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LATEINAMERIKA/2001: Argentinien - Der Traum von der weißen Nation (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Argentinien
Der Traum von der weißen Nation

Von Mauro Millán und Nilo Cayuqueo


(Buenos Aires, 14. Juni 2021, ANRed/Cosecha Roja/poonal) - "Die Mexikaner kommen von den Indios, die Brasilianer aus dem Busch und wir Argentinier von den Booten", erklärte Präsident Alberto Fernandez am 9. Juni während des Besuchs des spanischen Präsidenten Pedro Sanchez in Buenos Aires. Leider kein peinlicher Ausrutscher, sondern aufrichtiges Abbild einer persönlichen Überzeugung, und nicht nur das: Hier zeigt sich der ideologische Leitgedanke einer Staatspolitik, die sich bei den europäischen Regierungen und der damaligen US-Regierung einschmeichelt und beim IWF Schulden aushandelt, die zwar nicht vom Volk aufgenommen wurden, aber vom Volk zurückgezahlt werden müssen.

Generationen von Präsidenten haben dieses Bild der mit Schiffen angereisten Argentinier bemüht. Dass dies im Jahr 2021 immer noch der Fall ist, illustriert die Weigerung, die Geschichte unseres Landes so zu betrachten, wie sie stattgefunden hat: mit Blut und Feuer, mit Massakern an Ureinwohner*innen und der Kontinuität des Sklavenhandels. Die Schiffe brachten nicht nur Europäer*innen, sondern auch versklavte Menschen aus Afrika. Fernández' Äußerung ist eine Beleidigung für die Geschichte Argentiniens und des gesamten Kontinents. Eine eilig versendete Entschuldigung via Twitter reicht da nicht aus. Die historische Wiedergutmachung gegenüber den indigenen Völkern ist längst überfällig und kann nicht länger warten.


Die Ermordung und Vertreibung von Indigenen gehört weiterhin zum Alltag

Am Tag nach der Äußerung von Präsident Fernandez wurde der junge Qom José Lago [1] im Chaco von der Polizei getötet. Der Staat tritt durch polizeiliche Gewalt in Erscheinung, weigert sich jedoch beharrlich, die in nationalen und internationalen Gesetzen verankerten Rechte zur Kenntnis zu nehmen. Die Regierung hingegen fördert "Investitionen" multinationaler Unternehmen. Ein Euphemismus, hinter dem sich die Plünderung und Verseuchung von Gebieten verbirgt, die seit Hunderten und Tausenden von Jahren von indigenen Völkern bewohnt werden. Dazu Mapuche-Oberhaupt Mauro Millán: "Diese rassistischen Aussagen erklären, warum wir Mapuche Tehuelche systematisch vom Staat und der Justiz verfolgt werden bis hin zur Ermordung, und warum Morde wie der an Rafael Nahuel [2] ungestraft bleiben. Albertos Satz verurteilt unsere Kämpfe um das Gebiet und deckt die rassistischen Grundlagen auf, mit denen er die Kriminalisierung unserer Kämpfe und Forderungen nach Rechten rechtfertigt".


Die Gründung des argentinischen Staats: eine schmerzhafte Tragödie

Die Empörung über Fernández' Äußerung ließ nicht lange auf sich warten: "Wir Indigenen sind nicht unter einem Stein, aus dem Regenwald oder irgendeinem Gebirge hervorgekrochen. Wir waren schon vor tausenden von Jahren hier, mitsamt unseren eigenen Regeln, Strukturen und Kenntnissen über die Welt, in der wir leben. In diesem Gebiet gab es mehr als fünf Millionen von uns, als man mit Booten kam und unsere Lebensweise unterjochte", kommentiert Millán einen Tag später die auf Mythen und Vorurteilen beruhende Konstruktion des Nationalstaats. "Der argentinische Staat wurde auf der Grundlage von Regeln, Strukturen, Sprache, Religion und Ideologien gegründet, die aus Europa stammen. Doch dieser Gründungsakt resultierte in einer der schmerzhaftesten Tragödien, die sich je auf diesem Gebiet ereignet haben: Hunderttausende ermordete, verschleppte, versklavte und ihrer Heimat beraubte Indigene. Dies geschah keineswegs als Vereinbarung zwischen der indigenen Bevölkerung und den hier geborenen Europäer*innen. Wenn also davon gesprochen wird, dass Argentinien ein demokratischer Staat sei, wird die Existenz von Rassismus und Überlegenheitsgefühlen geleugnet. Denn das Problem ist nicht, dass Europäer*innen in unser Gebiet gekommen sind, mit einer anderen Hautfarbe und anderer Identität. Das Schreckliche ist, dass eine Ideologie des Hasses mitgebracht und hier etabliert wurde: eine Ideologie, die auf Ausbeutung, Invasion, Aneignung und Privileg beruht."

Der Präsident vermittelt sehr deutlich seinen Standpunkt, das Projekt des "weißen Argentinien" unterstützen zu wollen; ein Projekt, das ohne permanente Gewalt an den indigenen Gruppen nicht realisierbar ist. An uns Indigenen, die überlebt haben und auf unserem Boden wieder aufgestanden sind, wie es die Geschichte der Mapuche besagt. Die Äußerungen des Präsidenten offenbaren die politischen Absichten uns gegenüber und verdeutlichen, warum wir nicht auf der Agenda der Diplomatie, wohl aber auf der Agenda von Justiz und Sicherheit stehen. Egal, ob rechts, Mitte oder Mitte-links: die Ideologie der Verleugnung ist die gleiche. Offensichtlich spielt die Dekonstruktion kolonialer Gedankenstrukturen in den Köpfen der Machthaber*innen dieses Landes und derer, die unser Schicksal in der Hand haben, keine Rolle. Unsere nationale Identität wurde nicht abgestimmt, sondern aufgezwungen, und der erste Gründungsakt des argentinischen Staats war die Aneignung unserer Gebiete.


