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OSTEUROPA/396: Unruhen im Kosovo - Teil 2 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 31. Mai 2023
german-foreign-policy.com

Unruhen im Kosovo (II)

Unruhen im Nordkosovo veranlassen die NATO, ihre Truppen dort aufzustocken. Auch die Bundeswehr steckt in Ex-Jugoslawien fest, während sie sich gegen Russland und China in Stellung bringt.


BELGRAD/BERLIN - Fast ein Vierteljahrhundert nach der faktischen Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien per völkerrechtswidrigem Angriffskrieg flammen erneut ernste Unruhen in dem Gebiet auf. Anlass ist der Versuch der Regierung in Priština, in vier Verwaltungsbezirken im überwiegend serbischsprachig besiedelten Nordkosovo neue, albanischsprachige Bürgermeister einzusetzen. Vorausgegangen war ein erbitterter Konflikt unter anderem um die Gründung eines mit Autonomierechten ausgestatteten Verbandes serbischer Gemeinden im Kosovo, die die kosovarische Regierung zwar bereits im Jahr 2013 offiziell zugesagt hat, die sie aber bis heute in der Praxis sabotiert. Der Konflikt war bereits Ende vergangenen Jahres gewaltsam eskaliert und nur notdürftig gekittet worden, um nun erneut in heftige Auseinandersetzungen zu münden; dabei wurden am Montag mindestens 50 Demonstranten und rund 30 NATO-Soldaten teilweise schwer verletzt. Die NATO teilt mit, sie werde ihre Truppen im Kosovo wieder aufstocken. Damit steckt auch die Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien fest - in einer Zeit, in der sie alle Kräfte für die Machtkämpfe des Westens gegen Russland und China reservieren will.

Keine Autonomierechte

Die Spannungen im Norden des Kosovo hatten sich bereits Ende vergangenen Jahres stark zugespitzt. Die Lage dort ist seit der Abspaltung des Kosovo von Serbien unverändert prekär; das liegt vor allem daran, dass der serbischsprachige Teil der Bevölkerung, der im Norden des Gebietes die Mehrheit stellt, die Abspaltung nicht anerkennt - ganz im Einklang nicht nur mit Serbien, sondern auch mit rund der Hälfte sämtlicher Länder weltweit, darunter fünf Mitgliedstaaten der EU.[1] Um die Lage zu verbessern, wurde schon 2013 auf Druck der EU eine Vereinbarung geschlossen, die die Gründung eines Verbandes serbischer Gemeinden im Kosovo mit Autonomierechten vorsieht; er soll insgesamt zehn Verwaltungsbezirke umfassen, vier davon im Nordkosovo. Die Regierung in Priština weigert sich jedoch bis heute, eine offizielle Gründung des wichtigen Verbandes zuzulassen. Im vergangenen Herbst hat sie stattdessen den Druck auf den serbischsprachigen Bevölkerungsteil verstärkt, indem sie erklärte, serbische Kfz-Kennzeichen, wie sie im Nordkosovo bis heute verbreitet sind, gälten nun nicht mehr; wer sie weiterhin nutze, müsse eine Geldstrafe zahlen. Derlei Schritte genügen in der ohnehin sehr angespannten Situation, um die Lage gefährlich eskalieren zu lassen.

Rücktritt aus Protest

Dies geschah im November 2022. Von der kosovarischen Regierung kompromisslos unter Druck gesetzt, traten die serbischsprachigen Bürgermeister aller vier Verwaltungsbezirke im Norden und weitere serbischsprachige Angestellte öffentlicher Behörden - Richter, Polizisten - von ihren Ämtern zurück. Priština eskalierte weiter, setzte für Dezember Neuwahlen an und begann unter Bruch bestehender Absprachen, albanischsprachige Polizisten ohne die vorgeschriebene Abstimmung mit serbischsprachigen Stellen in den Norden des Gebietes zu entsenden. Dort brachen rasch Proteste los und gingen zum Teil in Straßenblockaden über. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić kündigte unter Berufung auf die UN-Resolution 1244 aus dem Jahr 1999 an, im Falle physischer Angriffe auf die serbischsprachige Minderheit serbische Soldaten zu deren Schutz in den Norden des Kosovo zu entsenden. Nur dank massiven Drucks aus Brüssel und Washington gelang es, die Regierung in Priština zumindest zur Verschiebung der Neuwahlen im Norden auf April 2023 zu veranlassen; das verhinderte eine unmittelbare weitere Eskalation im allerletzten Moment.[2] EU-Verhandlungen mit Priština und Belgrad schienen dann Anfang 2023 eine Lösung zu eröffnen. Dies hat sich jetzt jedoch als folgenschwere Illusion erwiesen.

