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NAHOST/441: Binnenflüchtlinge im Irak (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 45 - Herbst 2008
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Gestrandet im Zweistromland
Binnenflüchtlinge im Irak

Von Veit Raßhofer


Eine Katastrophe im Verborgenen: Das größte Aufnahmeland für irakische Flüchtlinge ist der Irak selbst. Sie bilden ein großes Problem für das zerrüttete Land und stehen selbst vor noch größeren Problemen.


Der Krieg im Irak hat zu einer Flüchtlingskatastrophe bisher ungekannten Ausmaßes geführt. Dabei fallen die innerhalb des Landes Geflüchteten und Vertriebenen zwangsläufig weniger auf als die, die ins Ausland, vor allem die Nachbarländer Syrien und Jordanien, geflohen sind. Dabei ist ihre Anzahl enorm. Allein seit Februar 2006, so weisen es Zahlen der kurdischen Regionalregierung für die drei Nordprovinzen und des irakischen Ministeriums für Vertreibung und Migration für die fünfzehn zentral- und südirakischen Provinzen aus, sind 1,596448 Millionen Menschen vertrieben worden und geflüchtet, die innerhalb des Landes Schutz suchten. Zahlen der International Organization for Migration (IOM) und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR geben für die Zeit davor 1,212108 Millionen interner Flüchtlinge an. So sind mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung (2007 geschätzt 27 Millionen) im Land selbst auf der Flucht - deutlich mehr als ins Ausland geflohen sind (ca. 2,5 Millionen).

Dass bei der Zählung der Binnenflüchtlinge die Zeit vor und nach Februar 2006 unterschieden wird, hat mit dem damals erfolgten Ausbruch interkonfessioneller Gewalt und konfessioneller Säuberung nach dem Attentat auf die Goldene Moschee in Samarra, ein zentrales Heiligtum der Schiiten, zu tun. Schiiten flohen aus gemischt-konfessionellen Gebieten im Zentralirak in den Süden, aus dem wiederum die Sunniten vertrieben wurden. Der Druck auf die irakischen Christen, die nicht schon vorher geflohen waren, wuchs. Diejenigen, die sich nicht ins Ausland begeben konnten, mussten in die wenigen christlich geprägten Gebiete im Nordirak migrieren. In der Hauptstadt Bagdad wurden die Viertel konfessionell gesäubert, mit dem Ergebnis, dass von den Besatzungskräften teils hohe Betonmauern zwischen einzelnen Stadtteilen errichtet wurden. Fast zwei Drittel aller Binnenflüchtlinge stammen aus Bagdad. Die Hauptstadt ist zugleich der Ort, an dem die meisten Menschen Zuflucht gefunden haben, nach einer Zählung des Office for the Coordination of Humanitarian Affairs der Vereinten Nationen (UN-OCHA) waren das im Februar 2008 mehr als 375.000 Menschen.


Konfessionelle Homogenisierung

Doch während die religiösen Spannungen für einen großen Teil der Vertreibungen verantwortlich gemacht werden können, gibt es heute stärker im Vordergrund stehende Fluchtursachen. Im Nordirak spielen vielfache ethnische Spannungen eine Rolle, die teils noch auf die Politik unter Saddam Hussein zurückzuführen sind. Zu nennen ist hier vor allem die damalige Politik der Arabisierung der ölreichen Gebiete um die Stadt Kirkuk. Seit den späten 60er Jahren verfolgte die irakische Regierung eine Politik der ethnischen Säuberung, nach der Niederschlagung eines kurdischen Aufstands 1975 wurden 200.000 bis 300.000 Menschen aus der Region ausgewiesen und vertrieben. Mittlerweile sind etwa 200.000 Menschen wieder dorthin zurückgekehrt. Das in der Verfassung für Dezember 2007 vorgesehene Referendum über die Zukunft der Region und über den Anschluss an die kurdischen Nordprovinzen wurde bis heute nicht durchgeführt.

