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BERICHT/022: Wer sind die jungen Geringqualifizierten ... (spw)


spw - Ausgabe 3/2009 - Heft 171
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wer sind die jungen Geringqualifizierten und welche (Weiter)bildung brauchen sie?

Von Bettina Kohlrausch


Einleitung

Traditionell sichert aktive Arbeitsmarktpolitik Phasen der Erwerbslosigkeit ab mit dem Ziel über Qualifizierung die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Zunehmend richten sich Instrumente der Arbeitsförderung allerdings an Jugendliche, die sich in der Phase des Übergangs von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt (vergl. den Beitrag von Bogedan in der Printausgabe) oder sogar erst in der Phase des Übergangs in eine berufliche Ausbildung befinden.

Für eine wachsende Gruppe von Menschen haben Qualifizierungsmaßnahmen nicht die Funktion zusätzliche berufsbezogene Qualifikationen zu vermitteln, sondern auf eine berufliche Ausbildung vorzubereiten und vermeintliche Defizite der schulischen Ausbildung zu verringern. Anstatt nach der Schule eine berufliche Ausbildung zu beginnen, werden sie in Maßnahmen des so genannten Übergangssystems vermittelt. Der Begriff Übergangssystem fasst dabei alle Maßnahmen der beruflichen Bildung zusammen, die keine qualifizierende berufliche Ausbildung vermitteln, sondern die Chancen auf die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung verbessern sollen. Klassische Elemente dieser Maßnahmen sind berufsvorbereitende Ansätze, die der beruflichen Orientierung dienen sollen und allgemein qualifizierende Elemente, wie zum Beispiel das Nachholen des Hauptschulabschlusses. Der aktuelle Bildungsbericht definiert teilqualifizierende Berufsfachschulen, das schulische Berufsvorbereitungs- und vollzeitschulische Berufsgrundbildungsjahr, berufsschulischen Unterricht für Schüler ohne Ausbildungsvertrag, "sonstige schulische Bildungsgänge" sowie die berufsvorbereitenden Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit (einschließlich der Einstiegsqualifizierung und des inzwischen ausgelaufenen Jugendsofortprogramms) als Elemente des Übergangssystems (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 97). Sehr häufig besuchte Maßnahmen sind zum Beispiel das Berufsvorbereitungs- oder das Berufsgrundbildungsjahr (BVJ und BGJ).

Ordnungspolitisch interessant ist dabei, dass sich im Übergangssystem bildungspolitische und arbeitsmarktpolitische Akteure und Elemente mischen. Dies verweist - im Sinne einer stärker präventivausgerichteten Arbeitsmarktpolitik - auf eine Verknüpfung von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Wenn Qualifizierungsmaßnahmen traditionell der Vermeidung und Überbrückung von Arbeitsmarktrisiken dienten, dienen diese Maßnahmen dem Ziel, das Risiko von "Ausbildungslosigkeit" oder Bildungsarmut zu vermeiden. Kann dies gelingen? Befähigen die Maßnahmen des Übergangssystems auch gering qualifizierte Jugendliche zur Aufnahme einer Ausbildung und zu einem Start in ein selbst bestimmtes Leben?


Die wachsende Bedeutung des Übergangssystems

In Deutschland beträgt der Anteil der Personen ohne Berufsabschluss an den Erwerbspersonen, also Erwerbstätigen und Erwerblosen, im Alter von 15 bis 64 Jahren ca. 14%. Geringqualifizierte haben dabei nicht nur schlechtere Arbeitsmarktchancen - sie sind häufiger von Weiterbildung ausgeschlossen, haben also seltener die Möglichkeit, Defizite in der beruflichen Erstausbildung auszugleichen (Ambos 2005).

Vor diesem Hintergrund ist es besonders problematisch, dass einem wachsenden Anteil von Jugendlichen der Zugang zur beruflichen Erstausbildung nach dem Verlassen der Schule (zunächst) verwehrt bleibt. Vor allem zwei Trends belegen diese Entwicklung. Zum einen entwickeln sich Angebot und Nachfrage von beruflichen Ausbildungsplätzen seit Jahren auseinander. Bezieht man in die Definition der Ausbildungsstellennachfrage diejenigen Jugendlichen mit ein, die zwar in ein alternatives Angebot der Arbeitsagentur oder in eine weiterführende Schule eingemündet sind, dabei aber ihren Wunsch nach einer vollqualifizierenden beruflichen Ausbildung aufrecht erhalten, liegt die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen seit 1996 über dem Angebot. Nach dieser erweiterten Definition standen 2007 644.057 Ausbildungsplatz suchenden 724.527 Ausbildungsplätze gegenüber, was bedeutet, dass die reale Angebots-Nachfragerelation bei 89% lag. (nach offiziellen Angaben war die Angebots-Nachfragerelation in diesem Jahr mit 98% fast 10% günstiger).


