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USA/270: US-Wahlkampf als Laborversuch (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009

US-Wahlkampf als Laborversuch
Das Internet und die Zukunft demokratischer Prozesse

Von Tobias Moorstedt


Selten hat eine moderne Technologie einen Wahlkampf so beeinflusst wie das Internet den US-amerikanischen im letzten Jahr. Vor allem Barack Obama hat verstanden, dass das Internet nicht nur ein weiterer Informationskanal neben den bestehenden ist, sondern dass die digitalen Medien die Spielregeln eines Wahlkampfes grundlegend verändert haben. Aber können sie auch zu einer Revitalisierung der Demokratie beitragen?


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Die erste Amtshandlung von Barack Obama als gewählter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika bestand nicht etwa darin, einen Chief of Staff zu ernennen oder ein groß angelegtes Konjunktur-Programm anzukündigen; nein, er entwarf eine Webseite: www.change.gov - eine Homepage für "eine neue Art von Politik", auf der Obama mit Videoansprachen und Blog-Einträgen seine Prioritäten und Personalentscheidungen erklärt und die Mitglieder seines Kabinetts vorstellt. Die Webseite ist ein interaktives Büro, ein erster Schritt in Richtung Open Government: "Join the Discussion About Healthcare", heißt es da zum Beispiel, ein Mausklick führt den Nutzer auf ein Forum, in dem Gesundheitsminister Tom Daschle die Fragen der Bürger beantwortet. Und unter der Rubrik "Your Seat at the Table" haben die Bürger sogar Zugriff auf Terminpläne und Gesprächsprotokolle der neuen Administration. Für Obama war es ein logischer Schritt, sich nach seinem Wahlsieg nicht mit Gesetzestexten zu beschäftigen, sondern mit HTML-Codezeilen. Schließlich hat er den neuen Job nur erhalten, weil er einen so überzeugenden Wahlkampf im Web geführt hat.

Die Tatsache, dass nun bald ein afroamerikanischer Jura-Professor im Weißen Haus arbeiten wird, ist für viele Politiker, Lobbyisten und Medienschaffende noch immer schwer zu begreifen. Nur in einem sind sich Demokraten und Republikaner, New Yorker und New York Post, Intellektuelle und Polit-Handwerker einig: Web, Smartphones und Medien-Software haben den Wahlkampf für immer verändert. Die New York Times schrieb kurz vor der Wahl beeindruckt: "Seit 1960, als John F. Kennedy teilweise wegen des immer populärer werdenden Fernsehens gewann, hat es keinen Wahlkampf gegeben, in dem eine sich verändernde Technologie einen so großen Einfluss hatte wie in diesem."

E-mail, Webseiten und Textnachrichten spielten natürlich bereits in vorangegangenen Election Cycles eine große Rolle - 2008 gilt jedoch trotzdem vollkommen zu Recht als erster Wahlkampf des Internet-Zeitalters. Obama und McCain (und, das darf man nicht vergessen, unzählige Kandidaten in regionalen Wahlkämpfen) tauchten auf MySpace und Facebook auf, schrieben ihren Anhängern blitzschnelle Kurznachrichten über Twitter und Mobiltelefon, zeigten ihr Gesicht und Image auf der Video-Börse YouTube. Die DSL-Leitungen und Wifi-Netze bildeten eine Partizipationsarchitektur, in die sich die Menschen einloggen und so wieder mit dem politischen Prozess verbinden konnten. Laut der Studie des Pew Internet & American Life Project haben 50 Prozent der Internet-Nutzer im Jahr 2008 eine E-Mail "mit politischem Inhalt oder Bezug zum Wahlkampf" verschickt oder weitergeleitet. 35 Prozent haben sich Videos auf YouTube angesehen und immerhin zehn Prozent haben die Kandidaten auf Seiten wie MySpace oder Facebook besucht. Fünf Prozent der User haben in Blogs und Foren einen Kommentar zum Wahlkampf veröffentlicht, sechs Prozent online für einen oder mehrere Kandidaten gespendet. Zieht man in Betracht, dass die meisten dieser Web-Applikationen erst seit wenigen Jahren auf dem Markt sind, so sind diese Zahlen erstaunlich und machen Mut. Die neuen Medien und die damit einhergehenden Interaktivitäten sind neben anderen Faktoren ein Grund für die historische Wahlbeteiligung. 28 Prozent der Befragten erklärten in der Pew-Studie, das Internet verleihe ihnen das Gefühl, in einem "direkteren und persönlicheren Kontakt mit den Kandidaten" zu stehen, 22 Prozent sagten, ohne das World Wide Web wären sie "weniger oder gar nicht involviert".


