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SCHULE/585: Eindrücke von einer Reise in die schwedische Bildungslandschaft (DJI)


DJI Bulletin 83/84 - 3/4/2008
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Blick über den Zaun: Besuch von Schulen in Schweden
Lernen mit Pippi Langstrumpf - Eindrücke von einer Reise in die schwedische Bildungslandschaft

Von Vicki Täubig


Bei einem Studienbesuch in der Region Halland (Schweden) im Frühjahr 2008 konnte ich durch Gespräche mit kommunalen Bildungsverantwortlichen und Schulleiterinnen/Schulleitern einen Einblick in das schwedische Bildungssystem bekommen und dabei auch Kinder und Jugendliche in den Schulen beobachten. Mag sein, dass bei Studienbesuchen meist Best-Practice-Beispiele vorgestellt werden, die in der Regel kein repräsentatives Bild eines Schulsystems ergeben. Doch zum einen kann man immer etwas vom guten Beispiel lernen, zum anderen legten die Organisatorinnen und Organisatoren dieses Studienbesuchs großen Wert darauf, ein breites Spektrum an schulischen Einrichtungen zu zeigen. Im Folgenden sind einige Eindrücke und Erfahrungen aus Halland zusammengefasst.



Merkmale des schwedischen Schulsystems

Ab dem ersten Geburtstag stehen den Kindern vor Einsetzen der Schulpflicht die Förskolan (Vorschule) oder auch das familjedaghem (Familientagesheim) zur Verfügung.

Schulpflicht besteht für Kinder und Jugendliche im Alter von sieben bis sechzehn Jahren.

Mit Eintritt in die Pflichtschule, der mit Vollendung des sechsten Lebensjahres möglich ist, besuchen die Kinder neun Jahre gemeinsam die Skolan.

Für Kinder mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten existieren gesonderte Schulen, die über neun oder zehn Jahre besucht werden; dabei werden parallel auch integrative Konzepte umgesetzt.

Für Angehörige der in der Nordhälfte des Landes beheimateten samischen Minderheit sind eigene Schulen vorhanden, die Schüler bis zum 13. Lebensjahr nutzen können.

Als weiterführende Schulen stehen die Gymnasiet zur Verfügung - auch hier gibt es neben der »Normalschule« spezielle Schulen für Schüler/innen mit Lernschwierigkeiten sowie integrative Formen.

Die Gymnasiet werden ab dem 16. bis maximal zum 20. Lebensjahr besucht. Die Schüler/innen wählen aus 17 verschiedenen Programmen, die eine starke Berufsorientierung aufweisen können oder aber auf ein Studium vorbereiten sollen.

Der Übergang von den Gymnasiet, beispielsweise in die Universitäten, kann bereits mit 18 Jahren erfolgen.



Wie steht es mit der Bildungsverantwortung?

Die Beschäftigung mit »Bildungslandschaften« schließt immer die Frage nach der Übernahme von Bildungsverantwortung mit ein. Im Jahr 1991 wurde durch eine Reform die Kommunalisierung von Bildung in Schweden eingeführt. Sie scheint mittlerweile selbstverständlich geworden und sticht durch die Brille der »Bildungslandschaften« gesehen ins Auge:

Die Kommunen unterhalten nicht nur die »Hülle« der Schulen; sie haben gemeinsam mit der Schulleitung die Verantwortung für das Personal und die Umsetzung des nationalen Lehrplans - ganz im Gegensatz zur klassischen, sich immer mehr auflösenden Aufgabenteilung zwischen äußeren und inneren Schulangelegenheiten in Deutschland.

Auf der nationalen Ebene werden die Ziele gesteckt und deren Evaluation vorgenommen. Der Weg zu diesen Zielen wird in den Kommunen jedoch relativ autonom beschritten.

