Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/762: Der Al-Jazeera-Skandal (Uri Avnery)


Der Al-Jazeera-Skandal

Von Uri Avnery, 29. Januar 2011


ICH DACHTE immer, dies wäre ein spezifisch israelischer Zug: wann immer ein Skandal nationaler Proportion ausbricht, ignorieren wir die entscheidenden Punkte und lenken unsere Aufmerksamkeit auf zweitrangige Dinge. Dies erspart uns, uns mit den eigentlichen Problemen zu befassen und schmerzliche Entscheidungen zu treffen.

Da gibt es Beispiele in Hülle und Fülle. Das klassische Beispiel konzentriert sich auf die Frage: "Wer gab den Befehl?" Als bekannt wurde, dass 1954 einem israelischen Spionagering befohlen worden war, in amerikanischen und britischen Institutionen in Ägypten Bomben zu legen, um Bemühungen zu sabotieren, die Beziehungen zwischen dem Westen und Gamal Abd-al Nasser zu verbessern, brach in Israel eine große Krise aus. Fast keiner fragte, ob die Idee als solche weise oder töricht war. Fast keiner fragte, ob es im eigentlichen Interesse Israels war, den neuen und rigorosen ägyptischen Führer herauszufordern, der schnell das Idol der arabischen Welt wurde (und der schon im Geheimen andeutete, dass er mit Israel Frieden schließen könnte.)

Nein, die Frage war nur: Wer hatte den Befehl gegeben? Der Verteidigungsminister Pinhas Lavon oder der Chef der Nachrichtendienste Binjamin Gibli? Die Frage erschütterte die Nation, stürzte die Regierung und veranlasste David Ben Gurion, die Labor-Partei zu verlassen.

Vor kurzem drehte es sich beim türkischen Flotilla-Skandal um die Frage: war es eine gute Idee, ein Kommando an Seilen auf das Schiff hinunter zu lassen oder hätte eine andere Angriffsweise genommen werden sollen? Fast keiner fragte: Sollte über Gaza überhaupt eine Blockade verhängt werden? Wäre es nicht klüger, mit der Hamas zu reden? War es eine gute Idee, auf hoher See ein türkisches Schiff anzugreifen?

Es scheint so, als ob diese speziell israelische Weise, sich mit Problemen auseinander zu setzen, ansteckend sei. (Auch) in dieser Hinsicht fangen unsere Nachbarn an, uns zu ähneln.


DAS AL-JAZEERA-Fernsehnetz fing in dieser Woche damit an, Wickileads zu imitieren, indem es eine Menge geheimer palästinensischer Dokumente veröffentlichte. Sie geben ein detailliertes Bild der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen, besonders während der Zeit von Ministerpräsident Ehud Olmert, als die Kluft zwischen den Parteien immer kleiner wurde.

In der arabischen Welt verursachte dies große Aufregung. Sogar während die "Jasmin-Revolution" in Tunesien noch voll im Gange war und Menschenmassen in Ägypten gegen das Mubarak-Regime demonstrierten, erregten die Al-Jazeera-Enthüllungen eine intensive Kontroverse.

Aber worum ging es eigentlich? Nicht um die Position der palästinensischen Unterhändler, nicht um die Strategie von Mahmoud Abbas und seiner Kollegen, ihre eigentlichen Voraussetzungen, die Pros und Contras.

Nein - nach israelischer Weise war die Hauptfrage: wer enthüllte die Dokumente? Wer lauert im Schatten? Die CIA? Der Mossad? Welches waren ihre finsteren Motive?

Bei Al-Jazeera wurden die palästinensischen Führer des Verrates und schlimmerer Dinge angeklagt. In Ramallah wurden die Al-Jazeera-Büros von Pro-Abbas-Mengen angegriffen. Saeb Erekat, der palästinensische Hauptunterhändler, erklärte, Al-Jazeera habe tatsächlich zu seiner Ermordung aufgerufen. Er und andere leugnen, dass sie jemals die Konzessionen gemacht hätten, die in den Dokumenten angedeutet werden. Sie scheinen öffentlich damit einverstanden zu sein, dass solche Konzessionen einem Verrat gleichkommen - obwohl sie ihnen im Geheimen zustimmten.

All dies ist Unsinn. Jetzt, wo die palästinensischen und israelischen Verhandlungspositionen öffentlich gemacht wurden - und keiner ihre Authentizität ernsthaft bestreitet - sollte die wirkliche Diskussion über ihre Substanz beginnen.


FÜR JEDEN, der in irgendeiner Weise mit den israelisch-palästinensischen Friedensunterhandlungen engagiert war, gab es bei diesen Enthüllungen nichts wirklich Überraschendes.

Im Gegenteil zeigen sie, dass die palästinensischen Unterhändler sich streng an die von Arafat gesetzten Richtlinien gehalten haben.

Ich weiß darum aus erster Hand, weil ich die Gelegenheit hatte, mit Arafat selbst darüber zu diskutieren. Es war 1992 nach der Wahl von Yitzhak Rabin. Rachel und ich flogen nach Tunis, um "Abu Amar" (wie er selbst gern genannt werden wollte) zu treffen. Der Höhepunkt des Besuches war ein Treffen, an dem außer Arafat selbst mehrere palästinensische Führer teilnahmen - unter ihnen Mahmoud Abbas und Yasser Abed-Rabbo.

Alle waren äußerst neugierig auf die Persönlichkeit Rabins, den ich gut kannte. Sie befragten mich eingehend nach ihm. Meine Bemerkung, dass "Rabin so redlich ist, wie ein Politiker nur sein kann" löste großes Gelächter aus, am meisten bei Arafat.

