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BERICHT/058: Bildungskapital verringert Bildungsrisiken (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107

Bildungskapital verringert Bildungsrisiken

Von Ulrike Rockmann, Klaus Rehkämper und Holger Leerhoff



Pierre Bourdieu hat mit seinen Studien über das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital die Bildungsdebatte stark beeinflusst. Verwendet man sein Konzept in der empirischen Bildungsforschung wird deutlich, dass nicht nur das ökonomische, sondern auch das soziale und kulturelle Kapital von entscheidender Bedeutung für Bildungsverläufe und Risikolagen sind.


In seinem Aufsatz "Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital" wendet sich der französische Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu (1930-2002) dagegen, dass der Begriff "Kapital" ausschließlich als ökonomische Kategorie verstanden wird (Bourdieu 1983). Er beschreibt neben diesem allgemein akzeptierten wirtschaftlichen Verständnis zwei weitere Formen - kulturelles und soziales Kapital -, die sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie direkt und untrennbar mit ihrem Träger (einer Person) verbunden sind und deshalb eine kurzfristige Weitergabe von diesem "Kapital" unmöglich ist. Gerade wenn man den Bereich der Bildung verstehen möchte, müssen diese nicht-ökonomischen Kapitalformen genauer betrachtet werden, denn sie begründen, so Bourdieu, das eigentliche Wesen von Bildung.

Nach Bourdieu existiert kulturelles Kapital in dreifacher Form: erstens als inkorporiertes Kapital (also zu einer Person gehörend), das beispielsweise durch Primärerziehung in der Familie oder durch den Schul- und Universitätsbesuch oder andere Ausbildungsformen erworben wird. Die Primärerziehung, bewusst oder unbewusst vollzogen, kann dabei sowohl als positiver Faktor, wenn durch sie ein "Vorsprung" geschaffen wird, als auch als negativer Faktor auftreten, wenn spätere Korrekturen zusätzlichen Zeitaufwand erfordern. Diese inkorporierte Form des kulturellen Kapitals gehört, so Bourdieu, als Habitus zu einer Person. Zweitens zeigt sich kulturelles Kapital als objektives Kapital in Form von Büchern, Kunstwerken oder Maschinen. Diese Form des kulturellen Kapitals kann zwar durch ökonomisches Kapital erworben (aber auch vererbt oder verschenkt) werden, das damit verbundene Handlungswissen, wie das Bedienen einer Maschine oder das Verständnis von Kunst, wird damit jedoch nicht weitergegeben. Drittens wird kulturelles Kapital als institutionalisiertes Kapital verstanden, das in einer quasi objektivierten und nachprüfbaren Form Kompetenzen bescheinigt. Im hier betrachteten Kontext von "Bildungskapital" sind dies vornehmlich schulische Abschlüsse, Universitätsdiplome oder andere anerkannte Ausbildungszertifikate. Für alle Formen des kulturellen Kapitals gilt, dass ein starker Zusammenhang mit dem im engeren sozialen Umfeld bereits vorhandenen kulturellen Kapital besteht. Zudem besteht offensichtlich ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital: Nur wer aufgrund von wirtschaftlicher Absicherung Zeit und Muße hat, kann hinreichend kulturelles Kapital ansammeln.

Soziales Kapital als dritte Spielart basiert auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, auf dem Eingebundensein in ein Netzwerk von "mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen" (Bourdieu 1983, S. 190). Hieraus ergeben sich "Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen" (ebd., S. 190 f.). Diese Art des Kapitals erfordert Zeit, Arbeit und ein ständiges gegenseitiges Geben und Nehmen. Zudem hängt der "Umfang des Sozialkapitals, das einer besitzt (...), sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht" (ebd., S. 191; Hervorhebungen wurden nicht übernommen). Diese drei Kapitalformen stehen naturgemäß in Wechselbeziehung zueinander. Bourdieu geht von der doppelten Annahme aus, dass ökonomisches Kapital den beiden anderen Formen zugrunde liegt, diese beiden sich aber nicht verlustfrei auf materielle, ökonomische Werte zurückführen lassen.


"Humankapital" ist mehr als eine wirtschaftliche Kategorie

Der heute verbreitete und auch im Bericht "Bildung in Deutschland 2014" verwendete Begriff des "Humankapitals" stellt demzufolge eine unerlaubte Verkürzung dar, denn er beschränkt sich auf die wirtschaftlichen Aspekte von Bildung und lässt die immateriellen sozialen und kulturellen Kapitalformen außer Acht. Andererseits muss man einräumen, dass - so zutreffend die Analyse von Bourdieu auch sein mag - die in ihr verwendeten Begriffe nur schwer operationalisierbar sind; quantitative Aussagen im Bereich der Bildungsberichterstattung sind aber von erfassbaren Kennziffern und quantifizierten Indikatoren abhängig. Vor diesem Hintergrund wurde erstmals mit dem Bericht "Bildung in Deutschland 2008" eine Übertragung der Kapitalbegriffe Bourdieus in statistisch fassbare Erhebungsgrößen versucht, mit denen auch die Verbindungen zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital widergespiegelt werden sollten. Dabei wurde der Familienzusammenhang betrachtet, in dem Kinder aufwachsen, und verschiedene Risikolagen identifiziert, welche die Bildungskarrieren der Kinder negativ beeinflussen können. Hierbei liegt ein finanzielles Risiko vor, wenn die Familie unterhalb der Schwelle der Armutsgefährdung lebt, also der Familie das ökonomische Kapital fehlt.