Bildungsarmut als Stolperstein auf dem Weg in eine berufliche Ausbildung

Viele der unvermittelten Bewerber münden in das so genannte Übergangssystem ein, welches sich in den letzten Jahren als feste Säule des Berufsbildungssystems etabliert hat. Die unten stehende Abbildung[*] zeigt die Verteilung der Neuzugänge auf die drei Sektoren der beruflichen Bildung. Sie verdeutlicht, dass die wachsende Nachfrage nach Ausbildungsplätzen vor allem durch Maßnahmen des Übergangssystems aufgefangen wird. Rund 40% der Neuzugänge mündeten im Jahr 2006 in solche Maßnahmen ein.


Die Verteilung der Neuzugänge auf die drei Sektoren der beruflichen Bildung

1995
Duales System: 51,2% - 547.062
Schulberufssystem: 16,9% - 180.271
Übergangssystem: 31,9% - 341.137

2000
Duales System: 47,8% - 582.416
Schulberufssystem: 14,4% - 175.462
Übergangssystem: 37,8% - 460.107

2004
Duales System: 42,8% - 535.322
Schulberufssystem: 16,9% - 211.531
Übergangssystem: 40,3% - 505.197

2005
Duales System: 42,6% - 537.030
Schulberufssystem: 16,9% - 213.024
Übergangssystem: 40,5% - 510.983

2006
Duales System: 43,5% - 551.434
Schulberufssystem: 16,8% - 212.984
Übergangssystem: 39,7% - 503.401

(Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): 96)


Dabei unterscheiden sich die Einmündungen dramatisch nach der schulischen Vorbildung der Jugendlichen: Im Jahre 2006 begannen 84% der Jugendlichen ohne Schulabschluss, 51% der Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss, 28% der Jugendlichen mit einem mittleren Schulabschluss und nur 4% der Jugendlichen mit einer Hochschul- oder Fachhochschulreife eine Maßnahme des Übergangssystems.

Einerseits ließe sich diese Differenzierung der Einmündung nach Eingangsqualifikationen mit der Funktion des Übergangssystems erklären - schließlich ist eine Aufgabe die Kompensation von Defiziten in der Erstausbildung. Erstaunlich ist aber dennoch, dass immerhin die Hälfte der Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss und ca. ein Drittel der Jugendlichen mit einem mittleren Schulabschluss zunächst eine Maßnahme des Übergangssystems beginnen. Dies ist zunächst ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Maßnahmen des Übergangssystems nicht durchgängig um notwendige zusätzliche Qualifizierungsangebote handelt, sondern auch um Warteschleifen für Jugendliche, denen es aufgrund des konstanten Unterangebots von Ausbildungsplätzen nicht gelungen ist, sich im System der vollqualifizierenden beruflichen Ausbildung zu platzieren.

Es wäre aber zu einfach, die vergleichsweise häufige Einmündung von Jugendlichen mit Hauptschul- bzw. mittlerem Schulabschluss lediglich mit der "Warteschleifenfunktion" dieser Maßnahmen zu begründen. Diese Zahlen sind auch ein Hinweis auf Entwertung von Bildungsabschlüssen, besonders des Hauptschulabschlusses. So problematisch die Tatsache ist, dass ca. 10% der Schüler/innen eines Jahrgangs die Schule ohne Schulabschluss verlassen, so muss der Begriff der Bildungsarmut doch deutlich weiter gefasst werden. Wenn die Hauptschule ehemals die Schulform war, die auf eine berufliche Ausbildung im gewerblich technischen Bereich vorbereitet hat, hat der Hauptschulabschluss in den letzten Jahren auf dem Ausbildungsmarkt eine deutliche Entwertung erfahren. Dies ist nur teilweise mit der wachsenden Konkurrenz durch Schüler/innen mit höheren Bildungsabschlüssen zu erklären. Die soziodemographische Zusammensetzung von Hauptschüler/innen reflektiert Desintegrationstendenzen (z.B. in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund) unserer Gesellschaft: es spricht sehr viel dafür, dass es in den Hauptschulen zu einer Kumulation von sozialen Problemlagen gekommen ist, die es erschweren, Schüler/innen in diesen Schulen so zu qualifizieren, dass sie der Anforderung einer beruflichen Ausbildung gewachsen sind. Vor dem Hintergrund des quantitativen Bedeutungsverlustes der Hauptschulen ist die Hauptschule zu einer sehr homogenen Schulform geworden, in der "Kinder aus Arbeiterhaushalten - insbesondere von ungelernten Arbeitskräften - unverhältnismäßig stark vertreten sind; die Familien der Schüler können weder die kulturellen Voraussetzungen für einen Schulerfolg noch Unterstützung bei der Schularbeit bieten. Eine besondere Belastung erfahren diesbezüglich die Kinder ausländischer Arbeitskräfte bzw. Kinder von Migranten (...)" (Leschinsky 2008: 395).