Die Binnenflüchtlinge verfügen im Vergleich zu den ins Ausland Geflüchteten über weniger finanzielle und materielle Ressourcen, sie haben nach ihrer Flucht zumindest vorübergehend keinen Zugang zur staatlichen Lebensmittelhilfe, da diese an den Melde-, also den Herkunftsort gebunden ist. Eine Ummeldung würde eine Rückkehr an den Ort, von dem sie geflüchtet sind, voraussetzen. Tatsächlich berichten landesweit 70 % aller Flüchtlinge, dass die Lebensmittelversorgung eines der größten Probleme darstelle. Die Unterschiede in einzelnen Regionen sind dabei hoch. So hatten in der nordöstlich von Bagdad gelegenen Provinz Diyala 97,3 % der Befragten Probleme damit, genügend Nahrung zu bekommen, in Kirkuk waren es 95 %. Nur 29 % der Geflohenen haben Zugang zur staatlichen Lebensmittelhilfe, 41 % erhalten aus anderen Quellen Unterstützung bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln.

Ein wichtiges Problem nimmt auch die Arbeitslosigkeit unter Binnenflüchtlingen ein. Zwei Drittel von ihnen sind arbeitslos. Die Rate derer, die den Zugang zu Arbeit als Problem einstuft, ist mit knapp 73 % noch etwas höher.


Zusammenbruch des Gesundheitssystems

Das früher gut ausgebaute irakische Gesundheitssystem hatte schon während des UN-Embargos während der 90er Jahre stark gelitten. Nach der Invasion 2003 brach es vollständig zusammen. Da viele Flüchtlinge im Land keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu sauberem Wasser haben - 17,6 % gaben als eines der drängenden Probleme die Wasserversorgung an -, auf der anderen Seite die Abwasserentsorgung und Hygiene schwerer als unter normalen Umständen zu gewährleisten ist, ist innerhalb der Gruppe der Binnenflüchtlinge die Krankheits- und Seuchengefahr besonders groß. 14 % der Flüchtlinge haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, und 30 % berichten, sie bekämen nicht die benötigten Medikamente.

Ein weiteres Problem ist die mangelnde, inadäquate Versorgung mit Wohnraum und -möglichkeiten. Über 70 % der Flüchtlinge sehen ihre diesbezügliche Situation als sehr problematisch an. Die Unterkünfte der Flüchtlinge sind oft stark überbelegt und unverhältnismäßig teuer. Vielfach müssen die Flüchtlinge in Ruinen oder in notdürftig errichteten Behausungen wohnen, in denen es keine Versorgung mit Wasser oder Strom gibt.

Die irakische Regierung will nun nach eigener Aussage damit beginnen, die Rückkehr an die ursprünglichen Wohnorte zu unterstützen (im Fall der unter der Saddam-Regierung in Kirkuk zugewanderten Araber geschieht dies schon länger). Jede heimkehrende Familie solle mit einer einmaligen Prämie von einer Million Dinar (in etwa 500 Euro) sowie weiteren monatlichen Zahlungen bedacht werden. Familien, die die Häuser und Wohnungen Heimkehrender besetzen und diese wieder räumen, sollen 300.000 Dinar erhalten.

Menschenrechtsorganisationen und Agenturen wie die IOM warnen aber vor einer verfrühten Rückkehr. Denn die ursprünglichen Fluchtgründe bestehen weiterhin. Nur 45 % der männlichen und 3 % der weiblichen Rückkehrer fanden laut einer Untersuchung der IOM mit 9.000 Befragten Arbeit. Nur 59 % fanden ihr Haus in gutem Zustand und frei zugänglich vor, der Besitz von 15 % war zerstört, und ein Viertel der Befragten berichtete, dass ihr Haus von anderen bewohnt sei. Räumungen, die bei der Rückkehr von Flüchtlingen, aber auch in anderen Fällen anstehen (wenn sich die Geflohenen beispielsweise auf öffentlichem Land angesiedelt haben, das anders genutzt werden soll), werden, wie die IOM und andere Beteiligte es einschätzen, die nächste große Vertreibungswelle auslösen. Es ist also nicht abzusehen, dass das Land an Euphrat und Tigris in absehbarer Zeit zur Ruhe kommen wird.


Veit Raßhofer arbeitet bei der Redaktion von Zenith - Zeitung für den Orient und wohnt in Hamburg.


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 45 - Herbst 2008, Seite 66-67
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität
in Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2009