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LATEINAMERIKA/1875: Mexiko - Wer hilft der Regierung, den Weg zu finden? (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Mexiko
Wer hilft der Regierung, den Weg zu finden?

Von Victor M. Toledo, Cuetzalan



Vier Männer in traditioneller Kleidung lassen sich an Seilen, die sich allmählich abwickeln, kopfabwärts hängend und kreisend von einem hohen Mast zu Boden gleiten. Oben auf dem Mast sitzt ein fünfter Mann - Bild: Frank C. Müller, via Wikimedia Commens [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Die "Voladores de Cuetzalán" stehen für jahrtausendealte indigene Tradition. In Cuetzalán soll aber auch ein umstrittenes Umspannwerk entstehen, um die Bergbauprojekte in der Umgebung mit Strom zu versorgen. Die neue mexikanische Regierung muss sich auch hier entscheiden, auf welcher Seite sie stehen will. (Das Foto zeigt Fliegende Tänzer in El Tajín bei Papantla, Mexiko)
Bild: Frank C. Müller, via Wikimedia Commens
[CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

(Mexiko-Stadt, 26. März 2019, la jornada) - Wir haben die indigenen Völker Amerikas als Träger tausendjähriger Kulturen unter der Kategorie der Zivilisationen anerkannt. Das verdanken wir den Vordenkern Guillermo Bonfil (1935-1991) aus Mexiko und Darcy Ribeiro (1922-1997) aus Brasilien. Für die eurozentristischen Intellektuellen jedoch waren die autochthonen Völker Erinnerungen der Vergangenheit, archaische oder primitive Gruppen, die "entwickelt" werden mussten.

Heute ist dieser theoretische Beitrag grundlegend geworden, denn die moderne und industrielle Welt ist bereits eine "ermüdete Zivilisation", die kollabieren wird, wenn sie sich nicht erneuert. Die indigenen Völker der Welt sind daher die wichtigsten zivilisatorischen Reserven des Planeten. Nach meinem Urteil ist es für den Aufbau einer wirklich emanzipatorischen und befreienden Politik entscheidend, ob diese Prämisse anerkannt wird oder nicht. Die ökologische und soziale Krise zu überwinden ist heute die größte Herausforderung. Sie ist nicht auf Mexiko beschränkt, sondern global und ihre Lösung wird jeden Tag dringlicher. Eine "Linksregierung", die diese Herausforderung nicht berücksichtigt, ist zum Scheitern verurteilt.


Ökologische und soziale Krise muss überwunden werden

Die Vierte Transformation (4T) beginnt, Probleme zu offenbaren sowie Risse und Widersprüche zu zeigen. Nach gerade einmal 100 Tagen legt die 4T auch ihr hässliches Gesicht frei, im Widerspruch zu ihren noblen und vielversprechenden Vorhaben. Der gnadenlosen Durchsetzung des Integralen Projektes Morelos (das Wärmekraftwerk von Huexca) scheinen der Maya-Zug und das Trans-Isthmus-Vorhaben zu folgen. Es gibt jedoch weitere Projekte, die mir schwerwiegender und emblematischer zu sein scheinen: beispielsweise diejenigen, die die Nahua-, Totonakú- und Mestizenbevölkerung in der Sierra Norte des Bundesstaates Puebla bedrohen. In Mexiko existieren mehr als 500 umweltbedingte soziale Konflikte. Von all diesen sind es die Konflikte in dieser Tropenregion, die den größten biokulturellen Widerstand provoziert haben. Paradoxerweise entwickeln und konsolidieren sich genau dort die vielversprechendsten Selbstverwaltungsprojekte des Landes, die sich überall vervielfältigen sollten (Anm. d. Ü.: Toledo ist als (noch) grundsätzlicher Anhänger der neuen Regierung nicht gerade ein Verfechter der zapatistischen Autonomie).


