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OZEANIEN/019: Australien - Aborigines in der Zivilgesellschaft (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2011

Aborigines in der Zivilgesellschaft

Von Heribert Becher


Im Jahr 2008 bat der australische Ministerpräsident die so genannte "Lost Generation" der Aborigines um Entschuldigung für Leid und Kränkungen in Folge der Besiedlung des Kontinents. Die Ureinwohner sind noch heute auf der Suche nach ihrem Weg in die Gegenwart.


Auf der Grundlage einer Forschungsreise nach Australien im Oktober 2009 zur Problemstellung des Missbrauchs von Aborigines gelang es, einen ersten, explorativen Überblick zu erhalten: Darwin, Alice Springs, Adelaide, Melbourne, Sydney, Canberra, Cairns: "Australien intensiv". Dabei wurden für die empirische Erhebung im folgenden Oktober 2010 die notwendigen Kontakte zu staatlichen Einrichtungen, Vertretungen der Indigenous People, Privatpersonen und zu Kolleginnen und Kollegen, die ähnliche Fragestellungen bearbeiten, geknüpft. Eine besondere Bedeutung haben hier die ganzheitlichen Forschungsansätze der Australian Catholic University (ACU) mit Standorten in Ballarat, Canberra, Melbourne und Sydney. Hier im Süden Australiens fanden auch die ersten und schwersten - nicht nur sexuellen - Missbräuche der Aborigines statt.

Für die Forschungen im Jahr 2010 wurden von der KU durch Schreiben des Vizepräsidenten für Forschung, Prof. Dr. Michael Becht, meine Besuche bei den Präsidenten der ACU angekündigt, sodass jeweils die Kontaktpersonen bekannt gemacht werden konnten. Die Fragestellung gewann unterdessen eine unerwartete Brisanz: Die Öffentlichkeit in Deutschland erhielt Kenntnis von zahlreichen Kindesmissbräuchen, auch in kirchlichen Heimen. Umso interessanter war nun die Frage, wie die Aborigines mit ihren Missbrauchserfahrungen umgegangen sind und welche Folgerungen sich evtl. daraus ableiten lassen.

Hier sei daran erinnert, dass das australische Parlament unter Ministerpräsident Kevin Rudd im Februar 2008 eine Resolution verabschiedete, in der Abbitte geleistet wird für das Leid, die Schmerzen und Kränkungen, die der so genannten "Lost" oder "Stolen Generation" angetan wurde, als schon Babys der Aborigines aus ihren Familien gerissen wurden, um sie zwangsweise in - meist protestantischen - Heimen oder aber auch in britischen Familien zu "zivilisieren". Beim Weltjugendtag im Juli 2008 lobte ihn dafür ausdrücklich Papst Benedikt XVI. Im November 2009 entschuldigte sich Rudd erneut bei seinen in die Zehntausende gehenden Landsleuten, die jahrelang in solchen Heimen vernachlässigt und missbraucht worden seien. Dabei schloss er auch deren Nachkommen ein. Eine konkrete Hilfe für die Betroffenen konnte aus beiden Entschuldigungen aber nicht abgleitet werden.

Es fragt sich, was diese Problemstellungen mit Europa zu tun haben. Die Frage nach dem europäischen Bezug ist einfach beantwortet mit dem Hinweis, dass die Einwanderer aus Europa, vor allem die Briten, aber auch die Holländer, die Polen und - ebenso wesentlich - die Deutschen, kultur-soziologisch das aus Australien gemacht haben, was es ist - auch im Verhältnis zu Aborigines. Was war geschehen? Nachdem immer mehr englische Sträflinge nach Australien verbracht worden waren, wurden inzwischen die ersten großen Landbesiedlungen mit der Einrichtung von Ackerbau und Viehzucht ("Stations") durchgeführt. Die Aborigines kannten kein Landeigentum ("TerraNullius"). Ihre "Traumpfade" benannten, untereinander deutlich abgegrenzten Wege der Nahrungssammlung und -verwertung wurden mündlich und zum Teil rituell (Felsmalereien) von Clan zu Clan und Geschlecht weitergegeben und geschützt.