Offen, transparent und partizipatorisch

Während die Wahlkampf-Webseiten früher nur digitale Abbilder von analogen Materialien wie Postern und Flugblättern waren (virtual yardsigns, spottet die Branche heute über ihre ersten Versuche), ist mybarackobama.com eine interaktive Plattform und soziale Community, mit der Obama nicht nur Informationen an Anhänger und den ewigen Wechselwähler sendet, sondern einen Raum schafft, in dem sich seine Fans treffen, Nachrichten austauschen und unabhängig von der Zentrale lokale Veranstaltungen planen können. Allein in den letzten Tagen vor der Wahl veranstalteten die mybarackobama.com-Mitglieder mehr als 50.000 Fundraising- und Unterstützer-Events, und sie führten mehr als 1,3 Millionen Telefonate durch. Umfragen zufolge wurden 32 Prozent der Wähler vom Obama-Team kontaktiert, nicht durch TV-Spots oder Robo-Calls, sondern von Mensch zu Mensch. Außerdem nahm Obama auf mybarackobama.com mehrere Hundert Millionen Dollar an Spendengeldern ein - im Netz sammelte er das soziale und finanzielle Kapital für den Erfolg.

Als einziger Kandidat hat Barack Obama verstanden, dass das Internet nicht nur ein zusätzlicher Kanal ist, der sich neben Radio, Postwurfsendungen und TV-Spots in den "Media Mix" einfügen lässt, mit dem die Werbeindustrie eine maximale Zielgruppe ansprechen will. Die digitalen Medien haben die Spielregeln des Wahlkampfes grundlegend verändert - das Spiel wird schneller und es sind mehr Teilnehmer auf dem Feld. "Offen, transparent und partizipatorisch" nannte Obama seine Kampagne gegenüber dem Time Magazine und sprach damit Werte an, die - wie er selbst bemerkte - "hochkompatibel sind mit der Kultur des Internet". Er hat verstanden, dass interaktive Werkzeuge wie E-Mails, Weblogs, Videoportale, Soziale Netzwerke, Podcasts oder die ultraschnellen Kommunikationsmittel Instant Messenger und Twitter nicht nur Politikern zur Verfügung stehen, sondern auch und vor allem Gewerkschaftern, politischen Aktivisten und Bürgern - allen Menschen also, die an der gesellschaftlichen Debatte teilnehmen wollen. Obama hat erkannt, dass viele Menschen sich nicht länger mit der Rolle des Online-Spenders oder Arbeitstiers für einen Kandidaten abfinden, sondern unabhängig agieren wollen. Web-2.0-Anwendungen leben ja gerade vom sogenannten user generated content, von der Kreativität und der sozialen Energie der Nutzer, die Inhalte, Fotos und andere Dokumente zur Verfügung stellen. Im Rahmen der Politik 2.0 rückt nun der voter generated content in den Vordergrund. Blogger sind in den USA längst mächtige Meinungsführer; im Wahlkampf 2008 organisierten normale Bürger selbstständig Parteitreffen, sie programmieren Webseiten oder fabrizieren Videos, die große Popularität erreichen.