Aber der Hauptteil des Treffens war einem Überblick über die Schlüsselprobleme des israelisch-palästinensischen Konfliktes gewidmet. Die Grenzen, Jerusalem, die Sicherheit, die Flüchtlinge etc., die jetzt gewöhnlich als "Kernprobleme" erwähnt werden.

Arafat und die anderen diskutierten diese vom palästinensischen Standpunkt aus. Ich versuchte, das zu übermitteln, womit - meiner Meinung nach - Rabin einverstanden sein könnte. Was dabei herauskam, war ein Entwurf des Friedensabkommens .

Zurück in Israel, traf ich mich am Schabbat mit Rabin in seiner privaten Wohnung in Gegenwart seines Assistenten Eitan Haber und versuchte, ihm zu sagen, was bei dem Gespräch in Tunis heraus gekommen war. Zu meiner Überraschung vermied er eine ernsthafte Diskussion. Er dachte schon über Oslo nach.

Ein paar Jahre später veröffentlichte Gush Shalom einen detaillierten Entwurf eines Friedensabkommens. Seine Grundlage war natürlich jene Diskussion in Tunis. Wie jeder auf unserer Website sehen kann, war er den letzten Vorschlägen von palästinensischer Seite, wie sie in den Al-Jazeera-Papieren enthüllt wurden, sehr ähnlich.



IN GROBEN Zügen sind sie wie folgt:

Die Grenzen gründen sich auf die 1967er-Linien - mit einigem minimalem Landaustausch. Dieser würde jene großen Siedlungen, die unmittelbar an der grünen Linie liegen, mit Israel vereinigen. Das würde aber nicht jene großen Siedlungen einschließen, die tief in die Westbank hineinragen und so das Gebiet (der Westbank) in (viele) Stücke teilen, wie z.B. Maale Adumim und Ariel.

Alle Siedlungen, die zum Staat Palästina kommen, werden evakuiert werden müssen. Nach den Al-Jazeera-Papieren schlug einer der Palästinenser eine andere Option vor: dass die Siedler bleiben und palästinensische Bürger werden. Zipi Livni - die damalige Außenministerin - war sofort dagegen und sagte frei heraus, dass dann alle ermordet werden würden. Auch ich stimme darin überein, dies würde keine gute Idee sein. Es würde endlose Reibereien verursachen, da diese Siedler auf palästinensischem Land sitzen - auf palästinensischem Privatbesitz oder auf den Landreserven der Städte und Dörfer.

Über Jerusalem: die Lösung würde so sein, wie Präsident Bill Clinton es formuliert hat: Was arabisch ist, geht an Palästina, was jüdisch ist, soll Israel angeschlossen werden. Das wäre eine sehr große palästinensische Konzession, aber eine weise. Ich war froh, dass sie dies nicht auf Har Homa anwenden wollen, das Betonmonster, das auf einem einst wunderschön bewaldeten Hügel steht, auf dem ich viele Tage und Nächte mit Protestdemonstrationen verbrachte (und beinahe mein Leben verlor).

Was die Flüchtlinge betrifft, ist es für jede vernünftige Person klar, dass es keine Massenrückkehr von Millionen geben kann, die Israel sehr verändern würden. Dies ist eine sehr bittere und ungerechte Pille, die die Palästinenser schlucken müssten - aber jeder Palästinenser, der eine Zwei-Staaten-Lösung wünscht, muss dies akzeptieren. Die Frage ist: wie vielen Flüchtlingen soll - als heilende Geste - erlaubt werden, nach Israel zurückzukehren? Die Palästinenser schlagen 100.000 vor. Olmert 5.000. Das ist ein großer Unterschied - aber wenn wir uns erst einmal wegen Zahlen streiten, dann wird eine Lösung gefunden werden.

Die Palästinenser wollen, dass eine internationale Truppe in der Westbank stationiert wird, die für die eigene und für Israels Sicherheit sorgt. Ich erinnere mich nicht mehr, ob Arafat dies mir gegenüber erwähnt hat, aber ich bin sicher, dass er damit einverstanden gewesen wäre.

Dies ist der palästinensische Friedensplan - und er hat sich nicht verändert, seit Arafat Ende 1973 zu der Schlussfolgerung kam, dass die Zweistaatenlösung die einzig machbare sei. Die Tatsache, dass Olmert & Co nicht vor Freude in die Höhe sprangen und diese Bedingungen akzeptierten, stattdessen aber die vernichtende Cast-Lead-Operation begannen, spricht für sich selbst.


DIE Al-JAZEERA-Enthüllungen mögen zur Unzeit kommen. Solche delikaten Verhandlungen werden besser im Geheimen geführt. Die Idee, dass "das Volk Teil der Verhandlungen sein sollte" ist naiv. Das Volk sollte gefragt werden, wenn der Abkommensentwurf fertig auf dem Tisch liegt und es entscheiden kann, ob es das ganze Vertragsbündel haben möchte oder nicht. Vorher werden Enthüllungen nur einen demagogischen Missklang von Anschuldigungen des Verrats (auf beiden Seiten) entfachen, wie es jetzt gerade geschieht.

Für das israelische Friedenslager sind die Enthüllungen ein Segen. Sie beweisen, wie Gush Shalom es gestern in seinem wöchentlichen Statement ausdrückte: "Wir haben einen Partner für Frieden. Die Palästinenser dagegen haben keinen Partner für Frieden."



Copyright 2011 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)


*


Quelle:
Uri Avnery, 29.01.2011
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der
freundlichen Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2011