In ihren Stammesgebieten wurden die Aborigines-Männer mit Bemalungen, Brandnarben oder Hautritzungen versehen; Zähne wurden ausgeschlagen. Die Frauen hatten ihre eigene Bemalung. Die Schnitt- und Brandnarben der Männer, die Bemalung des - meist nackten - Körpers auch bei Frauen waren wie Personalausweise für die Zugehörigkeit bzw. Tabuisierungen von Begegnungen und Örtlichkeiten. Die Begegnungen der eingewanderten Briten, meist protestantisch erzogen, mit diesem Leben der Aborigines führte zu der Haltung, dass die "Wilden" zu "retten" und christlich zu zivilisieren seien. Die Goldfunde von 1851/52 in der Ballaratebene zogen einen neuen Schub an Entwürdigungen für die Ureinwohner nach sich. Dies war auch die Zeit, in der die protestantischen Kirchen von England aus aktiv wurden - etwas später die katholischen Iren - und gegen die Verderbnis der Einwanderer und die Unzivilisiertheit der "Schwarzen" für die Zivilisierung, Christianisierung und Ausbildung Schulen und Heime gründeten. Vor diesem Hintergrund wirkt es schräg, dass Anfang Januar 2010 auf "Facebook" über 5000 Schüler anglikanischer und katholischer Schulen aus rassistischen Gründen forderten, dass die "Immigranten raus aus Australien" verschwinden und wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten.

Bis heute leben in den australischen Städten Männer und Frauen der Aborigines von Gelegenheitsarbeit, Betteln, Kleinkriminalität und Prostitution. Hier wurde mittlerweile eine eigene indigene Sozialarbeit installiert: ein Versuch der Zivilisierung. Es lassen sich in der Tat zwischen 2009 und 2010 hier schon Fortschritte feststellen. Die Kriminalität ist rück läufig: Man kann abends jetzt durchaus unter den den Todd-River-Brücken von Alice Springs einen Spaziergang machen, ohne befürchten zu müssen, von Aborigines ausgeraubt zu werden. Die Prostitution erscheint reglementiert, ist jedenfalls nicht mehr "wild". Geblieben ist sichtbar die Bettelei von Aborigines in den Städten. Die Sozialarbeiter verfügen über spezielle Hilfen; z.B. in Alice Springs ein gutes Dutzend Spezialdienste für differenzierbare Problematiken mit je eigenen Telefonnummern. Dies betrifft auch die Folgen sexuellen Missbrauchs. Dadurch soll vermieden werden, dass in einem Dickicht von vermischten Zuständigkeiten (Gesundheitshilfen, Kinder- und Jugendschutz; Strafrecht usw.) jeder - und damit keiner - für alles - und damit für nichts - zuständig ist.

Ein Teil dieser Stadt-Aborigines schwelgte in verklärter Sehnsucht nach der Lebensweise der Vorfahren. Mit der oben beschriebenen Realität konfrontiert, schreckten sie jedoch davor zurück, wieder so zu leben. Hier lässt sich dann eine Gruppenteilung feststellen: Die einen gehen wieder zurück in das alte, dekadente Stadtleben. Die anderen nehmen bewusst ihre Geschichte wahr, befürworten für ihr zukünftiges Leben die "guten" Seiten, vor allem Werte wie Gruppenzusammenhalt und nachhaltiges Wirtschaften. Dazu gehören auch die Befreiung von der Fremdbestimmung durch die Tourismusindustrie mittels eigener Programme und Darstellungen für die Besucher (Noch vor gut zehn Jahren wurden die Aborigines als zu "besichtigende Objekte" der Tourismusindustrie verstanden - fast wie in einem Zoo) und die selbstständige Fertigung und Vermarktung von Gegenständen aus ihrer Kunst und Kultur wie Repros von Felsmalereien, Bumerangs, Speere und Didgeridoos, wobei auch der Gewinn - im Unterschied zu früher - vollständig bei ihnen verbleibt Sie gehen überzeugt den Weg zu einer indigenen Zivilgesellschaft.

Auf ihre Aktivität hin ist auch die im September/Oktober 2010 erfolgte Gründung einer Institution für die gesamten australischen Aborigines zurückzuführen: der "National Congress of Australia's First Peoples". Dieser Kongress hat sich zum Ziel gesetzt, die Interessen der indigenen Australier zu repräsentieren und neue Wege in der Politik für diese aufzuzeigen. Der Hintergrund war die fehlende Beratung und eine Anzahl von Patt-Situationen im politischen Umgang mit den Aborigines. So ist er Advokat, Wachhund und "Think-tank" in einem. Es könnten hier auch die nach den generellen Entschuldigungen 2008 und 2009 vermissten Hilfen konkretisiert werden. Die Gründung des Gremiums wurde von der australischen Bundesregierung mit 29,2 Millionen Australischen Dollars ausgestattet und als Hilfe auf dem Weg in eine eigene Zivilgesellschaft anerkannt.


Prof. Dr. Heribert Becher war Professor für Soziologie, sozialwissenschaftliche Methoden und Arbeitsweisen an der Fakultät für Soziale Arbeit der KU. Er ist seit 2003 im Ruhestand.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2011, S. 30-31
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2011