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HOCHSCHULE/1769: Wachstum in der Nische - duale Studiengänge (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 138/Dezember 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wachstum in der Nische
Mit dualen Studiengängen entstehen Hybride von Berufs- und Hochschulbildung

von Lukas Graf



Kurz gefasst: Das deutsche Bildungsmodell ist traditionell durch eine starke institutionelle Trennung zwischen dem Berufsbildungs- und dem Hochschulsystem gekennzeichnet. Die neuere Entwicklung dualer Studiengänge hat zur Verknüpfung von Elementen aus beiden Systemen geführt. Das schnelle Wachstum dieser Studiengänge wird durch den Aufbau hybrider Organisationsstrukturen ermöglicht - außerhalb der etablierten Governance-Strukturen der Berufs- und Hochschulbildung.


Deutschland ist international bekannt für sein umfassend ausgebautes System der dualen Lehre. Die starke Präsenz des dualen Ausbildungssystems geht allerdings mit einer starken institutionellen Trennung zwischen der Berufsbildung und der Hochschulbildung einher - eine Trennung, die der Bildungssoziologe Martin Baethge als Bildungs-Schisma bezeichnet. Das Nebeneinander dieser getrennten Welten ist in der deutschen Sozialstruktur wie auch im wirtschaftlichen Produktionsmodell tief verwurzelt. Die beiden Bildungsbereiche zeichnen sich traditionell durch unterschiedliche curriculare Zielperspektiven, Instruktionsprinzipien, Steuerungsmechanismen und Finanzierungsstrukturen aus.

In den vergangen zwei Jahrzehnten ist das Bildungs-Schisma als Barriere für soziale und institutionelle Durchlässigkeit zunehmend in die Kritik geraten. Die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft stellt immer höhere Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten, und junge Menschen haben vermehrt den Wunsch, eine höherwertige Ausbildung zu machen. Daher wurde der Ruf nach größerer Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung lauter.

Zwar existieren zum Teil Übergangsmöglichkeiten zwischen der Berufs- und Hochschulbildung, etwa in Form des zweiten und dritten Bildungswegs; die verschiedenen Bildungsstätten lassen sich aber in der Regel eindeutig einem der beiden Felder zuordnen. Mit einer grundsätzlichen Aufhebung der strikten Trennung ist nicht zu rechnen. Dafür sind die Partikularinteressen der jeweiligen Stakeholder zu stark. Im Berufsbildungssystem gibt es beispielsweise eine Reihe von Akteuren, denen nicht daran gelegen ist, den Anteil des allgemeinbildenden Unterrichts auf Kosten der betrieblichen Praxisanteile zu erhöhen. Das gilt insbesondere für jene Betriebe, die vornehmlich an Auszubildenden als billige Arbeitskräfte interessiert sind. Im Hochschulsystem bremsen etwa elitäre Ansprüche des Bildungsbürgertums eine bessere Anpassung des universitären Lehrbetriebs an die Bedürfnisse nichttraditioneller Studierender wie zum Beispiel Menschen mit Berufserfahrung, aber ohne Abitur.

Dennoch gibt es Entwicklungen, die einen Wandel andeuten, der zwar nicht die beiden Systeme als Ganzes in Frage stellt, aber doch eine gewisse Dynamik in die so lange festgefügte Situation gebracht hat. Ein wichtiges Element einer sich bottom-up entwickelnden Veränderung sind die sogenannten dualen Studiengänge. Im April 2011 erfasste das Bundesinstitut für Berufsbildung 929 duale Studiengänge mit insgesamt mehr als 61.000 Studienplätzen. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine Zunahme des Studienplatzangebots um 21 Prozent. Duale Studiengänge werden insbesondere in den Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften sowie der Informatik angeboten. Anbieter dualer Studiengänge sind in erster Linie Fachhochschulen, Berufsakademien, einige Universitäten sowie die Duale Hochschule Baden-Württemberg.