Kann das Übergangssystem Bildungsarmut verhindern?

Offen ist nun die Frage, ob die Maßnahmen des Übergangssystems geeignet sind, den oben beschriebenen Problemlagen zu begegnen. Die in Grafik 2[*] dargestellten Verläufe zeigen, dass dies nicht so ist. Auch wenn der Anteil der Jugendlichen im System der betrieblichen oder schulischen vollqualifizierenden Ausbildung zunimmt und der Anteil der Jugendlichen in Maßnahmen des Übergangssystems abnimmt, ist die Phase der Integration in den Ausbildungsmarkt für viele Jugendliche auch nach ca. 1,5 Jahren noch nicht beendet. Hier zeigt sich eine deutliche Differenzierung nach Bildungsabschluss. Längsschnittanalysen von Übergangsmustern von Hauptschüler/innen belegen, dass nur ein Drittel der Jugendlichen, die einen Hauptschulabschluss besitzen oder die Schule ohne Schulabschluss verlassen haben und unmittelbar nach Verlassen der Schule Maßnahmen des Übergangssystems besuchten, 18 Monate später eine berufliche Ausbildung begonnen hat (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 162). Für einen Teil der Jugendlichen, und hier besonders der Geringqualifizierten, gleicht das Übergangssystem eher einer Odyssee durch unterschiedlichste Maßnahmen denn einer systematischen Qualifizierung, die der Verbesserung ihrer Ausbildungschancen dient. Der Besuch von mehreren Maßnahmen hintereinander kann dabei auch als permanente Erfahrung des Scheiterns erlebt werden und eher stigmatisierenden Charakter haben (Solga 2005). Das Übergangssystem ist somit nicht nur Kompensator sondern auch Produzent von Geringqualifizierung.


Welche (Weiter)bildung brauchen Geringqualifizierte?

Zunächst erscheint es wichtig darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Bildungsarmut ausgeweitet werden muss. Vor dem Hintergrund der skizzierten Verläufe von Jugendlichen im Übergangssystem wird deutlich, dass sich ein Teil des Problems durchaus mit der geringen Qualifizierung von Schulabgänger/innen begründen lässt. Damit wird Geringqualifizierung bereits an der ersten Schwelle, der Phase des Übergangs in eine berufliche Ausbildung, zu einem Problem. Bildungsarm, d.h. so schlecht qualifiziert, dass sie ein hohes Risiko tragen, für immer von einer konstanten Integration in den Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden, sind dabei nicht nur diejenigen Jugendlichen ohne Schulabschluss, sondern auch große Teile derjenigen Jugendlichen, die einen Hauptschulabschluss besitzen. Präventive Bildungspolitik bedeutet daher zunächst einmal die Vermeidung extrem armer Lernumwelten, wie sie durch die frühe und starke schichtspezifische Selektion des mehrgliedrigen Schulsystems geschaffen werden. Auch kann der Rechtsanspruch auf das Nachholen des Hauptschulabschlusses nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung von Bildungsarmut sein. Anstatt Qualifizierung an diesem formalen und weithin entwerteten Zertifikat festzumachen, bräuchte es eine Diskussion darüber, was Jugendliche heute eigentlich mindestens können und wissen müssen, um den Ansprüchen eines modernen Arbeits- und Ausbildungsmarktes gerecht zu werden. In einem zweiten Schritt muss dann geklärt werden, wie ein integratives Schul- und Berufsbildungssystem aussehen kann, welches diesen Ansprüchen gerecht wird. Dazu gehört auch ein deutlich verbessertes Übergangsmanagement durch die lokalen Arbeitsagenturen, um den Jugendlichen ein sinnloses Kombinieren mehrerer Maßnahmen zu ersparen.


Literatur

Ambos, I. (2005). Geringqualifizierte und berufliche Weiterbildung - empirische Befunde zur Weiterbildungssituation in Deutschland. Bonn, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008). Bildung in Deutschland 2008. W. Bertelsmann Verlag. Bielefeld.

Leschinsky, A. (2008). Die Hauptschule - von der Be- zur Enthauptung. Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. K. S. Cortina, J. Baumert, A. Leschinsky, K. U. Mayer and L. Trommer. Reinbeck bei Hamburg, Rowohlt: 375-399

Solga, H. (2005). Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Opladen, Verlag Barbara Budrich.


Dr. Bettina Kohlrausch arbeitet am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen und lebt in Hannover.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
In der Printausgabe dieses Hefts finden Sie zusätzlich eine im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung (Abb. H3-4:) mit dem Titel "Statusverteilung in den ersten 30 Monaten nach Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems - nach Geschlecht (in %)"


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2009, Heft 171, Seite 26-30
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009