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LATEINAMERIKA/1524: Indigene Völker haben keinen Platz in UN-Nachhaltigkeitszielen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. November 2015

Lateinamerika: Indigene Völker haben keinen Platz in UN-Nachhaltigkeitszielen

von Fabíola Ortiz


Bild: © Mario Osava/IPS

Brasilianische Indigene fordern auf einer Demonstration in Rio de Janeiro ihre Rechte ein
Bild: © Mario Osava/IPS

New York (IPS) - Indigene Völker finden in den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs), die die Weltgemeinschaft im September verabschiedet hat, kaum Erwähnung. Dabei wäre dies eine gute Gelegenheit gewesen, Indigene besser sichtbar zu machen und sie aus ihrer marginalisierten Position herauszuholen, meinen Experten.

In der Nachfolge der UN-Millenniumentwicklungsziele, deren Hauptziel die Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 war, haben sich die UN-Mitgliedstaaten auf 17 Nachhaltigkeitsziele geeinigt. Mit deren Hilfe soll unter anderem die Armut bis zum Jahr 2030 gänzlich beseitigt werden. Während sich eines der Ziele mit Frauen beschäftigt, hat keines die besondere Situation von indigenen Völkern im Blick. Sie kommen lediglich am Rande in verschiedenen Zielen vor.

"Wieder einmal bleiben Indigene außen vor", sagte Victoria Tauli Corpuz, UN-Sonderberichterstatterin für indigene Völker, gegenüber IPS. Um ihre Rechte durchzusetzen, müssten sie nun weiterhin selbst Druck auf nationale und lokale Regierungen ausüben.

Tauli erkennt den transformatorischen Anstrich der UN-Nachhaltigkeitsziele an. Doch ihre Agenda reiche nicht aus, damit tatsächlich niemand zurückbleibe, wie es der Wahlspruch der SDGs verspricht. Dafür hätte das aktuelle Wirtschaftsmodell wesentlich stärker in den Fokus genommen werden müssen, sodass soziale und ökologische Aspekte stärker berücksichtigt würden.

Um wirklich die Lebenssituation aller Bevölkerungsgruppen zu verbessern, müssten nun zumindest Indikatoren identifiziert werden, nach denen der Erfolg der SDGs gemessen und evaluiert werden könne. "Wenn nicht für Transparenz in der Erreichung der Ziele gesorgt wird, verschwinden marginalisierte Gruppen wie die Indigenen wieder in die Unsichtbarkeit", warnte sie.

Fabiana del Popolo, Bevölkerungsexpertin der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), wies gegenüber IPS darauf hin, dass bereits in den Millenniums-Entwicklungszielen Indigene praktisch nicht vorgekommen waren. In den SDGs fänden sie nun dreimal zumindest indirekt Erwähnung: im ersten Ziel, die Armut bis 2030 abzuschaffen, im zweiten Ziel, den Hunger zu besiegen und im 15. Ziel, Ökosysteme zu schützen. "Das ist zu wenig", sagte sie.


Indigene werden strukturell diskriminiert

Aufgabe der SDGs hätte es sein sollen, die strukturelle Diskriminierung der Indigenen zu beseitigen, sagte del Popolo gegenüber IPS. Seit die Spanier und Portugiesen in Lateinamerika gelandet seien, seien die Indigenen dort unterdrückt worden. "Die Kolonialzeit ist offensichtlich noch immer nicht vorbei." Jede politische Maßnahme, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Ureinwohner in Lateinamerika bezogen hat, zielte darauf ab, dass sie sich an die dominierende europäische Kultur anpassen, kritisierte del Popolo.

"Alle Verbesserungen der Situation der Indigenen haben sie sich selbst zuzuschreiben. