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SCHULE/575: Bildung ohne Religionsunterricht? (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2008

Bildung ohne Religionsunterricht?

Von Ulrich Kropac


Bildung heißt Vertrautmachen mit unterschiedlichen Weisen von Weltbegegnung. In der aktuellen Bildungsdiskussion wird dabei von unterschiedlichen Rationalitätsmodi gesprochen. Lässt sich der Religionsunterricht mit diesem Konzept vereinbaren? Kann religiöse Bildung beanspruchen, unverzichtbarer Teil allgemeiner Bildung zu sein?


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Gesellschaft und Schule werden gegenwärtig beherrscht vom Thema "Bildung". Insofern kommt der Wunsch des Trägers der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, "Bildung" zu einem (Forschungs-)Schwerpunkt auszugestalten, buchstäblich "pünktlich". Bei all diesen Bemühungen handelt es sich nicht um eine Modeerscheinung. "Bildung" wird über den Tag hinaus Thema bleiben. Das hat auch Konsequenzen für den Religionsunterricht. Wenn er als ordentliches Lehrfach weiterhin ernst genommen und akzeptiert werden will, dann muss er im öffentlichen Diskurs deutlich machen können, was (christliche) Religion zur Bildung beiträgt.

Den Spuren einer längeren bildungsgeschichtlichen Tradition folgend, hat der Pädagoge Jürgen Baumert in Erinnerung gerufen, dass es verschiedene Modi der Weltbegegnung gibt. Diese interpretiert er als spezifische Formen von Rationalität. Sie "eröffnen jeweils eigene Horizonte des Weltverstehens, die für Bildung grundlegend und nicht wechselseitig austauschbar sind". Im Einzelnen unterscheidet Baumert vier Typen von Rationalität:

kognitive Rationalität (Mathematik, Naturwissenschaften);
ästhetisch-expressive Rationalität (Sprache/Literatur, Musik/Malerei/Bildende Kunst, physische Expression);
normativ-evaluative Rationalität (Geschichte, Ökonomie, Politik/ Gesellschaft, Recht);
konstitutive Rationalität (Religion, Philosophie).

Schulen moderner Gesellschaften erfüllen ihren Auftrag, eine allgemeine Bildung zu vermitteln, wenn sie Schülerinnen und Schüler mit jeder dieser unterschiedlichen Rationalitätsformen vertraut machen. Diesen Gedanken nehme ich auf und bestimme - erstens - das Proprium religiöser Bildung vom Begriff der Rationalität her. Diese Entscheidung ist keine Selbstverständlichkeit! Sie steht quer zu der verbreiteten Vorstellung, dass Religion etwas sehr Persönliches sei, das wenig mit dem Verstand, dafür aber viel mit dem Gefühl und mit dem Herzen zu tun habe. Weil - zweitens - Religion eine Wirklichkeit ist, die den Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln betrifft, ist es nötig, dem von mir so genannten Begriff der religiösen Rationalität drei Dimensionen einzuzeichnen: eine kognitive, eine ästhetische und eine praktische.


Kognitive Dimension von religiöser Rationalität

Dass Vernunft und Glaube keine einander ausschließenden, sondern vielmehr aufeinander bezogene Größen sind, ist ein theologisches Grunddatum, das Benedikt XVI. wiederholt thematisiert hat. Diese positive Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Denken hat Konsequenzen für den Religionsunterricht.

Anders als noch vor einigen Jahrzehnten vermutet ist Religion nicht aus der modernen Gesellschaft verschwunden. Entgegen der radikalen Säkularisierungsthese ist z.B. in der Soziologie und in den Kulturwissenschaften von einer "Rückkehr" der Religion die Rede. Religiosität ist jedoch nicht identisch mit (christlichem) Glauben: Viele Menschen verstehen sich zwar als religiös, nicht aber als gläubig im Sinne der Bindung an eine der großen Kirchen. Die Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft ist vielfältig und ambivalent. In den Medien, im Sport, in der Werbung usw. spielt Religion eine wichtige Rolle. Dies macht Unterscheidungen nötig. Aufgabe einer zeitgemäßen religiösen Bildung muss es sein, Schülerinnen und Schüler zu einer kritischen Beurteilung des religiösen Feldes in seiner ganzen Breite zu befähigen. Junge Menschen sollen lernen, dass der Umgang mit Religion nicht ein Verstummen der Vernunft impliziert, sondern dass sich im Gegenteil alle religiösen Artikulationsformen einer kritischen Kontrolle durch die Vernunft stellen müssen.

Eine wichtige Aufgabe heutigen Religionsunterrichts ist, wie die deutschen Bischöfe 2005 in dem Dokument "Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen" schreiben, die "Vermittlung von strukturiertem und lebensbedeutsamem Grundwissen über den Glauben der Kirche". Dieses hat sich "an der inneren Struktur und Logik des von der Kirche bezeugten Glaubens" auszurichten. Daraus ergibt sich eine wichtige Lernchance für Schülerinnen und Schüler: Sie können ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sich der Glaube nicht in einem mehr oder minder zusammenhangslosen Summarium von Glaubenssätzen ausdrückt, sondern dass er systematische und systemische Gestalt besitzt.