Wie konnte es angesichts der Stabilität des Bildungs-Schismas überhaupt zur Entstehung und Expansion solcher dualen Studiengänge kommen und was bedeutet deren Aufkommen für das zweigeteilte System insgesamt? Die ersten Vorläufer dualer Studiengänge wurden von Berufsakademien angeboten. Berufsakademien wurden seit Anfang der 1970er Jahre in Baden-Württemberg und sukzessive in weiteren Bundesländern eingeführt. Ihre Genese lässt sich zunächst auf die Eigeninitiative großer Industriebetriebe in Baden-Württemberg zurückführen. Schrittweise wurde das Konzept auch von vielen Fachhochschulen und einigen Universitäten übernommen. Darüber hinaus wurde in den letzten Jahren eine Reihe von Berufsakademien in Hochschulen integriert oder in sogenannte Duale Hochschulen umgewandelt (zum Beispiel die Duale Hochschule Baden-Württemberg). Inzwischen werden duale Studiengänge in allen 16 Bundesländern angeboten.

Duale Studiengänge sind keine von langer Hand geplanten Bildungsprogramme, sondern entstanden eher zufällig in einer Zeit größerer bildungspolitischer Umwälzungen. Dementsprechend wird die anhaltende Expansion der dualen Studiengänge weniger durch die Bildungspolitik von oben herab gesteuert. Vielmehr wird sie durch die Kooperation großer und mittelgroßer Betriebe mit an innovativen Studienprogrammen interessierten Hochschulen bzw. Akademien bottom-up vorangetrieben. Duale Studiengänge bieten Unternehmen im Hinblick auf den befürchteten Fachkräfte- und Ingenieurmangel eine attraktive Möglichkeit für die Rekrutierung von leistungsstarken Abiturientinnen und Abiturienten. Weiterhin erfüllen duale Studiengänge die Erwartungen einer wachsenden Gruppe von Personen mit Hochschulzugangsberechtigung, die nach einer anspruchsvollen, schnellen, praktisch orientierten - sowie entlohnten - akademischen Ausbildung mit sehr guten Übernahmechancen in den Ausbildungsbetrieb streben. Darüber hinaus hat die mit dem Bologna-Prozess verbundene Einführung der Bachelorabschlüsse im Falle der dualen Studiengänge zu einer verbesserten internationalen Anerkennung geführt.

Duale Studiengänge verbinden organisatorische und curriculare Elemente des Berufsbildungs- und des Hochschulsystems und verknüpfen dabei die Lernorte Betrieb und Hochschule bzw. Akademie. Sogenannte ausbildungsintegrierende duale Studiengänge - die in machen Fällen eine Berufsschule mit einbinden - werden in der Regel mit einem anerkannten Abschluss aus dem Berufsbildungssystem sowie einem Bachelor abgeschlossen. Neben diesem ursprünglichen Typ gibt es praxisintegrierende, berufsintegrierende und berufsbegleitende duale Studiengänge. Diese funktionieren ebenfalls nach dem Grundprinzip einer systematischen inhaltlichen und organisatorischen Verknüpfung von Theorie- und Praxisphasen, führen mit dem Bachelor aber lediglich zu einem Abschluss. Während die ausbildungs- und praxisintegrierenden Studiengänge primär auf die berufliche Erstausbildung von Interessenten mit Hochschulzugangsberechtigung abzielen, sind die berufsintegrierenden und berufsbegleitenden Studiengänge vor allem auf die berufliche Weiterbildung von schon Berufstätigen ausgerichtet.

Die dualen Studiengänge verknüpfen zentrale Regeln, Normen und Leitbilder aus den beiden ansonsten getrennten Welten der Berufs- und der Hochschulbildung, zum Beispiel bezüglich Curricula, Lehrpersonal oder Finanzierung. Sie sind also hybride Organisationsformen. Dieser hybride Charakter stellt gleichzeitig eine neue Form der institutionellen Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung dar.

