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BERUF/1858: Die Chancen junger EU-Bürgerinnen und -Bürger im deutschen Ausbildungssystem (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 158/Dezember 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Ausbildungsmobilität
Die Chancen junger EU-Bürgerinnen und -Bürger im deutschen Ausbildungssystem

von Paula Protsch und Heike Solga


Kurz gefasst: Die Integration junger Europäerinnen und Europäer in das duale Ausbildungssystem in Deutschland könnte helfen, die krisengeplagten Jugendarbeitsmärkte in Südeuropa zu entlasten und hierzulande Fachkräfteengpässen entgegenzuwirken. Entscheidend dabei ist die Bereitschaft der Ausbildungsbetriebe, diese Bewerber und Bewerberinnen einzustellen. Als hinderlich erweisen sich sehr hohe Ansprüche an Deutschkenntnisse und eine investitionsorientierte Ausbildungsmotivation: Betriebe, die viele ihrer Auszubildenden als Fachkräfte übernehmen, scheinen zu befürchten, dass diese jungen Menschen nicht planen, längerfristig in Deutschland zu bleiben.


Durch die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise haben sich in vielen südeuropäischen Ländern die Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen stark verschlechtert. 2013 betrugen die Jugendarbeitslosenquoten in Griechenland und Spanien über 50 Prozent, und auch heute noch ist die Lage sehr angespannt. Anders ist es in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese Länder werden aufgrund ihres dualen Systems der Berufsausbildung häufig als Beispiele für eine gelungene Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen genannt. Zum einen sind junge Menschen als Auszubildende in Beschäftigung und damit nicht arbeitslos. Aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive bedeutet das Erlernen eines Berufs längerfristig eine Investition in Bildung, in die Kompetenzen und Fertigkeiten junger Menschen.

Mit dem Ziel, die Situation von Jugendlichen in den krisengeplagten EU-Ländern zumindest ein wenig zu entschärfen, wurden in der Europäischen Union einige transnationale Programme entwickelt. Sie sollen die Mobilität junger Menschen nach Deutschland und deren Integration in das duale Ausbildungssystem fördern. Gleichzeitig wird die Anwerbung von europäischen Ausbildungsinteressierten als Möglichkeit gesehen, Fachkräfteengpässen auf dem deutschen Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Ein bekanntes Programm zur Förderung der Migration aus anderen EU-Ländern nach Deutschland ist z. B. das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Bundesagentur für Arbeit geförderte Programm MobiPro-EU. Es bietet keine finanziellen Anreize für Betriebe, sondern den volljährigen Ausbildungsinteressierten Unterstützungsleistungen für den Umzug, eine Ergänzung des Ausbildungsgehalts und Deutschkurse.

Wie aber verhalten sich die Ausbildungsbetriebe? Würden sie junge Europäer und Europäerinnen ausbilden, oder bevorzugen sie in jedem Fall Auszubildende, die in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen sind? Was sind von betrieblicher Seite aus Hindernisse, die den Zugang junger Menschen aus Südeuropa zum deutschen Ausbildungsmarkt erschweren?

Um diese Fragen zu untersuchen, haben wir Personalverantwortliche und Arbeitgeber aus über 650 Betrieben zu den Ausbildungschancen junger Spanierinnen und Spanier befragt. Das Vignettenexperiment wurde in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in die Erhebung 2014 des Betriebspanels zu Qualifizierung und Kompetenzentwicklung (kurz BIBB-Qualifizierungspanel) integriert.

Bei Vignettenstudien werden Befragten mehrere zufällig ausgewählte kurze Beschreibungen von fiktiven Situationen oder Personen vorgelegt. In unserer Studie handelte es sich dabei um fünf tabellarische Beschreibungen von jungen Erwachsenen, die sich beim jeweiligen Betrieb schriftlich um einen Ausbildungsplatz bewarben. Die Bewerbungen bezogen sich auf den wichtigsten Ausbildungsberuf des Betriebs, also den Beruf, in dem der Betrieb am meisten ausbildet. In den Vignetten wurden Merkmale der fiktiven Personen experimentell variiert. Auf diese Weise lässt sich untersuchen, welchen Einfluss ein bestimmtes Bewerbermerkmal auf die Einschätzung der Befragten hat. Die Arbeitgeber und Personalverantwortlichen wurden gebeten, auf einer Skala von 1 (sehr unwahrscheinlich) bis 10 (sehr wahrscheinlich) zu bewerten, ob die Personen zum nächsten Auswahlschritt in ihren Betrieb eingeladen würden. Dabei handelte es sich in der Regel um ein Vorstellungsgespräch oder einen Einstellungstest.