Religion beginnt nicht erst da, wo der ökonomische Sachverstand versagt oder das naturwissenschaftliche Denken an Grenzen stößt. Eine Religion, die an den Rändern der Vernunft ansetzt, läuft Gefahr, in Aberglauben umzuschlagen oder fundamentalistisch zu werden. Glaube und Vernunft stehen vielmehr in einem Spannungsverhältnis, das für beide produktiv ist: Der Glaube bedarf der Vernunft, denn die Annahme des Glaubens ist kein blinder Gehorsam, sondern verantwortete Entscheidung des ganzen Menschen. Wer sich beim Glauben nur auf sein subjektives Gefühl verlässt, "kann nicht wissen, ob er die Stimme Gottes oder die seines Unterbewusstseins hört" (Karl Lehmann). Umgekehrt kann die die säkulare Vernunft von der Glaubensvernunft profitieren. Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Gianni Vattimo und andere Intellektuelle haben in jüngster Zeit Religion philosophisch nobilitiert. Sie wird als eine Ressource für die Lösung drängender Probleme der Gegenwart und Zukunft, wie sie sich beispielsweise aus der Gentechnik oder der Globalisierung ergeben, gewürdigt. Für den Religionsunterricht bedeutet dies: Er gewinnt sein Profil nicht dadurch, dass er die Religion als unversöhnliches Gegenüber zur Vernunft deklariert und Ressentiments gegenüber der Ratio schürt. Im Gegenteil: Religionsunterricht muss wie Kardinal Karl Lehmann jüngst formuliert hat, "Anwalt der Vernunft" sein.


Ästhetische Dimension von religiöser Rationalität

Ästhetik" ist eine schillernde Vokabel. So, wie ich sie im Folgenden gebrauche, meint sie nicht weniger als einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit. Ästhetik ist als ein sinnlich orientiertes und subjektbezogenes Wahrnehmen, Deuten und Gestalten von Wirklichkeit zu verstehen. Sie verkörpert, wie die aktuelle vernunfttheoretische Diskussion deutlich gemacht hat, einen eigenen Typus von Rationalität, der die rationale Vernunft komplementär ergänzt.

Grundlegend für Religion ist ihre ästhetische Signatur. Ich nenne einige Beispiele: Religion verfügt über verschiedene Formen ästhetischer Rede; zu denken ist beispielsweise an Bildworte, Metaphern, Gleichnisse, Erzählungen und poetische Texte. Religion zeigt sich in Werken der Kunst, macht sich vernehmbar in der Musik. Sie manifestiert sich in sakralen Räumen und gewinnt Gestalt in liturgischen Vollzügen. Religiosität zeigt sich aber auch in der Alltagswelt, manchmal verdeckt und versteckt, manchmal nur in Spuren oder Spurenelementen. Diese vielfältigen religiösen Artikulationsformen haben eine Eigenlogik, die sich ästhetischer Rationalität erschließt.

Religiöse Bildung ist wesentlich ästhetische Bildung. Sie leitet Schülerinnen und Schüler dazu an, religiöse Zeugnisse wahrzunehmen, zu deuten, und in ihnen eine eigene Logik zu entdecken. Zu den Objekten ästhetischer Bildung im Religionsunterricht gehören die verschiedenartigen Formen gelebter Religiosität im Alltag: nichtkirchliche bzw. "vagabundierende" Religiosität, Ausdrucksformen des christlichen Glaubens und Artikulationsgestalten fremder Religionen. Dazu gehören auch und besonders Werke der Kunst und der Musik, gleichgültig, ob sie sich selbst religiös verstehen oder nicht. Schließlich fällt der ganze Bereich des Umgangs mit (religiösen) Symbolen in das Aufgabenfeld ästhetischer Bildung im Religionsunterricht.


Praktische Dimension von religiöser Rationalität

Eine Religion, die für die menschliche Praxis nichts austrägt, ist irrelevant. Die praktische Seite des Christlichen wird besonders im Bereich ethisch-moralischen Handelns sichtbar. Auch hier besitzt die christliche Religion eine eigensinnige Struktur, die den Namen "Rationalität" verdient. Moralisches Handeln in christlicher Perspektive nimmt zum einen Maß an der Offenbarung, besonders natürlich an der Heiligen Schrift - wiewohl die Bibel kein Kompendium von Anweisungen ist, wie Menschen in den unterschiedlichsten moralischen Situationen zu handeln hätten. Zum anderen ist christliche Moral ebenso wie die von der Aufklärung propagierte autonome Moral zentral auf die Vernunft angewiesen.