Ein Bundesstaat voller Bergbaukonzessionen

Stand 2016 waren im Bundesstaat Puebla 753 Bergbaukonzessionen vergeben. In der Sierra Norte konzentriert sich ein bedeutender Teil dieser Projekte: 189 auf 18 Unternehmen verteilte Konzessionen, die 372.000 Hektar Fläche betreffen. Das sind flächenmäßig 38 Prozent des Konzessionsgebietes im Bundesstaat. Die wichtigsten Bergbaukonzerne sind Almaden Minerals, Freeport-McMoRan, Autlán Holding und Industria Peñoles. Dazu kommen Einzelinvestoren. Außerdem gibt es bereits 232 Bohrlöcher für die Gas- und Ölförderung mittels Fracking. Der staatliche Erdölkonzern Petroleos Mexicanos (Pemex) hat ein Auge auf 448.000 Hektar in 35 Landkreisen geworfen. Die Bundesstromgesellschaft (CFE), der staatliche Stromkonzern, überlegt, die Energieversorgung von Bergbau sowie Gas- und Ölförderung mit Infrastruktur zu unterstützen. Dazu gehört das umstrittene Umspannwerk bei Cuetzalan, gegen das es massive Ablehnung gibt. Alles zusammen ein zerstörerischer Krieg.

Angesichts dieser Situation ist der Widerstand der mesoamerikanischen Zivilisation außerordentlich gewesen. Innerhalb von sieben Jahren haben sich Dutzende von Dorfgemeinden aus etwa 20 Landkreisen der Verteidigung des Territoriums angeschlossen. Sie haben eine mächtige regionale Organisation geschaffen: den Rat Tiyat Tlalli, der fast 250 Gemeinden zusammenbringt. Tiyat Tlalli hat bisher 28 Massenversammlungen durchgeführt, auf denen bis zu 8.000 Menschen anwesend waren. Die neue "anti-neoliberale" Regierung zeichnet bisher für zwei Aktionen in der Region verantwortlich. Zum einen hat sie dem größten Bergbauprojekt, das das kanadische Unternehmen Almaden Minerals mit seinen Tochterfirmen beginnen will, absolute Rückendeckung gegeben. Dabei geht es um 56.000 Hektar im Landkreis Ixtacamaxtitlán, dessen Untergrund nachgewiesene 1,35 Millionen Unzen Gold birgt. Die Unterstützung wurde im Dezember 2018 durch Francisco Quiroga, Staatssekretär für Bergbau im Wirtschaftsministerium, vor den Bewohner*innen der Region bekräftigt. Die zweite, genauso schwerwiegende Maßnahme war die Entscheidung der Rechtsabteilung der CFE, die komplett falschen Anschuldigungen gegen acht führende Mitglieder des Widerstandes aufrechtzuerhalten. Der bereits unter der Regierung Peña Nieto dafür verantwortliche Funktionär wurde vom neuen CFE-Direktor im Amt bstätigt.


Die Regierung ist dabei, sich auf die Seite der "Todesprojekte" zu stellen

In der Region stimmten hunderte von Gemeinden aus Dutzenden Landkreisen massiv für die Nationale Erneuerungsbewegung (Morena). Die Sierra Norte ist emblematisch, weil wir 2011 in Cuetzalan das Projekt Grüne Morena (Morena Verde) starteten - in Anwesenheit des heutigen verfassungsmäßigen Präsidenten Mexikos. Die Aktionen der Regierung sind deswegen unerklärlich. Beim Zusammenprall der Zivilisationen ist die 4T dabei, sich auf die Seite der "Todesprojekte" zu stellen. Dies veranlasste die jüngste regionale Versammlung am 17. März zu folgender Erklärung: "Uns verletzen die Erklärungen des Präsidenten der Republik, der zivile Organisationen und die Verteidiger*innen des Territoriums disqualifiziert. Seine verallgemeinernden Aussagen setzen uns noch stärker der Gewalt der ökonomischen Mächte aus... Der offizielle Diskurs darf nicht weiter die unterschiedlichen Lebensformen, die mit dem Territorium verwurzelt sind, geringschätzen und einer wirtschaftlichen Plünderungspolitik den Vorzug geben."

Kann jemand der 4T helfen, den Weg (wieder) zu finden? Wer weist sie darauf hin, dass sie blindlings dieselben Fehler der fortschrittlichen Regierungen Südamerikas begeht? Wird sie in der Lage zu sein, die Ohren zu öffnen? Wird sie akzeptieren, dass sie das Buch "México Profundo" [das Tiefgründige Mexiko des erwähnten Guillermo Bonfil, d. Ü.] lesen muss? Wird sie akzeptieren, dass sie ihre irrige und naive Sichtweise überwinden muss? Wer hilft ihr?


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/wer-hilft-der-regierung-den-weg-zu-finden/


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2019

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