Theoretisch sind alle gleichberechtigt

Utopien der "interaktiven Demokratie" oder Essembly, Organisationsformen also, in denen wirklich jeder Einzelne an Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen kann, zirkulieren deshalb bereits seit der Erfindung des Internet auf den Servern und in den Köpfen der Netzpioniere. Im Internet, dem "Peer-2-Peer"-Netzwerk, gibt es keine zentralen Knoten, zumindest in der Theorie sind also alle Teilnehmer gleichberechtigt, Sender und Empfänger zugleich (fast scheint es so, als wäre Bertolt Brechts Radiotheorie nach mehr als 80 Jahren doch noch Realität geworden). Funktioniert das Internet tatsächlich als digitales Gemeindezentrum, als ein grüner Pixel-Baum, unter dem die Menschen zusammen kommen, um über die besten Lösungen zu diskutieren - selbstbestimmt und frei?

Barack Obama hat Reformen angekündigt, die einen neuen Zugang zum Regieren, aber auch zur Technologie vermuten lassen. In einer "googlebaren" Datenbank will er Angaben zu den Regierungsausgaben ins Netz stellen. Obama hat außerdem angekündigt, er werde selbst einen Blog schreiben und seinen Wählern bei sogenannten Online-Fireside-Chats erklären, wie die Politik funktioniert. Außerdem will er jeden Gesetzesentwurf im Internet veröffentlichen, damit Bürger, Wissenschaftler und Firmen den Text lesen und kommentieren können - eine Art Open-Source-Legislative. Erst die folgenden Jahre und Legislaturperioden werden zeigen, ob das Internet mit seiner ihm eigenen Interaktivität und Transparenz dauerhaft und jenseits der Wahlkampf-Euphorie zu einer Revitalisierung der Demokratie beitragen kann.

Auch abseits des Wahlkampfes gibt es jedoch bereits Internet-Projekte, die die Web-2.O-Werte wie Transparenz und Interaktivität in den politischen Alltag integrieren. Webseiten wie 10 Questions oder Bigdebate helfen dem Kollektiv, mit ein paar Mausklicks eine Agenda zu formulieren. Die Webseiten Opencongress und Congresspedia funktionieren ganz ähnlich wie Wikipedia: Experten und Amateure erstellen freiwillig und ohne Bezahlung Dossiers zu den einzelnen Abgeordneten, die über deren Abstimmungsverhalten, Reden und Mitgliedschaften in Gremien informieren, so dass jeder auf den ersten Blick sehen kann, ob sich ein Parlamentarier eher für Bildungs- oder Verteidigungspolitik interessiert und ob er seinen Worten auch Taten im Parlament folgen lässt. Durch die intuitive Aufbereitung in Google Maps und Wikis, durch die vertraute Oberfläche, die Buttons, blauen Links und klickbaren Indizes, findet man sich in dem Universum US-Kongress zurecht.

Der amerikanische Wahlkampf 2007/2008 hat mehrere Milliarden Dollar und unzählige Arbeitsstunden verschlungen - und manchmal hatte man den Eindruck, als würden nicht nur US-Bürger, sondern auch der Rest der Weltbevölkerung zur Wahlurne gebeten. Der ungehemmte Einsatz von Geld, Manpower und Technologie machte den Kampf zwischen Demokraten und Republikanern zu einem Labor, in dem man an der Zukunft demokratischer Prozesse bastelte - wir sollten deshalb auf dieser Seite des Atlantiks nicht nur das bunte und lärmende Medien- und Entertainment-Spektakel bewundern, sondern uns der Tatsache bewusst sein, dass dort Methoden und Strategien erprobt werden, die im Bundestagswahlkampf 2009 wohl ebenfalls Anwendung finden könnten.


Tobias Moorstedt (* 1977) arbeitet als freier Journalist und Autor u.a. für Süddeutsche Zeitung, NEON, Tages-Anzeiger und die ARD, und gründete die Medien-Agentur Nansen & Piccard. Im September 2007 erschien sein Buch Jeffersons Erben - wie die digitalen Medien die Demokratie verändern im Suhrkamp Verlag.
moorstedt@nansenundpiccard.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009, S. 21-24
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2009