Alle Bewerberinnen und Bewerber haben spanische Wurzeln. Ein Teil von ihnen kommt aus Spanien und möchte nach Deutschland ziehen. Der andere Teil ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Letztere sind Angehörige der zweiten oder dritten Migrantengeneration, deren Familie aus Spanien stammt. Es geht bei unserem Experiment nicht um ethnische Diskriminierung seitens der Betriebe, da alle Bewerberinnen und Bewerber spanische Wurzeln haben. Vielmehr zeigt uns der Vergleich der Bewertungen von verschiedenen Bewerbertypen, welche Rolle der Migrationsstatus - Neueinreisende versus in Deutschland Geborene - und damit verbundene Faktoren wie Sprache und Bleibewahrscheinlichkeit in Deutschland spielen.

Die Ausbildungsinteressierten unterscheiden sich nach Geschlecht und im Bildungsniveau. Zusätzlich wurden in der Gruppe der potenziell Neueinreisenden die Deutschkenntnisse differenziert. Zudem wurde der Bezug von finanziellen Unterstützungsleistungen und Möglichkeiten der sozialen Integration durch Verwandte im Ort variiert, um mögliche Bedenken der Arbeitgeber in dieser Hinsicht eruieren zu können.

In der Forschung werden mangelnde Kenntnisse der Landessprache häufig als eine der wesentlichen Ursachen für schlechtere Arbeitsmarktchancen von Migrantinnen und Migranten genannt. Wir haben daher das Sprachniveau der jungen Erwachsenen aus Spanien unterschieden in 1.) Grundkenntnisse durch Schulunterricht, 2.) ein mittleres Niveau durch Schulunterricht und Intensivkurs sowie 3.) fließende (verhandlungssichere) Deutschkenntnisse durch den Besuch einer deutschen Schule in Spanien. Der letztgenannte Bewerbertyp hat somit ebenso wie der Bewerbertyp, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, hervorragende Deutschkenntnisse und einen deutschen Schulabschluss. Unser experimentelles Forschungsdesign ermöglicht es so, den Migrationsstatus Neueinreisende versus in Deutschland Geborene von Sprachkenntnissen zu trennen - ein Unterfangen, das mit herkömmlichen Individualbefragungen kaum möglich ist. Außerdem können wir Forschungsergebnisse berücksichtigen, die zeigen, dass ausländische Bildungszertifikate ein Hindernis auf dem inländischen Arbeitsmarkt darstellen können. Wir knüpfen an diese Forschung an und untersuchen, welches Sprachniveau erwartet wird und was neben ausländischen Bildungsabschlüssen weitere Hindernisse auf betrieblicher Seite sein könnten.

Eine Annahme ist, dass die Ausbildungsstrategie der Betriebe eine Rolle spielen könnte. Betriebe haben unterschiedliche Motivationen, warum sie ausbilden. Sie können das Ziel verfolgen, eigene zukünftige Fachkräfte auszubilden und daher möglichst viele ihrer erfolgreichen Ausbildungsabsolventen zu übernehmen ("Investitionsstrategie"). Anderen Betrieben ist es wichtiger, die Auszubildenden bereits während der Ausbildungszeit als Arbeitskräfte in betriebliche Produktions- und Arbeitsprozesse einzusetzen ("Produktionsstrategie"). Sie übernehmen daher deutlich seltener ihre Absolventinnen und Absolventen, sondern stellen eher neue Auszubildende ein. In der Realität bewegen sich die betrieblichen Strategien zwischen diesen beiden Polen.

Unsere Analysen zeigen, dass Betriebe deutlich zwischen Bewerberinnen und Bewerbern unterscheiden, die spanische Wurzeln haben, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, und jenen, die aus Spanien einreisen möchten. Für die in Deutschland Aufgewachsenen geben Betriebe höhere Werte an als für Neueinreisende. Sie sehen es also als wahrscheinlicher an, dass in Deutschland geborene Bewerberinnen und Bewerber mit spanischen Wurzeln zur nächsten Stufe im Auswahlprozess eingeladen würden. Selbst im Vergleich zu Neueinreisenden mit hervorragenden Deutschkenntnissen (durch den Besuch einer deutschen Schule in Spanien) erhalten Ausbildungsinteressierte der zweiten oder dritten Migrantengeneration eine im Durchschnitt um einen halben Punkt bessere Bewertung auf der zehnstufigen Bewertungsskala. Schlechtere Deutschkenntnisse vergrößern diesen Bewertungsunterschied: Neueinreisende mit Deutschkenntnissen aus dem Schulunterricht und einem zusätzlichen Intensivkurs werden im Vergleich zu den in Deutschland Geborenen um 1,7 Punkte schlechter bewertet, und jene mit Grundkenntnissen sogar um durchschnittlich 2,2 Punkte.

