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RUSSLAND/131: Schaukampf oder Differenzen im russischen "Tandem"? (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 15 vom 15. April 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Schaukampf oder Differenzen im russischen "Tandem"?
Reibungsflächen zwischen Medwedjew und Putin im Vorfeld der Präsidentenwahlen

Von Willi Gerns


Der Schlagabtausch zwischen Ministerpräsident Putin und Präsident Medwedjew über die russische Position zum Libyenkrieg der NATO (die UZ berichtete) hat nicht nur im Ausland für Aufmerksamkeit gesorgt, sondern auch in Russland selbst die Gemüter erhitzt. Schließlich war es das erste Mal, dass Differenzen in einer so grundlegenden Frage auf dem offenen Markt ausgetragen wurden. Darüber, wie ernst die Meinungsverschiedenheiten zu nehmen sind, gehen die Ansichten allerdings auseinander. So vertritt der Politologe Dmitri Badowski den Standpunkt, "dass alles abgesprochen" sei und es sich in gewissem Sinne um ein "Kommunikationsmodell mit unterschiedlichen Zielgruppen" handele. Der gleichen Meinung ist auch der Politologe Dmitri Orlow, der erklärt: "Medwedjew erläuterte Russlands offizielle Position. ... Putins Äußerung war eher auf die Zielgruppe im Inland gerichtet." Wäre dem wirklich so, ginge es um einen Betrug der russischen Wählerinnen und Wähler.

Der Leiter des Internationalen Instituts für politische Expertise, Jewgeni Mintschenko, äußert dagegen die Ansicht, "dass Dmitri Medwedjew und Wladimir Putin tatsächlich verschiedene Vorstellungen von der Außenpolitik haben". Putin verfolge die klassische Realpolitik, die der klassischen Geopolitik des 19. bzw. 20. Jahrhunderts entspreche. Danach seien strategische Bündnisse zwischen den Staaten mit unterschiedlichen Interessen faktisch unmöglich. Möglich seien nur situativ bedingte Bündnisse. Medwedjew gehe dagegen davon aus, dass die russische Elite die Chance habe, Teil des globalen euroatlantischen Establishments zu werden. Dafür müsste Russland aber unnötige Kontroversen mit dem Westen vermeiden und sich dem Mainstream anschließen. Dann könnte es zusätzliche finanzielle, intellektuelle und technologische Ressourcen für die wirtschaftliche Modernisierung Russlands finden.


Unterschiede nicht nur in der Außenpolitik

Offenbar beschränken sich die Differenzen aber nicht auf die Außenpolitik. So kündigte Medwedjew am 30. März Maßnahmen zur Verbesserung des Investitionsklimas an. Dazu gehört, dass Minister und andere Staatsbeamte zur Jahresmitte in den Führungen der Staatskonzerne durch "unabhängige" Spitzenleute ersetzt werden sollen. Davon betroffen sind engste Vertraute Putins. Nach Alexej Muchin, Direktor des Forschungszentrums für politische Informationen, kann dies einen "Krieg zwischen den Eliten" provozieren, "einen echten Konflikt mit Putin". Ebenso konfliktträchtig ist die vorgesehene Kürzung der Sozialsteuer für die Unternehmen. Sie wird das Staatsbudget um 28 Milliarden Dollar ärmer machen, so der Ministerpräsident. Noch wesentlich umfangreichere Veränderungen schlagen die Experten des Instituts für moderne Entwicklung (INSOR) in ihrer "Strategie-2012" vor, die auch "120 Schritte für eine zweite Amtszeit" Medwedjews genannt wird. Kuratoriums-Vorsitzender von INSOR ist Präsident Medwedjew, die unmittelbare Leitung hat der ehemalige Boss des russischen Unternehmerverbandes, Igor Jurgens.

Die "Strategie - 2012" stellt eine Art Gegenprojekt zu der von Putin in Auftrag gegebenen "Strategie - 2020" dar, an der eine Expertengruppe unter Leitung der Hochschule für Ökonomie und der Russischen Akademie der Volkswirtschaft arbeitet. Den wichtigsten Unterschied der beiden Projekte sehen russische Kommentatoren darin, dass die "Strategie - 2012" kardinale politische Reformen als Bedingung für wirtschaftliche Reformen vorsehe, während es in der "Strategie - 2020" um keine revolutionären politischen und ökonomischen Veränderungen gehe.