Wahlbeteiligung: 3,47 Prozent

Auslöser für die aktuelle Eskalation waren die Neuwahlen am 23. April. Weil Priština immer noch nicht bereit war, die Gründung des Verbandes serbischer Gemeinden zuzulassen, und sich auch weigerte, albanischsprachige Spezialeinheiten aus dem serbischsprachigen Norden abzuziehen [3], boykottierte die serbischsprachige Bevölkerung den Urnengang. Von rund 45.000 Wahlberechtigten gaben nur 1.567 ihre Stimme ab; die Wahlbeteiligung lag bei 3,47 Prozent.[4] Die vier neuen Bürgermeister, alle albanischsprachig, konnten jeweils nur einige hundert Stimmen auf sich vereinen, werden also bloß von einem Bruchteil der Bevölkerung gestützt und haben mehr als 90 Prozent der Einwohner des Gebiets gegen sich. Das völlig offen zutage liegende Eskalationspotenzial veranlasste die EU und die Vereinigten Staaten, die kosovarische Regierung vor etwaigen weiteren Provokationen zu warnen. Priština schlug die Warnungen seiner westlichen Schutzmächte in den Wind und führte in der vergangenen Woche in drei der vier nördlichen Verwaltungsbezirke die neu gewählten Bürgermeister öffentlich in ihr Amt ein. Bereits dabei machten die erwarteten Proteste Schutzvorkehrungen in größerem Umfang erforderlich; am Freitag errichteten serbischsprachige Demonstranten erste Barrikaden, es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Polizei.[5]

Dutzende Verletzte

Am Montag eskalierte die Lage weiter. Kosovarische Polizisten suchten in Zvečan, einem der vier nördlichen Verwaltungsbezirke, dem neuen Bürgermeister durch eine größere Ansammlung von Protestdemonstranten hindurch den Weg zu seinem Amtssitz zu bahnen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen; Einheiten der NATO-Truppe KFOR, die mit rund 300 Soldaten vor Ort waren, griffen ein. Etwa 30 italienische und ungarische Militärs und über 50 Demonstranten wurden zum Teil schwer verletzt.[6] Gestern setzten sich die Proteste in mehreren Ortschaften im Nordkosovo fort. Serbien hatte schon Ende vergangener Woche erneut Teile seiner Streitkräfte unweit der Grenze zum Kosovo zusammengezogen. Offizielle Warnungen nicht nur gegenüber Serbien, sondern auch gegenüber Priština kamen aus den vier im Kosovo besonders stark involvierten Staaten Europas (Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien) sowie aus den USA.[7] Gestern kündigte darüber hinaus die NATO an, die KFOR-Einheiten wieder aufzustocken. Ob dies auch die Bundeswehr trifft, die derzeit laut eigenen Angaben rund 90 Soldaten im Kosovo stationiert hat, ist noch nicht bekannt. Der Bundestag hatte erst Ende vergangener Woche das deutsche KFOR-Einsatzmandat um ein Jahr verlängert. Die Obergrenze liegt bei 400 Soldaten.

Die Bundeswehr steckt fest

Mit der jüngsten Zuspitzung des Konflikts rücken die Aussichten, den Bundeswehreinsatz im Kosovo, der bald in sein 25. Jahr gehen wird, in absehbarer Zeit beenden zu können, in weite Ferne. Erst im Sommer vergangenen Jahres hatten die deutschen Streitkräfte zudem einen Einsatz im ehemaligen Jugoslawien, den sie sogar bereits beendet hatten, wieder aufnehmen müssen - ihren Einsatz in Bosnien-Herzegowina (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Der Bundesrepublik ist es zwar gelungen, mit dem einstigen Jugoslawien einen potenziell starken Widerstandsherd gegen ihre Hegemonie zu zerschlagen [9]: Das heutige Serbien widersetzt sich gleichfalls der deutschen Dominanz in Südosteuropa, kann es allerdings in puncto Einfluss nicht mit seinem ungleich mächtigeren Vorgängerstaat aufnehmen. Dennoch gelingt es Berlin nicht, die anhaltenden Unruhen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens zu beenden. Die Folge ist, dass die Bundeswehr immer noch im Kosovo sowie in Bosnien-Herzegowina operiert und dort sogar eine unkontrollierte Eskalation nicht ausschließen kann - in einer Zeit, in der sie eigentlich alle ihre Kräfte bräuchte, um sich zur Verteidigung der globalen westlichen Dominanz gegen Russland und China in Stellung zu bringen.


Anmerkungen:

[1] Ende 2022 erkannten nur 99 aller 193 UN-Mitgliedstaaten das Kosovo als eigenen Staat an. 94 taten dies nicht, darunter die EU-Mitglieder Spanien, die Slowakei, Rumänien, Griechenland und Zypern.

[2] S. dazu Unruhen im Kosovo.(*)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9111

[3] Alice Taylor: Serbian List confirms boycott of local elections in Kosovo. euractiv.com 21.03.2023.

[4] Alice Taylor, Bojana Zimonjić Jelisavac: North Kosovo elections trigger harsh words, criticisms from Belgrade. euractiv.com 24.04.2023.

[5] Alice Taylor: Kosovo steadfast over mayor action despite international criticism. euractiv.com 29.05.2023.

[6] Mehrere Verletzte bei Zusammenstößen. tagesschau.de 30.05.2023.

[7] Joint Statement on Violence in the North of Kosovo. state.gov 26.05.2023.

[8] S. dazu Zurück auf Los (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8997

[9] S. dazu Salonfähige Parolen
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7666
und Auf die Flucht getrieben (IV).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6728


(*) Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der Artikel ist im Schattenblick zu finden unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Europool → Politik
AUSSEN/175: Unruhen im Kosovo (german-foreign-policy.com)

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. Juni 2023

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