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OSTEUROPA/393: Ukraine - "Im Krieg gedeihen" (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 27. September 2022
german-foreign-policy.com

"Im Krieg gedeihen"

Eine Stellungnahme aus einem europäischen Think-Tank warnt für den Fall, dass der Krieg in der Ukraine lange anhält, vor Staatszerfall und krimineller Kriegsökonomie in dem Land.


BERLIN/KIEW - Eine aktuelle Stellungnahme aus dem European Council on Foreign Relations (ECFR), einem Think-Tank mit Hauptsitz in Berlin, warnt vor einem Abgleiten der Ukraine in den Staatszerfall und in eine "kriminalisierte Kriegsökonomie". Die Stellungnahme wendet sich gegen zentrale Forderungen eines Strategiepapiers, das kürzlich ebenfalls vom ECFR veröffentlicht wurde und unter der Überschrift "Survive and Thrive" ("Überleben und gedeihen") auf einen "viele Jahre" dauernden Krieg in der Ukraine einstimmt. Es schlägt vor, mehr als 100 Milliarden Euro zu investieren, um die ukrainischen Waffenbestände vollständig auf modernstes westliches Kriegsgerät umzustellen. Darüber hinaus solle die Ukraine schnellstmöglich in den EU-Binnenmarkt integriert werden. Demgegenüber wenden die Autoren der aktuellen Stellungnahme ein, in diesem Fall sei mit breiter Verelendung in der Ukraine zu rechnen. Schon jetzt schnellt die Armutsquote in dem Land auf 40 Prozent in diesem und wohl 58 Prozent im kommenden Jahr in die Höhe, während die westlichen Staaten Kiew zwar zum Krieg anfeuern, sein eklatantes Staatsdefizit, das in den Kollaps zu führen droht, jedoch nicht ansatzweise begleichen.

"Viele Jahre Krieg"

Gegenstand der Debatte ist ein Strategiepapier zum Ukraine-Krieg ("Survive and Thrive"), das kürzlich der European Council on Foreign Relations (ECFR) veröffentlicht hat, ein über sieben europäische Hauptstädte vernetzter Think-Tank mit Hauptsitz in Berlin. Die Autoren gehen davon aus, der Krieg werde "viele Jahre andauern", auch wenn die Gewalt sich auf einem gewissen Niveau einpendeln, womöglich sogar zwischenzeitlich ein wenig abflauen werde.[1] Aus diesem Grund sei es erforderlich zu zeigen, dass die Ukraine sogar unter Kriegsbedingungen sich "entwickeln, ja sogar gedeihen kann", heißt es in dem Papier. Die Autoren skizzieren dafür einen Plan mit vier zentralen Elementen, der neben militärischer Unterstützung auch Sicherheitsgarantien, wirtschaftliche Hilfen und Schritte zur Sicherung der ukrainischen Energieversorgung umfasst. Der Plan solle nebenbei, heißt es weiter, der EU-Bevölkerung vermitteln, dass es "notwendig" sei, "trotz der Kriegsmüdigkeit" die "europäische Einheit zu konsolidieren". Nicht zuletzt könne er es der EU erlauben, "in der Unterstützung für die Ukraine die führende Rolle einzunehmen" - und zwar anstelle der Vereinigten Staaten -, erklären die Autoren des Papiers.

100 Milliarden für das ukrainische Militär

Das ECFR-Papier schlägt unter anderem massive militärische Unterstützung der EU für die Ukraine vor. So soll sich die Union intensiv um die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte bemühen. Dabei gelte es eine Umstellung auf modernstes westliches Kriegsgerät nach NATO-Standards vorzunehmen. Allein für den Ersatz alter Waffen aus der Sowjetära müsse man mehr als 100 Milliarden Euro aufwenden, heißt es in dem ECFR-Papier.[2] Der Vorschlag, darum müsse sich besonders die EU kümmern, läuft in der Praxis darauf hinaus, einen Großteil der Beschaffungsaufträge europäischen Waffenschmieden zuzuschanzen. Weiter heißt es beim ECFR, Militärs aus der EU sollten in Zukunft ukrainische Truppen in großem Stil trainieren und womöglich auch als "Berater" bei den ukrainischen Streitkräften "eingebettet" werden. Jenseits militärischer Vorschläge plädieren die Autoren des ECFR-Papiers dafür, der Ukraine schnelle Aufnahme in den EU-Binnenmarkt zu gewähren; freilich solle sie nicht an den dazu gehörenden Entscheidungsstrukturen beteiligt werden. Nicht zuletzt machen sich die Autoren für eine Integration der ukrainischen Energiestrukturen in diejenigen der EU stark; dazu solle "der ukrainische Energiemarkt reformiert" werden.