Ein soziales Risiko liegt dann vor, wenn - im Sinne des Konzepts der International Labour Organization (ILO) - kein Elternteil länger als eine Stunde in der Woche erwerbstätig ist. Wenn Menschen über wenig soziales Kapital verfügen, ihnen also das Eingebundensein in ein tragfähiges Netzwerk (zum Beispiel in Arbeitszusammenhänge oder auch Vereinsbindungen), aus dem vielfältiger Nutzen gezogen werden kann, fehlt, haben sie eine höhere soziale Risikolage.

Am schwersten zu erfassen ist das kulturelle Kapital. Hier tritt als Stellvertreter das Risiko des bildungsfernen Elternhauses auf: Eltern, die weder über eine abgeschlossene Berufsausbildung noch über eine Hochschulzugangsberechtigung verfügen, gelten in Bezug auf ihre formale Qualifikation als relativ bildungsarm (Allmendinger/Leibfried 2003; siehe auch Lohauß u.a. 2010). Die durch diese drei Indikatoren erhobenen Befunde bestätigen im Großen und Ganzen die Analyse Bourdieus: Das Vorliegen eines bildungsfernen Elternhauses, das sich in einem Mangel an kulturellem Kapital ausdrückt, trägt bereits das Risiko späterer Arbeitslosigkeit - und somit den Mangel an sozialem Kapital - in sich. Dies wiederum führt nahezu zwangsläufig zu einer finanziell prekären Lebenslage - einem Mangel an ökonomischem Kapital. Diese und weitere inhaltliche Zusammenhänge lassen sich bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen (etwa Personen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehenden, Akademikerinnen und Akademikern) in unterschiedlichem Maße identifizieren.


Entwicklung der Risikolagen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland

Der Anteil der Kinder, die mit mindestens einer der drei Risikolagen aufwachsen, ist in den letzten sieben Jahren zurückgegangen. Waren es 2005 noch 32,4 Prozent, ist der Anteil 2012 auf 29,1 Prozent gesunken. Der Anteil der Kinder, die von allen drei Risikolagen betroffen sind, liegt 2012 bei 3,4 Prozent (siehe Abbildung 1, S. 27[*])

Das aus Erwerbslosigkeit resultierende soziale Risiko weist unabhängig vom Alter der Kinder die größten positiven Veränderungen auf. Es ist in den letzten sieben Jahren in Deutschland insgesamt um rund 3 Prozentpunkte auf 9,4 Prozent gesunken, auch durch den Anstieg der Erwerbsbeteiligung der Mütter (siehe Bildung in Deutschland 2012, S. 25). Das soziale Risiko tritt in Westdeutschland mit 8,1 Prozent seltener auf als in Ostdeutschland mit 13,2 Prozent und dort wiederum seltener als in den Stadtstaaten (16,4 Prozent).

In Ostdeutschland reduzierte sich mit dem Rückgang der Erwerbslosigkeit auch das finanzielle Risiko in etwa vergleichbarem Umfang (3,4 Prozentpunkte); mit 0,2 Prozentpunkten in Westdeutschland und 0,5 Prozentpunkten in den Stadtstaaten war dieser Effekt dort deutlich schwächer ausgeprägt, so dass für Deutschland insgesamt nur ein Rückgang der Armutsgefährdung der Familien um 0,7 Prozentpunkte auf 18,8 Prozent verzeichnet werden konnte. Auch die Erwerbstätigkeit eines Familienmitglieds führt in vielen Fällen nicht zu einem Familieneinkommen oberhalb der Armutsgefährdungsgrenze. Deutschlandweit haben 11,5 Prozent der Kinder ein bildungsfernes Elternhaus. In Westdeutschland sind es 11,9 Prozent, in Ostdeutschland 5,1 und in den Stadtstaaten 19,3 Prozent. Die Situation hat sich damit seit 2005 durchgehend positiv entwickelt (siehe auch Bildung in Deutschland 2014, Abbildung A4-3, S. 25).


Familien mit Migrationshintergrund sind öfter von Risikolagen betroffen

Bei bestimmten Bevölkerungsgruppen, etwa Familien mit Migrationshintergrund, kumulieren die Risikolagen häufig: 2012 ist mit 47,2 Prozent fast die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund von mindestens einer Risikolage betroffen; von den Kindern aus Familien ohne Migrationshintergrund sind es hingegen nur 20,5 Prozent.