Duale Studiengänge in der oben beschriebenen Form sind bislang ein vornehmlich deutsches Phänomen. Selbst in den - im internationalen Vergleich ähnlichen - schweizerischen und österreichischen Bildungssystemen sind sie bis zum heutigen Zeitpunkt noch kaum bekannt. Da sie in einer Nische zwischen traditioneller Berufsbildung und der Hochschulbildung entstanden sind, bleiben die beiden so lange getrennten Bildungsbereiche im Kern ihrer jeweiligen institutionellen Ordnung vorerst unberührt. Während Reformversuche in den beiden etablierten Feldern der Berufs- und Hochschulbildung meist auf den Widerstand einer oder mehrerer Interessensgruppen stoßen, bieten duale Studiengänge derzeit ein Experimentierfeld für organisatorische Innovation.

Die langfristigen Implikationen der Expansion dualer Studiengänge auf traditionelle Bildungsgänge sowie den Grad der sozialen Mobilität im deutschen Bildungssystem bleiben abzuwarten. Zwar haben duale Studiengänge die institutionelle Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung erhöht. Mit ihrem hybriden Aufbau belegen sie, dass die Unterschiede zwischen diesen beiden Feldern überwindbar sind. Zudem fördern duale Studiengänge das gegenseitige Kennenlernen der Akteure in der Berufs- und Hochschulbildung. Aber der Beitrag dualer Studiengänge zur Erhöhung der sozialen Durchlässigkeit des Systems insgesamt ist bisher weniger deutlich ausgeprägt. Die ausbildungs- und praxisintegrierenden dualen Studiengänge - und damit die mit Abstand am häufigsten frequentierten Typen dualer Studiengänge - richten sich üblicherweise an besonders leistungsstarke Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Hochschulzugangsberechtigung.

Die Entstehung hybrider Ausbildungsformen hat in Zukunft wahrscheinlich auch Nebenwirkungen auf die Berufsbildung, die ja in Deutschland traditionell stark korporatistisch geprägt ist. In der dualen Lehre ist der Einfluss der Arbeitgeber und der der Arbeitnehmer institutionell fest verankert. In den Aufbau und die Entwicklung dualer Studiengänge sind die Gewerkschaften hingegen kaum mit einbezogen; gewerkschaftliche Arbeit spielt im deutschen Hochschulsystem historisch eine geringere Rolle. Die Arbeitgeberseite hat also im Bezug auf die Governance dualer Studiengänge strukturell stärkeren Einfluss.

Im Rahmen der für die Akkreditierung von Bachelorabschlüssen allgemein vorgegebenen Kriterien wird die spezifische Ausprägung eines dualen Studiengangs hauptsächlich vom jeweiligen Aushandlungsprozess zwischen der tertiären Bildungseinrichtung und den assoziierten Betrieben bestimmt. Dies spiegelt sich unter anderem in einer viel geringeren Standardisierung der Lernprozesse in den dualen Studienprogrammen im Vergleich zur klassischen Lehre wider. So variiert beispielsweise die Organisation des Lernens im Betrieb wie auch die Bezahlung der Studierenden von Fall zu Fall. Lediglich in den ausbildungsintegrierenden dualen Studiengängen bestehen für den Abschluss, der zusätzlich in einem anerkannten Ausbildungsberuf erreicht wird, durchgängigere inner- und außerbetriebliche Standards.

Die Auswirkungen der geringeren Standardisierung dualer Studiengänge sind noch nicht umfassend erforscht. Es ist wahrscheinlich, dass die erhöhte Flexibilität den Übergang in den sich rasch wandelnden Arbeitsmarkt zu einem gewissen Grad für die Absolventinnen und Absolventen erleichtert. Andererseits kann der starke Einfluss der beteiligten Firmen auf die individuelle Gestaltung dualer Studiengänge die Ganzheitlichkeit der akademischen und beruflichen Ausbildung zugunsten betriebsspezifischer Inhalte gefährden. Auch im Hinblick auf Entlohnung, Arbeits- und Lernumfeld sowie betriebliche Interessensvertretung sind je nach lokaler Praxis mehr oder weniger wünschenswerte Studienbedingungen möglich. Zudem stellen duale Studiengänge die ohnehin schon fragile bildungspolitische Tradition der Zusammenarbeit großer, mittlerer und kleiner Betriebe in der Organisation beruflicher Ausbildung infrage. Gerade für kleinere Firmen ist die Aufnahme eines solchen Programms oft zu aufwendig.