Hinter den genannten Durchschnittswerten verbergen sich weitere interessante Unterschiede in Bezug auf das Bildungsniveau und das Geschlecht der Vignettenpersonen sowie die Ausbildungsstrategie der Betriebe. Die Hauptzielgruppe von deutschen Ausbildungsbetrieben sind Bewerberinnen und Bewerber mit mittlerem Schulabschluss. Sie erhalten auch die besten Bewertungen. Bringen ausländische (oder auch inländische) Ausbildungsinteressierte einen höheren Bildungsabschluss mit (wie beispielsweise das Abitur oder einen Bachelorabschluss), so haben sie dadurch keinen Vorteil. Das bedeutet zugleich, dass schlechtere Chancen aufgrund geringerer Deutschkenntnisse durch höhere Bildung nicht ausgeglichen werden können. Betriebe mit einer Investitionsstrategie (also einer hohen Übernahmequote) bevorzugen auch dann Bewerbungen aus Deutschland, wenn die Neueinreisenden fließende Deutschkenntnisse und durch den Besuch einer deutschen Schule in Spanien einen deutschen Schulabschluss vorweisen können. Anders bei Betrieben mit geringer Übernahmequote: Hier gibt es zwischen den Migranten der zweiten und dritten Generation und Neueinreisenden mit hervorragenden Deutschkenntnissen keinen Unterschied in der Einladungswahrscheinlichkeit. Betriebe mit einer Investitionsstrategie scheinen zu befürchten, dass junge Spanier und Spanierinnen nach der Ausbildung in Deutschland wieder in ihr Heimatland zurückkehren könnten - eine Befürchtung, die die Ausbildungsmotivation der Betriebe mit einer Produktionsstrategie weniger berührt.

Des Weiteren konnten wir feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit, zur nächsten Auswahlstufe eingeladen zu werden, für junge Frauen niedriger ist als für junge Männer - und zwar unabhängig von der betrieblichen Ausbildungsstrategie sowie dem Migrationsstatus. Die Gründe für diesen Unterschied müssen noch genauer untersucht werden. Die Präferenz für männliche Bewerber scheint jedoch nicht über das Vorurteil einer geringeren Arbeitsmarktnähe von Frauen erklärbar zu sein. Sonst wären Unterschiede nach der Ausbildungsstrategie zu erwarten gewesen: Bei Betrieben mit Investitionsstrategie hätten die Geschlechterunterschiede größer sein müssen als bei jenen mit einer Produktionsstrategie.

Welche Implikationen haben unsere Befunde? Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken zur Förderung der transnationalen Mobilität versuchen, durch die Investition in (berufliche) Bildung die Situation von jungen Menschen aus krisengeplagten EU-Ländern zu verbessern. Auch könnten auf diese Weise Fachkräfteengpässe in Deutschland entschärft werden. Was auf den ersten Blick - auch von Seiten der Betriebe - wie eine Win-win-Situation aussieht, offenbart sich bei näherem Hinsehen als ein Vorhaben mit Hindernissen. Neben sehr hohen Ansprüchen an die Deutschkenntnisse von ausländischen Bewerberinnen und Bewerbern kann auch die betriebliche Ausbildungsstrategie das Gelingen infrage stellen. Wenn Betriebe sich an der beruflichen Ausbildung beteiligen, weil sie langfristig in eigene Fachkräfte investieren möchten, stehen sie Bewerbungen aus dem europäischen Ausland eher zurückhaltend gegenüber.

Allgemeiner deuten unsere Befunde darauf hin, dass es eine wichtige Rolle für die Integration von jungen EU-Bürgerinnen und -Bürgern spielt, ob die Betriebe davon ausgehen, dass die jungen Menschen planen, in Deutschland zu bleiben. Ferner sind hohe Erwartungen der Betriebe an die Deutschkenntnisse eine Barriere - selbst Personen mit Deutschunterricht in der Schule und einem zusätzlichen Intensivkurs haben geringe Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch oder Einstellungstest eingeladen zu werden. Hier wäre es sinnvoll zu hinterfragen, welches Deutschniveau tatsächlich für die Aufnahme einer Berufsausbildung notwendig ist. Zum anderen wäre nach Wegen zu suchen, wie der Erwerb von Deutschkenntnissen während und durch eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeit unterstützt werden kann.


Paula Protsch
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt und forscht im Brückenprojekt "Rekrutierungsverhalten von Unternehmen auf Ausbildungs- und Arbeitsmärkten".
paula.protsch@wzb.eu

Heike Solga ist Direktorin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt am WZB und Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeit, Arbeitsmarkt und Beschäftigung an der Freien Universität Berlin. heike.solga@wzb.eu


Literatur

Protsch, P. & H. Solga (2017): Going across Europe for an apprenticeship? A factorial survey experiment on employers' hiring preferences in Germany. Journal of European Social Policy, Jg. 27, Heft 4, S. 387-399.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 158, Dezember 2017, Seite 31-33
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2018

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