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USA/309: Transatlantische Beziehungen im Übergang (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010

Transatlantische Beziehungen im Übergang

Von Vivien A. Schmidt/Jolyon Howorth


Wie steht es um die Beziehungen zwischen den USA und Europa? Außenpolitische Experten sind sich darüber einig, dass sich die transatlantischen Beziehungen, wie das weltweite politische System generell, in einer Übergangsperiode befinden - von der (anomalen) Bipolarität des Kalten Krieges hin zu etwas anderem. Es herrscht allerdings kaum Einigkeit darüber, was dieses "andere" sein könnte.


Als Präsident Obama seine Reise zum EU-Gipfeltreffen der spanischen Präsidentschaft absagte, sandte er der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten damit ein ganz klares Signal, das vielleicht missverstanden worden ist. Von vielen wurde diese Absage als Zeichen dafür gesehen, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr an Europa oder der transatlantischen Partnerschaft interessiert wären. Sie hatten Unrecht. Die Vereinigten Staaten haben weiterhin Interesse an Europa, sie sind nur nicht mehr daran interessiert, an Treffen teilzunehmen, bei denen die EU nichts auf den Tisch legt und keine klare Vorstellung von ihren strategischen Zielen hat. Die Vereinigten Staaten bewegen sich auf die Anerkennung einer multipolaren Welt zu; für Europa bedeutet dies die Herausforderung, in einer solchen Multipolarität einen "Pol" zu bilden. Die EU bildet im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik keinen genuinen Pol. Die Frage nach dem Platz und Gewicht Europas in der Welt bleibt offen. Im Bereich der Wirtschaft wird es allerdings immer mehr zu einem solchen Pol - als eine regionale Wirtschaftsmacht, die größer als die USA ist, mit dem Nordatlantikhandel als größter wechselseitiger Wirtschaftsbeziehung der Welt -, obwohl dies von Obama angesichts der in Europa verbreiteten Austerität wohl eher mit Missfallen gesehen wird. In beiden Politikbereichen ist eine klarere Vorstellung darüber erforderlich, wohin Europa geht; und es wird verstärkt ein gemeinsames Handeln und eine von Europa ausgehende Kooperation erwartet, wenn die EU in einer zunehmend multipolaren Welt ernst genommen werden will.


Europas Rolle in einer multipolaren Welt

In den Vereinigten Staaten gab es eine lebhafte, umfassende Diskussion über die Realität und die Konsequenzen der Unipolarität, Bipolarität, Nichtpolarität, Multipolarität und sogar der Interpolarität. In Europa hat es eine solche Diskussion nicht gegeben. Die Europäer sind gespalten: Die einen wollen an der Unipolarität festhalten, in der Hoffnung, die Amerikaner würden ihre Probleme lösen, die anderen sehnen sich nach Multipolarität, um die europäische Autonomie besser durchzusetzen. In Europa wird Multipolarität generell in einem positiven Licht gesehen trotz der Tatsache, dass sie sich in der Vergangenheit als besonders kriegsanfälliges System erwiesen hat.

Niemand weiß so recht, welches System wir gegenwärtig erleben oder wohin genau es führt. Eines ist sicher: Es schließt einen Machtwechsel und die Notwendigkeit zur Anpassung ein. Neue Mächte steigen auf und alte gleiten ab. Sowohl die EU als auch die Vereinigten Staaten müssen die Natur und die Bedeutung ihrer Beziehung grundlegend überdenken. Nichts kann als gegeben betrachtet werden. Die Behauptung, die Partnerschaft von USA und EU sei die engste und wichtigste für beide Seiten - zum Teil, weil sie auf gemeinsamen Werten beruht -, ist weit verbreitet. Aber nur wenige Experten analysieren die detaillierten Voraussetzungen dieser Behauptung. Es ist Zeit, den Versuch zu unternehmen.


Europäische Union als energischer Einzelakteur

Dies gilt vor allem für die EU. Jeremy Shapiro und Nick Whitney haben kürzlich die Europäer für ihre "ungesunde Mischung von Selbstzufriedenheit und übertriebenem Respekt vor den USA" sowie ihre "infantilen, wirkungslosen Anbiederungsstrategien" gegeißelt. Die Europäische Union muss kollektiv eine große Strategie entwickeln, die als das "kalkulierte Verhältnis zwischen den Mitteln und den großen Zielen" definiert ist. Sie sollte dies tun, weil sie erkennen muss, dass ihre Mittel (unter relativ globalen Bedingungen) immer begrenzter werden und dass sie bis jetzt noch nicht einmal begonnen hat, im Rahmen von großen Zielen zu denken.

Die Europäische Union braucht mehr Klarheit im Hinblick auf ihre übergreifenden kollektiven Ziele in der entstehenden multipolaren Welt. Das Dokument zur Europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 sagt darüber nichts. Es sind zahlreiche verfahrenstechnische und institutionelle Pläne im transatlantischen Dialog vorhanden, die Möglichkeiten zu einer Verbesserung der bilateralen Kohärenz aufzeigen. Aber vor allem ist ein fundamentaler Wechsel der Denkweise erforderlich. Die europäische Schizophrenie gegenüber den Vereinigten Staaten muss durch die klare Erkenntnis ersetzt werden, dass die USA nur an einer EU interessiert sind, die als energischer Einzelakteur mit klaren Vorstellungen auftritt und brauchbare Vorschläge auf den Tisch legt. Dadurch werden die Beziehungen stabiler.