In der Einleitung des vom INSOR-Institut erarbeiteten Programm-Konspekts heißt es denn auch, nur durch radikale politische Reformen, dank derer das private Business und das private Eigentum zu den wichtigsten handelnden Subjekten in der russischen Wirtschaft werden, könne Russland im "Pool der Führer der Welt" bestehen. Die politisch und ökonomisch von ihren Fesseln befreite "Energie der Gesellschaft" werde über die "Entbürokratisierung der Wirtschaft und die Entökonomisierung der Bürokratie" dazu befähigt, eine "kardinale Wende" zu vollziehen.

Der erste Abschnitt beschäftigt sich folgerichtig mit den "Politischen Institutionen" und enthält 22 Vorschläge zu einem "Neustart der Demokratie". Dazu gehören durchaus positive Empfehlungen wie die Senkung der 7-Prozent-Barriere für den Einzug von Parteien ins Parlament auf 5 Prozent, Wiederherstellung des Rechts zur Bildung von Wahlblöcken der Parteien, Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure, Aufhebung der Zensur der föderalen Fernsehkanäle sowie Aufhebung der administrativen Bevormundung der Gerichte, aber auch eine so zweideutige wie die Aufhebung der "informellen Verbote vom Kreml unabhängiger finanzieller Unterstützung der Parteien", womit zwar die Kontrolle des Regimes über die Parteien eingeschränkt werden könnte, aber zugleich deren Kauf durch das Großkapital legalisiert würde.

Verschwinden soll auch der Geheimdienst FSB. An seine Stelle soll ein föderaler Verfassungsschutz für die "Bekämpfung des Extremismus" (nach deutschem Vorbild?) treten. Kommentatoren sehen in diesen Vorschlägen einen direkten Affront gegen Putin, da es faktisch darum gehe, diejenigen Elemente des politischen Systems aufzuheben, die in der Zeit seiner Präsidentschaft eingeführt wurden.


Wahl zwischen Stabilität und Chaos?

Die "Strategie - 2012" ist als Programm zur Wiederwahl Medwedjews bei den Präsidentenwahlen gedacht, die in knapp einem Jahr stattfinden. Wird doch ausdrücklich betont, dass das Konzept nur mit einem Präsidenten Medwedjew umzusetzen sei.

Allerdings ist noch immer offen, welche Konstellationen es bei diesem Urnengang geben wird. Medwedjew scheint sich um eine zweite Amtszeit bewerben zu wollen. In jedem Fall wird er von den hinter ihm stehenden Kräften massiv dazu gedrängt. Wie aber wird sich Putin verhalten? Sollte er auf eine eigene Kandidatur verzichten und Medwedjew unterstützen würde dieser gewählt, darin sind sich so gut wie alle einig.

Voraussetzung dafür wären nach Alexej Muchin, dem Generaldirektor des Zentrums für politische Informationen, Absprachen zwischen beiden, bei denen Putin wahrscheinlich auf den Erhalt der Stabilität drängen würde. In diesem Fall - so Muchin - würde es, zumindest in der ersten Zeit, kaum irgendwelche revolutionären Veränderungen geben. Sollte Medwedjew eine selbstständige Kandidatur wagen, so sieht der Politologe ein ernstes Risiko, und dies "auch unter der Voraussetzung einer aktiven Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, die offenbar mit dem jetzigen Präsidenten sympathisieren".

Wenn Medwedjew unter solchen Voraussetzungen kandidiere, werde es tatsächlich grundlegende Veränderungen in Russland geben. Als solche werden genannt: ein Wechsel der Eliten, die Liberalisierung der Parteienlandschaft mit zwei, drei konkurrierenden Parteigruppierungen, eine wirtschaftliche Liberalisierung, der forcierte WTO-Beitritt sowie mehr ausländische Investitionen. Das werde "ein liberales Paradies, aber zugleich eine Hölle für viele" sein.

Die parteipolitische Liberalisierung werde zu scharfer Konkurrenz im Parlament und einer solchen Zuspitzung der Widersprüche führen, dass es für den Präsidenten äußerst schwierig sein werde, Initiativen durch die Duma zu bringen, die unter den genannten Umständen - so Muchin - "bei der heutigen Stimmung der Bevölkerung am ehesten eine 'rote'" wäre. Der Beitritt zur WTO und die Liberalisierung des ökonomischen Feldes werde "zu einer globalen Neuaufteilung des Eigentums führen". Im Ergebnis komme es zu einem "wirtschaftlichen Chaos wie in den 90er Jahren".

Die Möglichkeit, dass Putin und Medwedjew gegeneinander kandidieren, spielt praktisch keine Rolle in der russischen Diskussion. Für diesen Fall, den die herrschenden Kräfte in Russland sicher vermeiden möchten, könnte aus heutiger Sicht Putin nach wie vor die größeren Chancen haben.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, Nr. 15 vom 15. April 2011, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2011