Staatszerfall und Kriegsökonomie

An dem Papier wird nun scharfe Kritik sogar aus dem ECFR selbst laut. Zum einen heißt es in einer gestern publizierten Stellungnahme, es gehe nicht an, bedenkenlos auf einen "langen Krieg" zu orientieren. Dieser sei zwar das derzeit womöglich "wahrscheinlichste Szenario"; doch könne dieses, je mehr man es wiederhole, leicht zu einer "sich selbst erfüllenden Vorhersage" werden.[3] Das spezielle Risiko eines "langen Krieges" bestehe darin, dass er Charakteristiken eines "unlösbaren Konflikts" annehmen und zum "ewigen Krieg" ("forever war") werden könne, wie man ihn aus anderen Weltgegenden kenne. Diese Charakteristika seien etwa eine "Fragmentierung des Staats", eine "kriminalisierte Kriegsökonomie" oder auch eine Entwicklung, bei der staatliche und nichtstaatliche Kräfte in wachsendem Maß ein "fortgesetztes wirtschaftliches und/oder politisches Interesse an der Reproduktion von Gewalt" hätten. Dabei gelte es festzuhalten, dass "ökonomische Liberalisierung" eine solche Entwicklung fördern könne - dann, wenn "Einkommen und Produktion dramatisch sinken" und Einzelpersonen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts mangels Alternative auf die Beteiligung an mörderischer, kriegerischer Gewalt angewiesen seien.

Fünf Milliarden Minus pro Monat

Genau solche Lebensumstände drohen, darauf weist die gestern publizierte Stellungnahme aus dem ECFR hin, zur Zeit unter den Bedingungen des Krieges in der Ukraine zu entstehen. Die sozioökonomische Lage ist verheerend. Laut einer umfassenden Untersuchung, die die Weltbank, die EU-Kommission sowie die ukrainische Regierung vor kurzem gemeinsam publiziert haben, ist die Wirtschaftsleistung der Ukraine seit Kriegsbeginn so stark kollabiert, dass sie voraussichtlich im Gesamtjahr 2022 um ein Drittel unter dem Vorjahreswert liegen wird.[4] Gravierende Armut - weniger als 5,50 US-Dollar pro Person und Tag - sei in dem Land recht selten gewesen, heißt es in der Untersuchung; sie drohe nun auf 21 Prozent der Bevölkerung in die Höhe zu schnellen. Die Inflation - zur Zeit 23 Prozent, zu Jahresende womöglich 30 Prozent - werde die gesamte Armutsquote auf ungefähr 40 Prozent in diesem, 58 Prozent im kommenden Jahr anschwellen lassen. Bereits jetzt benötigten 18 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Die Regierung in Kiew sei bemüht, trotz vervielfachter Kosten für das Militär bei drastisch wegbrechenden Staatseinnahmen die notwendigsten sozialen, humanitären und medizinischen Ausgaben zu tätigen. Kiews Etatlücken könnten auf annähernd 28,8 Milliarden US-Dollar im zweiten Halbjahr 2022 steigen.[5]

Destabilisierung der Heimatfront

Dies kontrastiert eklatant mit der finanziellen Unterstützung, die zu leisten die westlichen Staaten bereit sind. Wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze konstatiert, hat Kiew bislang monetäre Hilfen im Wert von 1,5 Milliarden US-Dollar im Monat erhalten. Zusagen reichen bis Ende 2022; für 2023 liegen noch keine verlässlichen Zusicherungen vor.[6] Die EU hat zwar im Mai Budgethilfen im Wert von 9 Milliarden Euro versprochen, bisher aber lediglich eine Milliarde Euro gezahlt. Ohne eine massive Aufstockung der Mittel läuft Kiew Gefahr, schreibt Tooze, "den Krieg mit voller Intensität fortzusetzen" - ganz wie es die westlichen Staaten wünschen -, dabei aber "eine soziale und ökonomische Krise zu riskieren, die die Heimatfront destabilisieren wird". Es wäre eine Situation, in der eine "Fragmentierung des Staats" und eine "kriminalisierte Kriegsökonomie" drohen, vor denen die gestern publizierte Stellungnahme aus dem ECFR warnt.[7]

Zusatzprofite

Die Stellungnahme aus dem ECFR weist darüber hinaus darauf hin, dass ein rascher Beitritt der Ukraine zum EU-Binnenmarkt, für den das Strategiepapier "Survive and Thrive" plädiert, unter diesen Bedingungen desaströse Auswirkungen hätte. Der simple Grund: Die aktuelle Lage lässt der ukrainischen Wirtschaft keinerlei Chance, auf Augenhöhe mit der überlegenen Industrie Westeuropas zu gelangen. Setzte man ukrainische Unternehmen der schockartigen Konkurrenz mit westeuropäischen Konzernen auf einem nivellierten Binnenmarkt aus, bliebe der endgültige Kollaps der ukrainischen Wirtschaft wohl nicht aus. Allerdings könnten Unternehmen aus Westeuropa, insbesondere aus Deutschland, auf attraktive Zusatzprofite hoffen.


Anmerkungen:

[1], [2] Piotr Buras, Marie Dumoulin, Gustav Gressel, Jeremy Shapiro: Survive and thrive: A European plan to support Ukraine in the long war against Russia. ecfr.eu 09.09.2022.

[3] Luke Cooper, Mary Kaldor: In Europe's gift: How to avoid a Ukraine 'forever war'. ecfr.eu 26.09.2022.

[4] World Bank, Government of Ukraine, European Commission: Ukraine: Rapid Damage and Needs Assessment. August 2022.

[5], [6] Adam Tooze: Success On The Battlefield Whilst The Pressure Mounts On Ukraine's Home Front. adamtooze.com 10.09.2022.

[7] Luke Cooper, Mary Kaldor: In Europe's gift: How to avoid a Ukraine 'forever war'. ecfr.eu 26.09.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 27. September 2022

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