Europäische Interessen und transatlantische Beziehungen

Der gegenwärtige Zustand der NATO ist ein Beispiel dafür. Die Allianz ist ein wichtiger Bestandteil der transatlantischen Beziehungen. Aber sie ist nur ein Teil. Sie ist nicht mehr das privilegierte Forum für die Gestaltung der Beziehungen als solche. Außerdem sollte zugegeben werden, dass der Wunsch der Vereinigten Staaten, die NATO solle eine immer größere globale Rolle übernehmen, mit dem Wunsch der meisten europäischen Staaten kollidiert, die Allianz auf ihre ursprüngliche Form als Garant der europäischen Sicherheit zurückzuführen. Wie in den Beziehungen generell, werden die europäischen Mitgliedsstaaten nur dann einen konstruktiven Beitrag zur aktuellen Diskussion über ein einvernehmliches "strategisches Konzept" leisten können, wenn sie ihre eigenen kollektiven Interessen innerhalb der Allianz klar definieren. Andernfalls bleibt die NATO ein Forum, das in Amerika Frustration und in Europa Verbitterung schafft.

Die Europäische Union kann durch Anbiederung, unkritische Nachahmung oder andere Formen der Anpassung an die USA keinen neuen und konstruktiveren Ansatz entwickeln. Sie muss ihre alte Gewohnheit aufgeben, jede internationale Herausforderung zuerst und vor allen Dingen im Hinblick auf das transatlantische Gleichgewicht zu durchdenken. Sie muss solche Fragen klar und rigoros allein unter Berücksichtigung der europäischen Interessen beantworten. Erst wenn die Union im Rahmen der europäischen Interessen zu denken beginnt (in Afghanistan, im Verhältnis zu Russland, China, Indien und Lateinamerika, vor allem aber zum Nahen Osten), wird sie herausfinden, welches die transatlantische Dimension sein könnte.

Europa muss sich vor allem zwischen den beiden Hauptpositionen entscheiden, die in der amerikanischen Debatte über die künftige Weltordnung vertreten werden. Die eine besagt, dass die liberale internationale Ordnung so stark und attraktiv ist, dass die aufsteigenden Mächte einfach hinzugewählt werden können. Die andere Position wendet ein, dass eine solche Kooptation nicht möglich sein wird und dass man die Probleme aller Politikbereiche mit den aufsteigenden Mächten aushandeln muss. Robert Hutchings war bahnbrechend für die Idee des globalen großen Deals. Die Europäer befürworten instinktiv die vorhandene liberale Ordnung. Aber ihr bester strategischer Beitrag wird vermutlich, über den großen Deal, zur Schaffung einer völlig neuen Weltordnung führen, die für den Westen, die aufsteigenden Mächte und den globalen Süden gleichermaßen akzeptabel ist.


Zu einer neuen "Polarität" der Ökonomie?

In der Zwischenzeit hat sich die Europäische Union zu einem nicht sehr kohärenten, aber auch nicht unbedeutenden ökonomischen Pol entwickelt. Die Reaktionen auf die Wirtschaftskrise haben die Stärken und Schwächen ihrer "Polarität" in diesem Bereich gezeigt. Auf der Seite der Stärken konnte man erkennen, dass die meisten europäischen Mitgliedsstaaten auf die sich ausbreitende Krise im Jahr 2008 schnell und in Abstimmung miteinander reagiert haben. Man sollte nicht vergessen, dass Großbritannien, gefolgt von Frankreich, die Minister der Eurozone zu schnellem Handeln angeleitet haben und dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Bush ihnen gefolgt sind. Man sollte auch erwähnen, dass die Europäische Zentralbank in Zusammenarbeit mit anderen Zentralbanken, vor allem der Federal Reserve, eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Märkte gespielt hat.

Aber selbst zu diesem Zeitpunkt verbargen sich hinter der Stärke auch Schwächen, da die Reaktion eher von den einzelnen Mitgliedsstaaten ausging als von der Union als Ganzes. Zudem war es eine uneinheitliche Reaktion. Es sei daran erinnert, dass Deutschland sich zunächst gegen das große, von den USA geforderte Konjunkturpaket sträubte, weil Kanzlerin Merkel der Meinung war, es würde nicht funktionieren, da "die Deutschen nicht ausgeben, sondern sparen", obwohl das Land letzten Endes genauso viel, wenn nicht mehr, für das Konjunkturpaket zahlte als die anderen Mitgliedsstaaten. Die Beiträge der Mitgliedsstaaten waren, wie wahrscheinlich angemessen, von Staat zu Staat unterschiedlich, aber es gab von Seiten der Kommission im Voraus wenig Koordination und Anleitung, dafür hinterher kleinliche Kritik wegen der Wettbewerbsregeln. Deutschland hat viel Geld für sein äußerst erfolgreiches Programm der "Kurzarbeit" ausgegeben, das, im Gegensatz zu anderen Mitgliedsländern, einen nur geringen Anstieg der Arbeitslosigkeit ermöglichte. Auch das Verschrottungsprogramm in Frankreich und anderen Ländern schuf einen kurzfristigen Aufschwung, obwohl hier wie auf anderen Gebieten der "ökonomische Nationalismus" in einigen Ländern zu Wort kam, etwa als Präsident Sarkozy Renault dazu drängte, seine Produktionsstätten wieder nach Frankreich zurückzubringen, um französische Arbeiter zu beschäftigen.