Sie sprechen von "unsere Ureinwohner". Wer ist das "Wir"?

In Fernández' Entschuldigung auf Twitter heißt es, Mitte des 20. Jh. seien mehr als fünf Millionen Immigrant*innen aus Europa und anderen Teilen der Welt, wie Asien oder dem Mittleren Osten, nach Argentinien gekommen. Die Migrant*innen hätten mit "unseren ursprünglichen Bevölkerungsgruppen zusammengelebt", sogar von "Stolz auf diese Vielfalt" ist die Rede. Dazu Millán: "Erstens gehören wir niemandem. 'Unsere Indigene' oder 'unsere ursprünglichen Bevölkerungsgruppen' impliziert eine paternalistische Perspektive, die im fortschrittlichen Menschenrechtssektor sehr weit verbreitet ist und die wir bereits mehr als leid sind. Zweitens gab es Mitte des 20. Jahrhunderts kein sogenanntes Zusammenleben. Von den 1920er bis zu den 1950er Jahren fanden systematische und sehr gewaltsame Vertreibungen statt. Wir hatten gerade einen Ausrottungsversuch erlitten, und dennoch waren wir dabei, unsere Wirtschaft wieder aufzubauen und unsere alte Kultur zu stärken, als der Staat erneut eine Welle von Vertreibungen auslöste. Für uns Mapuche Tehuelche waren diese Jahrzehnte der 'Mitte des 20. Jahrhunderts' eine Katastrophe; es waren Jahre voller Traurigkeit. Mit der Ausweitung der Viehzucht und der Ankunft von Migrant*innen legitimierte der Staat massive Vertreibungen von Tehuelche Mapuche-Gemeinschaften und anderen indigenen Gruppen im Rest des Landes."


Sind Freiheit und Gerechtigkeit kompatibel mit der Macht von Konzernen?

Die spanische Eroberung und Kolonisierung basiert auf der Leugnung des minderen Anderen. Unwissenheit und die Angst vor dem Anderen sind Ursprung von Rassismus, dem ideologischen Freibrief für Überlegenheit und Unterjochung. Können wir heute ein freies, gerechtes und souveränes Land sein, während Grundbesitzer, multinationale Konzerne und Finanzunternehmen die Territorien beherrschen und die Wirtschaft kontrollieren? Die so genannte volksnahe Regierung rühmt sich ihrer Wohlfahrtspolitik, die die Besitzlosesten begünstigen soll, während die Reichen immer reicher werden. Dass die Vermögenssteuer ihnen etwas von ihrem Reichtum nimmt, wird keine Änderung zur Folge haben. Um gegen Ungleichheit und galoppierende Verarmung vorzugehen, müssen wir die Grundlage der Privilegien revolutionieren. Die Verteilung des Reichtums ist ein unausweichlicher Imperativ.


Auf ein Wort, Herr Präsident

Es ist nicht Ihre Schuld, dass Sie europäisch erzogen wurden. Ihre Erziehung geht auf Präsident Faustino Sarmiento zurück, ein Mörder und Rassist, der Massaker an der indigenen Bevölkerung in Auftrag gab und damit die Geschichte des Siegers begründete, die heute in den Schulen gelehrt wird. So wie Sie, Herr Präsident, sich als "Europäer" bezeichnen, taten das auch vor Ihnen auch schon Carlos Menem, Cristina Fernandez und der ultrarechte Mauricio Macri. Leider denkt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, dass wir Argentinier*innen Nachfahren von Europäer*innen sind, und das muss sich ändern. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Präsident, solch eine banale Geste hilft uns nicht weiter. Was wir brauchen, ist, dass unser Staatsoberhaupt die Geschichte unseres Landes kennt. Wir erwarten, dass Sie sich bilden; wie alle anderen Beamt*innen sind auch Sie dazu verpflichtet. Dass Sie realitätsfremde und beleidigende Phrasen dreschen und damit die indigenen Völker sowie alle von Armut betroffenen Teile der Gesellschaft verletzen, ist inakzeptabel.


Ein plurinationaler Staat ist keine Utopie

Die indigenen Völker und ihre legitimen Forderungen nach Rückgabe ihrer Territorien und historischer Wiedergutmachung für die Völkermorde werden weiterhin ignoriert. Die systematische Unterdrückung und Ermordung von indigenen Anführer*innen und Jugendlichen setzt sich fort. Die Gefängnisse sind voll von Menschen nicht-europäischer Herkunft. Die Rückgabe der Territorien an die Indígenas, verbunden mit einer Agrarreform könnte ein Anfang sein. Millionen Menschen, die in den Elendsvierteln leben, hätten Zugang zu Land, Ernährungssouveränität und einem würdigeren Leben. Ein plurinationaler Staat ist keine Utopie. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen in diesem riesigen Land namens Argentinien ist der Traum von Millionen. Stumpfsinnige, kurzsichtige und ignorante Äußerungen wie die des Präsidenten zeigen, dass der argentinische Staat zunehmend in Konflikt mit der Bevölkerung gerät, die ihre Grundrechte einfordert. Wenn die Regierungen nicht auf das historische Mandat reagieren, wird es Aufgabe des Volkes sein, sie auszuführen.


Nilo Cayuqueo schreibt für die Zeitung ANRed. Mauro Millán ist Lonko Mapuche des Lof pillan mawiza.


Anmerkungen:
[1] https://www.barricadatv.org/?p=16716
[2] https://violenciapolicial.org.ar/historias/rafael-nahuel/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/der-traum-von-der-weissen-nation/


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. Juli 2021

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