Die zwischen den Kommunen und der nationalen Ebene stehenden 21 Regionen des Landes sind keinesfalls mit denen unserer Bundesländer vergleichbar, da Schweden kein föderaler Staat ist. Auf diese regionalen Verwaltungseinheiten entfallen nur wenige Zuständigkeiten, die die kommunale Selbstverwaltung einzelner Kommunen übersteigen würden. Die Regionen können, wie das Beispiel Halland zeigt, auch Schulträger sein und Vernetzungsfunktionen übernehmen.

Was wird für die Bildung der Kinder und Jugendlichen ausgegeben?

Eine Wahrnehmung von Bildungsverantwortung auf kommunaler Ebene bedeutet natürlich auch die Finanzierung von Bildung über die kommunalen Haushalte. Diese Selbstverständlichkeit wird durch eine zweite ergänzt: Kommunale Vertreter/innen erzählen ohne großes Aufheben über die gewichtige Haushaltsposition »Bildung«. Zur selbstverständlichen Kostenintensität von Bildung zwei Beispiele:

Die mit 23.000 Einwohnern eher kleine Gemeinde Laholm unterhält

- 18 Förskolan für 800 Kinder,
- 17 Skolan für 2.400 Kinder und Jugendliche,
- ein Gymnasiet für 600 Jugendliche.

Dafür wendet die Gemeinde aus ihrem Gesamthaushalt von einer Milliarde Kronen 420 Millionen (102 Millionen Euro) auf.

Kungsbacka, eine Kommune mit 72.000 Einwohnern, stellt für Vor- und Pflichtschulen 35 % sowie für die Gymnasien und Erwachsenenbildung 10 % ihres Haushalts zur Verfügung, was 45 % des Gesamthaushalts sind.

Für die kommunalen Vertreter in Schweden sind Bildungsausgaben von über 40 % »normal«, eben selbstverständlich. Ein Vergleich mit Deutschland ergäbe aufgrund der unterschiedlich gelagerten Verantwortungs-, sprich Finanzierungsebenen keinen Sinn, denn es können nur die öffentlichen Bildungsausgaben anteilig am Bruttoinlandsprodukt gegenübergestellt werden. Hier liegt Schweden bei 6,4 %, Deutschland bei 5,1 % und der EU-Durchschnitt bei 5,5 % (OECD 2008, S. 237).



Schule als anregende Lern- und Lebensumgebung

Was bedeuten aber solche Selbstverständlichkeiten für die Kinder und Jugendlichen? Wie sieht ihr Ort der formalen Bildung (Schule) aus?

Die Schulen warten mit großen hellen Foyers auf, die nicht nur für Gäste zentrale Treffpunkte sind. Hier kreuzen sich die Wege zwischen den Fachräumen oder zur Bibliothek. Sitzecken, Schulkiosks oder Kaffeebars (in weiterführenden Schulen) sowie die frei zugänglichen PCs laden die Schüler/innen zum Verweilen ein.

Großzügigkeit scheint nicht nur für die Foyers zu gelten, sondern zeigt sich generell als bauliches Prinzip für die Gestaltung der Räume:

Besonders an den Gymnasiet steht eine Vielzahl an Fachräumen zur Verfügung. Entsprechend der Programmausrichtung (dies können z. B. Kunst, »Natural Ressource Use« oder »Hotel und Restaurant« sein) verfügen die Schulen über Theatersäle, Gewächshäuser, Floristikwerkstätten, (Kuh-) Ställe oder öffentlich nutzbare Restaurants. Auch die Skolan warten mit Werkstätten für Hand- und Holzarbeit auf.

Die Weitläufigkeit der mehrere Gebäude umfassenden Schulen setzt sich im Schulgelände fort: So schließt sich ein Wald oder eine große Wiese mit Teich oder eine alte Scheune an den »Schulhof« an. Die an die Schule angrenzende »Lern- und Lebensumgebung« ist von ihr nicht durch einen Zaun getrennt, sondern gehört zur Schule und wird einbezogen; so ist beispielsweise die alte Scheune auf der Wiese zugleich ein Bienenhaus, in dem die Kinder sich mit den Arbeiten der Imkerei vertraut machen können. Zweckmäßig wird das genutzt, was in der Lebensumgebung vorhanden ist.