Mehr noch, die Antwort auf die Bitte der mittel- und osteuropäischen Länder Lettland, Rumänien und Ungarn um europäische Hilfe - wobei die Warnung des ungarischen Premierministers vor der Errichtung eines Eisernen Vorhangs der Wirtschaft unbeachtet blieb -, schuf keine Basis für einen europäischen Wirtschaftspol. Ganz im Gegenteil, denn diese Länder wurden an den IWF verwiesen, der äußerst restriktive Austeritätsprogramme auflegte, auf denen die Kommission bestanden hatte. Die EU hätte einen Europäischen Währungsfonds einrichten sollen, um mit derartigen Krisen umzugehen. Dies hätte die Union nicht nur besser auf die staatliche Schuldenkrise von 2010 vorbereitet, es hätte auch zu ihrer Vermeidung beitragen können, wenn die Märkte das Signal erhalten hätten, dass die EU ihre Mitglieder unterstützt.

Die Reaktion auf die Krise von 2010 fiel schlechter aus als die von 2008, weil die Mitgliedsstaaten das Eingreifen für Griechenland wegen des Widerstands von Kanzlerin Merkel so lange hinauszögerten, bis es fast zu spät war. In einer Hinsicht war die Reaktion allerdings besser, denn es entstanden mit dem Programm zur Stabilisierung des Euro 2010 die Anfänge dessen, was vielleicht einmal ein Europäischer Währungsfonds werden könnte - auch wenn sein einstweiliger Charakter die Märkte nicht ausreichend beruhigen konnte, um die Preise für Staatsanleihen in den südlichen Mitgliedsländern der Eurozone niedrig zu halten. Was die Finanzmarktreformen generell betrifft: Während die Vereinigten Staaten die Boni der Banker schon 2008 eingeschränkt haben, stimmte das Europäische Parlament erst in diesem Sommer über Bonuszahlungen für Banker ab, obwohl einzelne Mitgliedsstaaten schon zu einem früheren Zeitpunkt der Krise eigene Regeln eingeführt hatten. Während die USA schon im Sommer 2010 eine umfassende Bankenreform vorgestellt haben, lässt diese auf der EU-Ebene noch auf sich warten; in der Zwischenzeit hat Deutschland unilateral, ohne jede vorherige Erklärung oder gar Beratung ungedeckte Leerverkäufe verboten - ohne spürbare Auswirkungen auf die Märkte.


Sparpolitik, den USA nicht willkommen

Die abgestimmte Einführung einer Sparpolitik in den Haushalten, angeführt von Deutschland und der Kommission, war die einzige größere, "dezentralisierte" Koordination zwischen den Mitgliedsstaaten während der Krise von 2010 und sie war in Washington nicht willkommen. Die Sparpolitik wirkte sich nicht nur auf Griechenland und die anderen PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) aus, sondern auch auf Großbritannien, wo der neue Premierminister Cameron radikale Einschnitte angekündigt hat, und auf Frankreich, als Sarkozy schließlich Merkel nachgab. Während Obama das Drängen der Republikaner auf einen Sparhaushalt abzuweisen versuchte, weil er eine Fortsetzung der Konjunkturförderung für notwendig hält, um eine Doppelrezession zu verhindern, führte Europa die Sparpolitik an, die es schließlich auch bei der G20 durchsetzen konnte.

Was sagt uns das? Die EU entwickelt sich nur langsam und zögernd zu einem Wirtschaftspol, hat aber noch einen langen Weg vor sich, bis sie im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik an Einfluss gewinnt. Solange die Union nicht zu einem ernstzunehmenden Akteur im Bereich der Sicherheit wird, kann sie auf globaler Ebene keine wichtige Rolle spielen.

(Aus dem Amerikanischen von Gabriele Ricke)


Vivien A. Schmidt ist Jean-Monnet-Professorin für europäische Integration und Direktorin des Center for International Relations an der Universität Boston, Zuletzt erschien Democracy in Europe bei Oxford University Press.
vschmidtXbu.edu

Jolyon Howorth (* 1945) ist Jean-Monnet-Professor ad personam für Europäische Politik und Professor (em.) für Europa Studien an der University of Bath (UK). Letzte Veröffentlichung u.a.: Security and Defence Policy in the European Union (Palgrave 2007).
jolyon.howorth@yale.edu


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010, S. 37-40
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2010