum bearbeitet. Wie die Schüler ihre soziale Realität erleben, ihre Einstellungen und Haltungen sowie die Selbsteinschätzung ihres individuellen Leistungsniveaus bleiben ausgeklammert. Hier setzt eine Studie an, die im Rahmen des Forschungsprojektes lea. entsteht. Sie fokussiert auf junge Erwachsene in unterschiedlichen Bildungsangeboten der Berufsbildung, die der von Pisa identifizierten Risikogruppe zugeordnet werden können.


Defizite in der Schule gefährden Ausbildung

Ausgangspunkt für die Studie waren die Ergebnisse früherer quantitativ angelegter Studien. Diese untersuchten in Anlehnung an Pisa die unterschiedlichen Kompetenzniveaus der Lernenden im Ausbildungssystem. Vor allem die Hamburger Studie ULME II gibt wichtige Hinweise über die Kompetenzniveaus der Zielgruppe im Lesen und Schreiben sowie im Fach Mathematik. ULME II zeigt, dass junge Erwachsene am Übergang Schule - Beruf zu einem hohen Prozentsatz nicht über die notwendigen allgemeinbildenden Kompetenzen verfügen, um das Ausbildungssystem erfolgreich zu durchlaufen.

Vor allem die Leistungen in den Fächern Deutsch und Mathematik sind als zu gering einzuschätzen. Viele junge Erwachsene verfügen lediglich über Leistungsstände, die den Klassen fünf bis sieben einer allgemeinbildenden Schule entsprechen. Ein Teil der Gruppe, so hat die Studie KOMET der Universität Bremen belegt, kann innerhalb des Bildungsangebots seine Kenntnisse nachholen und verbessern und schließlich eine Ausbildung abschließen. Dennoch scheidet ein hoher Prozentsatz der jungen Erwachsenen frühzeitig aus dem Bildungsprozess aus.

Ein Großteil der nun befragten Bremer Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann die eigenen Defizite im Lesen und Schreiben konkret benennen. Allerdings fehlen ihnen meist ausreichende reflexive Kompetenzen, um die Probleme selbständig zu beheben und Fehlendes eigenverantwortlich nachzulernen, wie es die Struktur der Bildungsgänge in der Sekundarstufe II voraussetzt. Obwohl das Problem in der Praxis bekannt ist, fehlt hier ein systematischer Bildungsauftrag. Die Bearbeitung der Lücken erfordert eine hohe Unterstützung durch die Lehrkräfte. Eine zielgerichtete Hilfe setzt dabei voraus, dass die Lehrkräfte die Probleme erkennen, einordnen und in einer erweiterten Perspektive bearbeiten können. Hier ist ein Bedarf an Fort- und Weiterbildung im Bereich der Lese- und Schreibdiagnostik und der Förderung seitens der Lehrkräfte deutlich erkennbar.


Pisa-Risikogruppe motivierter als ihr Ruf

Die jungen Erwachsenen sind durchaus motiviert, Verpasstes aus der Sekundarstufe I im beruflichen und vorberuflichen Ausbildungssystem nachzuholen. In Maßnahmen zur Berufsorientierung und Berufsvorbereitung oder auch parallel zur beruflichen Ausbildung büffeln sie, um ihre Lese- und Schreibkenntnisse zu verbessern. Die befragten jungen Erwachsenen lassen sich dabei unterschiedlichen Motivationsgruppen zuordnen, die sich in den Zielen und Gründen unterscheiden. Die meisten Jugendlichen (81 Prozent), wollen ihre Literalität weiterentwickeln und verbessern. Doch jeder Fünfte hat dieses Ziel bereits aufgegeben.

Als Motivation für ihre Ziele kristallisieren sich im Wesentlichen die Hoffnung auf positive Emotionen und die Reduktion oder Vermeidung von negativen Emotionen heraus (siehe Grafik). Die motivierten jungen Erwachsenen wollen ihre Literalität weiterentwickeln, weil sie entweder nach schulischer oder beruflicher Integration streben, oder weil sie durch vermehrtes Lernen Ausgrenzung überwinden wollen. Diejenigen, die ihre Literalität nicht mehr verbessern wollen, schätzen entweder die aktuell erworbene Literalität für den weiteren Lebensweg als ausreichend ein, oder sie haben in ihrer Schullaufbahn bereits so viele negative Erfahrungen gesammelt, dass sie sich aus dem Lernprozess insgesamt zurückziehen.