Duale Studiengänge bedeuten also in mehrfacher Hinsicht eine beachtenswerte Entwicklung im deutschen Bildungsmodell. Duale Studiengänge zeigen den zunehmenden Bedarf an stärkerer institutioneller Durchlässigkeit an der Schnittstelle von Berufs- und Hochschulbildung auf - wobei ihr Potenzial zur Erhöhung sozialer Durchlässigkeit noch nicht ausgeschöpft wird. Gleichzeitig ist die politische Regulierung der dualen Studiengänge hinsichtlich transparenter Bildungsstandards noch weitgehend unterentwickelt. Das rasante Wachstum der dualen Studiengänge und der große Einfluss der Unternehmen auf deren Ausgestaltung werden eine breitere gesellschaftliche Debatte des sozialen Bildungsauftrags dieser neuartigen Ausbildungsform erfordern.


Lukas Graf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Er forscht über Bildungssysteme und deren sozioökonomische Einbettung, über Organisationen und institutionellen Wandel sowie Europäisierungsprozesse.
lukas.graf@wzb.eu


Literatur:

Graf, Lukas: The Hybridization of Vocational Training and Higher Education in Austria, Germany and Switzerland. Dissertation. Freie Universität Berlin 2012.

Kupfer, Franziska/Mucke, Kerstin: Duale Studiengänge an Fachhochschulen nach der Umstellung auf Bachelorabschlüsse - Eine Übersicht. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung 2010.

Powell, Justin J.W./Graf, Lukas/Bernhard, Nadine/Coutrot, Laurence/Kieffer, Annick: "The Shifting Relationship between Vocational and Higher Education in France and Germany: Towards Convergence?" In: European Journal of Education, 2012, Vol. 47, No. 3, pp. 405-423.

Powell, Justin J.W./Solga, Heike: "Why are Participation Rates in Higher Education in Germany so Low? Institutional Barriers to Higher Education Expansion". In: Journal of Education and Work, 2011, Vol. 24, No. 1-2, pp. 49-68.

Streeck, Wolfgang/Thelen, Kathleen A. (Eds.): Beyond Continuity. Institutional Change in Advanced Political Economies. New York/Oxford University Press 2005.


Berliner Studienberechtigten-Panel (BEST-UP)

Studierende, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, sind an deutschen Universitäten nach wie vor unterrepräsentiert, obwohl viele von ihnen das Abitur haben. Welche bildungspolitischen Maßnahmen können dazu führen, dass sie sich häufiger als bisher für ein Studium entscheiden? Dieser Frage geht ein neues gemeinsames Forschungsprojekt des WZB und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nach.

Die Forschung nennt viele Gründe dafür, warum sich Studienberechtigte aus nichtakademischen Elternhäusern gegen ein Hochschulstudium entscheiden. Oft wissen sie zu wenig darüber, was ein Studium im Vergleich zur Ausbildung wert ist, wie ein Studium finanziert werden kann und wie man vielleicht den gewünschten Studienplatz erhält. Zum anderen können finanzielle Gründe gegen ein Studium sprechen. Während ein Studium kostet, wird eine betriebliche Ausbildung vergütet. Vor dem Hintergrund dieser beiden Erklärungen wollen die Forscherinnen und Forscher die Wirksamkeit möglicher Gegenmaßnahmen untersuchen - am Beispiel Berlins.

Ausgangspunkt der Analyse ist ein Berliner Studienberechtigten-Panel, das Schüler und Schülerinnen bereits vor dem Abitur zu ihren Studienabsichten befragt. Diese Jugendlichen werden für mindestens drei weitere Jahre auf ihrem Lebensweg mit Online-Befragungen begleitet. Darüber hinaus soll in dem Projekt auch der Einfluss von Auswahlverfahren an den Hochschulen auf die Studienentscheidung untersucht werden.

Das Forschungsprojekt ist zunächst auf vier Jahre angelegt und wird durch die Einstein Stiftung Berlin gefördert.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 138, Dezember 2012, Seite 49-52
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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Internet: http://www.wzb.eu
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2013