In deutschen Familien mit Migrationshintergrund, also Familien, in denen ein Elternteil oder auch beide nach 1949 zugewandert sind und einen deutschen Pass haben, sind alle Risikolagen etwas seltener anzutreffen als im Durchschnitt aller Familien mit Migrationshintergrund: Das soziale Risiko der Kinder in deutschen Familien mit Migrationshintergrund hat sich seit 2005 mit deutlichen regionalen Unterschieden um durchschnittlich 3 Prozentpunkte verringert. In den ostdeutschen Ländern gab es einen leichten Rückgang beim finanziellen Risiko, beim Bildungsrisiko waren dagegen keine Veränderungen festzustellen.

Die Risikolagen von Kindern in ausländischen Familien sind seit 2005 ausgehend von einem sehr hohen Niveau gesunken. Von mindestens einer Risikolage sind aber immer noch fast zwei Drittel betroffen. Strukturell ähneln sich die Ausprägungen der Risikolagen in Westdeutschland und den Stadtstaaten; in Ostdeutschland ist das deutlich geringere Bildungsrisiko auffällig.

Bei deutschen und ausländischen Familien mit türkischen Wurzeln lebt 2012 mit 51 Prozent noch mehr als die Hälfte der Kinder in einem bildungsfernen Elternhaus; 2005 waren es 60,3 Prozent. Der Anteil der armutsgefährdeten Familien hat sich dabei - trotz überdurchschnittlichen Absinkens der Erwerbslosigkeit um rund 6 Prozentpunkte - nicht verändert (siehe Abbildung 2[*]).

Die Analyse von Risikolagen hat sich in der Bildungsberichterstattung als aussagekräftiges Werkzeug etabliert. Gerade die oben anhand der Familien mit Migrationshintergrund exemplarisch durchgeführten Betrachtungen bestimmter gesellschaftlicher und/oder regionaler Gruppen können helfen, drohende Defizite frühzeitig zu erkennen, um dann auch mit bildungspolitischen Maßnahmen gegenzusteuern.

Obwohl in Deutschland aktuell weniger Kinder in Familien mit Risikolagen aufwachsen als noch vor einigen Jahren, sind die Werte immer noch beunruhigend: Insgesamt sind immer noch knapp ein Drittel der Kinder betroffen, bei Familien mit Migrationshintergrund knapp die Hälfte und bei ausländischen Familien wie auch bei Alleinerziehenden sogar fast zwei Drittel. Schon allein diese Unterschiede illustrieren die Notwendigkeit einer detaillierten Identifikation der Personengruppen für zielgerichtete Maßnahmen.

Mit derartigen Risikolagen ist aber bisher nur ein kleiner Ausschnitt des Konzepts von Bourdieu operationalisiert worden. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch eine Betrachtung am anderen Ende der Skala - also bei Familien, die finanziell, sozial und unter Bildungsaspekten besonders gut gestellt sind - interessante Ergebnisse liefern könnte. Auch die exakte Ausgestaltung der für die Risikolagen herangezogenen Kriterien ist derzeit mehr von der vorhandenen Datenlage als von explizit auf die Fragestellung ausgerichteten empirischen Untersuchungen geprägt. Im Kontext der Nutzbarmachung von Bourdieus Kapital-Konzeption für die Bildungsberichterstattung gibt es durchaus noch Entwicklungspotenzial.


DIE AUTORIN, DIE AUTOREN

Prof. Dr. Ulrike Rockmann ist seit 2007 Mitglied der Autorengruppe für den nationalen Bildungsbericht "Bildung in Deutschland" und Mitautorin der Reihe "Bildung in Berlin und Brandenburg".
Kontakt: ulrike.rockmann@uni-oldenburg.de

Prof. Dr. Klaus Rehkämper ist Leiter des Referats "Schule Berlin, Bildungsanalysen" beim Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Mitarbeiter bei "Bildung in Deutschland" und Mitautor der Reihe "Bildung in Berlin und Brandenburg".
Kontakt: klaus.rehkaemper@statistik-bbb.de

Dr. Holger Leerhoff ist Referent für Bildungsanalysen beim Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Mitarbeiter bei "Bildung in Deutschland" und Mitautor der Reihe "Bildung in Berlin und Brandenburg".
Kontakt: holger.leerhoff@statistik-bbb.de


LITERATUR

BOURDIEU, PIERRE (1983):
Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband 2), Göttingen, S. 183-198

ALLMENDINGER, JUTTA/LEIBFRIED, STEPHAN (2003):
Bildungsarmut. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 21-22/2003), S. 12-18

LOHAUß, PETER/NAUENBURG, RICARDA/REHKÄMPER, KLAUS/ROCKMANN, ULRIKE/ WACHTENDORF, THOMAS (2010):
Daten der amtlichen Statistik zur Bildungsarmut. In: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wiesbaden, S. 181-202


[*] DJI Impulse 3/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse
Dort finden Sie auch im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabellen und Graphiken der Printausgabe unter
http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull107_d/DJI_3_14_WEB.pdf

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014
- Nr. 107, S. 26-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2014