Betrachtet man die Motivationsgruppen differenzierter, so wird deutlich, dass ein einheitliches pädagogisches Konzept nicht realistisch ist. Vielmehr benötigen die einzelnen Schüler und Berufseinsteiger unterschiedliche Konzepte, um sich dem Thema Literalitätsentwicklung erneut zuzuwenden und die Schulbücher erneut aufzuschlagen. Sie wünschen, dass der Nachhol-Unterricht an ihren konkreten Lebensbedingungen und Interessen anknüpft und die Aufgaben an den Berufsalltag angelehnt sind. Denn dies korrespondiert mit dem Ziel, in Ausbildung und Erwerbsarbeit erfolgreich einzumünden. Auch die heterogen zusammengesetzten Lerngruppen stellen ein pädagogisches Problem dar. Die Lese- und Schreibkenntnisse differieren innerhalb der Klassen und Gruppen stark. Sie reichen vom kompetenten Lesenden und Schreibenden bis zu Kompetenzbereichen weit unterhalb des Pisa-Levels I. Auf diesem Level verfügen junge Erwachsene lediglich über elementare Kenntnisse.


Unterricht braucht Bezug zum Berufsalltag

Pädagogische Nachlernprozesse müssen also neben den unterschiedlichen Motivationslagen auch dem unterschiedlichen Kenntnisstand der Zielgruppe Rechnung tragen. Denn einige der Lernenden sind trotz hoher Motivation noch sehr weit von dem Ziel entfernt, beispielsweise einen Hauptschulabschluss nachzuholen. Hier bedarf es im Unterricht einer täglichen Wiederherstellung von Motivation und einer individuellen Begleitung auf dem Weg zum kompetenten Lesenden und Schreibenden. Gerade die Schülerinnen und Schüler, die bereits einen Schulabschluss erworben haben, aber trotzdem noch Lücken in ihrer Rechtschreibung aufweisen, benötigen den täglichen Anschub.

Zur Förderung der Literalität bei jungen Erwachsenen sind jedoch nicht nur die unterschiedlichen Motivationslagen zu berücksichtigen. Sowohl in der Diagnostik als auch in der Förderung ist ein deutlicher Bezug zum beruflichen Handeln herzustellen. Die Studie zeigt, dass zum Nachlernen im beruflichen Übergangssystem - etwa im Berufsvorbereitungsjahr oder im Berufsgrundbildungsjahr - sowie im beruflichen Ausbildungssystem Instrumente zur altersgerechten Förderdiagnostik sowie berufsfeldorientierte Fördermaterialen notwendig sind. An diesen beiden Vorhaben wird zurzeit im Rahmen des Verbundprojekts lea. gearbeitet.


Eva Quante-Brandt ist Professorin an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Weiterbildung und Bildungsbenachteiligungen in der beruflichen Bildung. Sie leitet das Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule - Beruf und in der Arbeitswelt des Projektverbundes Literalitätsentwicklung von Arbeitskräften (lea.).

Eva Anslinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule - Beruf und in der Arbeitswelt. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin arbeitet an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Bildungsbenachteiligungen in der beruflichen Bildung.

Theda Grabow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen. Die Sozialwissenschaftlerin ist im Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule - Beruf und in der Arbeitswelt tätig. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die berufliche Integrationsförderung.


Weitere Informationen.
www.workforce.uni-bremen.de
www.aap.uni-bremen.de


*


Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2009, Seite 6-9
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Universitäts-Pressestelle
Postfach 330440, 28334 Bremen
Telefon: 0421/218-60 150, Fax: 0421/218-60 152
E-Mail: presse@uni-bremen.de
Internet: www.uni-bremen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2010