Schülerinnen und Schüler sollen im Religionsunterricht lernen, dass sich moralisches Handeln in christlicher Perspektive nicht auf eine Gebots- oder Verbotsmoral reduziert, sondern eine Grundstruktur besitzt, die moralischem Handeln generell zukommt. Charakteristisch dafür ist ein Zusammenwirken von "Weltanschauung" und Vernunft. Dieser Struktur entkommt auch ein - ich nenne das einmal so - "humanistisches" Ethos, das in seinen Begründungsfiguren auf den Gottesgedanken verzichtet, nicht. Auch ein solches Ethos geht in der Konstitution seines Menschenbildes von Voraussetzungen aus, die nicht noch einmal rational begründet werden können. Ob nun ein christliches oder ein "humanistisches" Ethos größere Plausibilität entfaltet, bleibt der persönlichen Entscheidung jeder Schülerin und jedes Schülers überlassen.

Moralisches Handeln unter christlichem Vorzeichen hat seine tiefsten Wurzeln nicht in Normen und Prinzipien, sondern in der persönlichen Beziehung zu Gott. Dies hat Auswirkungen auf den Umgang mit schwierigen Entscheidungssituationen und mit Situationen moralischen Strauchelns und Scheiterns. Religionsunterricht versucht Schülerinnen und Schülern den Blick dafür zu öffnen, dass sie gerade in einer solchen Lage nicht auf sich selbst zurückgeworfen sind. Welche Schuld auch immer ein Mensch auf sich geladen hat, Gott ermöglicht einen Neuanfang, selbst wenn innerweltlich dieses Versagen nicht vergeben wird und möglicherweise auch nicht mehr gutgemacht werden kann. An diesem Punkt stößt ein "humanistisches" Ethos an seine Grenzen.

Moralisches Handeln ist, wie vorher gesagt wurde, von der Vernunft im Horizont einer bestimmten Weltanschauung geleitet. Es ist aber auch, und zwar entscheidend, von persönlichen Erfahrungen geprägt. Das heißt konkret: Der christliche Zuspruch, dass Gott jede Schuld verzeiht, trifft einen Menschen nur dann, wenn er der erlösenden Macht von Vergebung selbst gewiss geworden ist und wenn er dies an den Gottesgedanken zurückbinden kann. Solche Erfahrungen kann der Religionsunterricht nicht generieren, und er darf Erfahrungen von Vergebung und Erlösung nicht vorschnell als christliche stilisieren. Immerhin eröffnen das Erzählen, das Modell-Lernen und Compassion-Projekte Wege, dass Schülerinnen und Schüler moralisch relevante Erfahrungen sammeln, die sie möglicherweise dann selbst religiös deuten.

Der Physiker und Kabarettist Vince Ebert gibt auf die Frage "Was ist eigentlich Wissenschaft?" folgende Antwort: "Wissenschaft ist eine Methode zur Überprüfung von Vermutungen. Wenn ich z.B. vermute: 'Im Kühlschrank könnte noch Bier sein...' und ich gucke nach, dann betreibe ich im Prinzip schon eine Vorform von Wissenschaft. Das ist der große Unterschied zur Theologie. In der Theologie werden nämlich Vermutungen in der Regel nicht überprüft. Wenn ich also nur behaupte 'Im Kühlschrank ist Bier' bin ich Theologe, wenn ich nachgucke, bin ich Wissenschaftler."

Bei aller Lust am Kabarett: In meinen Augen ist das "Kühlschrank-Prinzip" Eberts eine Denkfigur, die das Wesen von Religion sowohl wissenschaftstheoretisch als auch bildungstheoretisch verfehlt. Religion beschäftigt sich mit existentiellen Grundfragen wie "Wo kommen wir her?", "Wo gehen wir hin?", "Warum müssen wir leiden?" usw. Solche Fragen sind nicht beantwortbar in dem Sinn, dass - wie in den Naturwissenschaften - eine Hypothese getestet wird. Dennoch ist es nötig, sich mit ihnen zu beschäftigen, denn - so schreibt Fulbert Steffensky - "eine Schule hat als Bildungseinrichtung verloren, wenn sie nur noch beantwortbare Fragen stellt und behandelt". Und es ist möglich, so meine Überzeugung, sich mit den "großen" Fragen auf eine Weise auseinanderzusetzen, die den Namen "Rationalität" verdient. Mit dieser religiösen Rationalität in ihrer kognitiven, ästhetischen und praktischen Dimension vertraut zu machen ist Aufgabe eines Religionsunterrichts, der sich auf der Höhe der aktuellen Bildungsdiskussion bewegt und religiöse Bildung als integralen Teil allgemeiner Bildung zur Geltung bringen will.


Prof. Dr. Ulrich Kropac ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der KU. Zu seinen Schwerpunkten gehört u.a. die Bibeldidaktik am Lernort Schule.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2008, Seite 22-24
Herausgeber: Der Vorsitzende der Hochschulleitung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2009