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NAHOST/1014: Syrien - Reger Personenverkehr an der Grenze zum Irak (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Oktober 2013

Syrien: Wenigstens eine Brücke - Reger Personenverkehr an Grenze zum Irak

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kurdische Trauergäste sind vom Irak aus auf dem Weg nach Syrien
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Derik, Syrien, 16. Oktober (IPS) - Vor drei Monaten floh Gulnaz vor dem Krieg aus ihrer Heimat Syrien. Sie ist zurückgekehrt, um ihren verstorbenen Bruder zu begraben. Der Islam schreibt vor, dass dies innerhalb von 24 Stunden zu geschehen hat. Den Sarg über die irakisch-syrische Grenze zu bringen, ist allerdings kein leichtes Unterfangen.

In der kurdischen Stadt Peshkhabur, die im Irak etwa 460 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Bagdad liegt, kamen in den vergangenen Wochen ungewöhnlich viele Menschen an. Die meisten sind Flüchtlinge aus Syrien, doch manche von ihnen müssen wieder in das vom Krieg zerrissene Land zurückkehren.

Gulnaz ist eine von ihnen. Der tödliche Autounfall ihres Bruders hat sie so sehr mitgenommen, dass sie ihrem Begleiter das Reden überlässt. "Nach der Offensive der Islamisten im Juli sind wir nach Erbil gezogen, der Verwaltungshauptstadt der irakischen Kurdenregion", berichtet er, während die Trauernden auf ihre Abfertigung an der Grenze warten.

Die Grenzkontrollen verlaufen ähnlich wie in anderen Staaten: das Gepäck wird gründlich von Uniformierten durchsucht, während Beamte in Zivil hinter Glasscheiben Daten in Computer eingeben. Etwa eine Stunde später geht es weiter. Dass ihre Ausweise nicht abgestempelt wurden, zeigt die Besonderheit dieser Grenzstation zwischen dem autonomen Kurdengebiet des Iraks und dem Nordosten Syriens, der von den syrischen Kurden kontrolliert wird.


Größtes staatenloses Volk der Welt

Die etwa 40 Millionen Kurden, die im Iran, Irak, in Syrien und der Türkei leben, sind das größte staatenlose Volk der Welt. Seit Beginn des Volksaufstands in Syrien im März 2011 haben sich drei Millionen bis vier Millionen syrische Kurden für einen neutralen 'dritten Weg' entschieden. Das heißt, dass sie sich weder mit Präsident Baschar al-Assad noch mit der arabischen Opposition solidarisieren.

Erst im Juli 2012 übernahmen sie die Kontrolle über die Gebiete im Norden und Nordwesten, in denen sie zahlenmäßig am stärksten vertreten sind. In der Zwischenzeit ist es jedoch zu Zusammenstößen zwischen beiden Seiten gekommen. Die erbittertsten Auseinandersetzungen gab es mit Gruppen, die dem Terrornetzwerk Al Qaeda zugerechnet werden, wie von türkischer Seite berichtet wurde.

Die Türkei hat unverblümt erklärt, dass sie einen neuen Kurdenstaat nahe ihrer Grenze nicht befürworten wird. Weder Bagdad noch Damaskus verfügen über genaue Informationen, wie viele Menschen und Güter täglich den Harbur-Fluss passieren, der die natürliche Grenze zwischen beiden Ländern bildet.

Nachdem die Papiere von irakischer Seite ausgestellt wurden, erhalten die Trauernden ein auf ihren Namen ausgestelltes Dokument, das ihnen als Fahrkarte für die Überfahrt auf einem der beiden Boote dient, die den Fluss überqueren. Zuerst wird der Sarg ins Boot gehievt. Mehrere Männer tragen den 'shal-e-sapik', das traditionelle kurdische Trauergewand. Zwei Frauen stoßen den 'serkeftim' aus, einen Schrei der sowohl höchste Freude als auch größtes Leid ausdrücken kann. Gulnaz bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen, während sie zum Boot geführt wird.

"Der Transport wird sich erheblich vereinfachen, wenn erst die Brücke über den Fluss fertig gestellt ist", meint Sherwan, der Steuermann. Er zeigt auf zwei gelbe Bulldozer, die am syrischen Ufer im Einsatz sind. Es gibt zwar eine provisorische Pontonbrücke, die ist jedoch für Kraftfahrzeuge und Erdöltransporte reserviert. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR hatten während einer großen Flüchtlingswelle im August jedoch mehr als 30.000 Menschen diesen Weg in den Irak gewählt. Das UNHCR schätzt die Gesamtzahl der in den Irak geflohenen Syrer auf rund 200.000.

Mit dem Boot lässt sich der ruhige Fluss in fünf Minuten überqueren. Auf der anderen Seite wird das Gepäck der Ankommenden von zwei jungen Frauen durchsucht, die die Uniform der 'Asayish', der neuen syrisch-kurdischen Polizei, tragen. Der Befehlshaber über die Polizeitruppe, Hasim Mohamed, erklärt, dass 4.000 Freiwillige die 40.000 Mitglieder der Volkswiderstandskomitees YPG unterstützen. Das Komitee ist in Wirklichkeit eine richtige Armee, die den Vormarsch der Islamisten in der Region bisher erfolgreich abwehren konnte.


Bis zu 200 Grenzgänger täglich

YPG finanziert sich vor allem durch den Grenzverkehr. Jeder Passagier zahlt umgerechnet fünf Euro in einer weißen Kabine, die ein paar Meter vom Ufer entfernt steht. Örtliche Beamte sagen, dass täglich etwa 150 bis 200 Menschen den Fluss überqueren. Diejenigen, die eine Pause machen wollen, bevor sie in eines der wartenden Taxis hinter der letzten Absperrung steigen können, haben die Möglichkeit, in einem behelfsmäßigen Restaurant eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Die Kurden, die hier leben, machen trotz aller Schwierigkeiten weiterhin Geschäfte.

Die Trauergemeinde fährt sofort zur Beerdigung. Die Mitreisenden haben andere Pläne. Massoud Hamid trinkt erst einmal einen Tee, bevor er sich auf den Weg in seine Heimatstadt Qamishli, etwa 680 Kilometer nordöstlich von Damaskus, macht. Er gehört zu den treibenden Kräften hinter 'Nú Dem', der ersten zweisprachigen Zeitung, die in Syrien auf Arabisch und Kurdisch erscheint. Die letzte Ausgabe hat er im irakischen Erbil drucken lassen.

"Wir haben noch immer keine richtigen Druckmaschinen im syrischen Kurdistan. Deshalb muss ich alle zwei Wochen in den Irak", erzählt Hamid. Drei Jahre saß er im Gefängnis, nachdem er im Internet Fotos von Kindern veröffentlicht hatte, die vor dem UNICEF-Hauptsitz in Damaskus demonstriert hatten.

Hamid wurde 2004 festgenommen, als er sein Examen an der Universität von Damaskus ablegen wollte. Sein Mut wurde 2005 von der Organisation 'Reporter ohne Grenzen' gewürdigt. Nach seiner Freilassung ging er ins französische Asyl, bis er wieder in seine Heimat zurückkehren konnte. "In Syrien wird nichts mehr so werden wie früher", sagt er. "Dass wir Grenzkontrollen über uns ergehen lassen müssen, obwohl auf beiden Seiten Kurden leben, ist nur eine der vielen Veränderungen." (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php
http://en.rsf.org/syria-massoud-hamid-is-awarded-the-2005-08-12-2005,15866.html
http://www.ipsnews.net/2013/10/kurds-build-bridges-at-last/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. Oktober 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2013