Fehlen die Räume aufgrund eines rasch wachsenden Ausbaubedarfs noch für die Vorschule, werden für die Kinder vorübergehend Containerbauten zur Verfügung gestellt. Doch auch hier sind, wie in allen anderen Schulen, Küche und Speiseraum vorhanden.

Die Schulmensen gehören zur Grundausstattung der Schulen: Neben strikter Lehr- und Lernmittelfreiheit besteht auch »Lebensmittelfreiheit«, wie die kostenlose Schulspeisung (auch in der deutschen Debatte) derzeit bezeichnet wird.

»Gelebte« Lehr- und Lernmittelfreiheit lässt sich beobachten, wenn die Schüler/innen mit ihren Laptops im Foyer sitzen. Allen Schülerinnen und Schülern der Schule steht ein persönlicher Laptop zur Verfügung, den sie auch mit nach Hause nehmen können.

Gemeinsamer Schulalltag von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern

Die Lehrer/innen in Schweden haben eine Wochenarbeitszeit von 45 Stunden, davon besteht für 35 Stunden die Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz. Vor- und Nachbereitung des Unterrichts finden in der Schule statt, so dass Schüler/innen und Lehrer/innen den Schultag gemeinsam verbringen. In diesem Beispiel einer »Ganztagsschule - auch für Lehrer/innen« sind mitunter die Lehrpersonen länger als die Schüler/innen in der Schule:

Wenn die Schüler/innen in dieser Pflichtschule um 8.30 Uhr mit dem Unterricht beginnen, sind ihre Lehrer/innen schon eine halbe Stunde verpflichtend anwesend.

Wenn die Schüler/innen um 14.30 Uhr nach Hause oder in ein außerschulisches Betreuungsangebot gehen, verlassen die Lehrer/innen mit ihnen gemeinsam die Schule oder bleiben an zwei Tagen pro Woche zwei Stunden über diesen Zeitpunkt hinaus anwesend.

Der Schulleiter einer »ganz normalen« Stadtteilschule (und keiner Vorzeigeschule) formulierte eine Auffassung von Pädagogik, die sich am Leitbild einer Schülerin namens Pippi Langstrumpf orientiert - denn Schule müsse so sein, dass auch Pippi mehr als nur einen Tag im Leben die Schule besucht hätte. Die weiten Räume dieser Schule sowie die guten strukturellen Bedingungen formaler Bildung werden hier von einer Pädagogik »beseelt«, die ein Paradebeispiel für gelingende Lebensführung durch informelles Lernen darstellt. Gleichzeitig erkennt der Schulleiter die Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen: Sein Team soll anstrengende, rotzöpfige Mädchen nicht ausgrenzen, sondern sich mit gesellschaftlicher Heterogenität konfrontieren.


Kontakt:
Dr. Vicki Täubig
taeubig@dji.de

Literatur:
OECD (2008): Education at a Glance. Paris
Skolverkert (Nationale Agentur für Bildung) (2008): An overview of the swedish education system. http://skolnet.skolverket.se/polopoly/utbsys-eng/ (30.10.2008)


Projekt:
Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe.
Laufzeit:
01.02.2007 - 31.01.2010
Auftraggeber:
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Durchführung:
Dr. Heinz-Jürgen Stolz, Monika Bradna, Dr. Vicki Täubig Informationen:
www.dji.de/lobi
Informationen zu den europäischen Studienbesuchen für Bildungs- und Berufsbildungsfachleute im Rahmen des EU-Querschnittsprogramms für Lebenslanges Lernen 2007-2013 (LLP):
http://www.kkmk-pad.org/index.php?id=45


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 83/84, 3/4/2008, S. 32-33
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2009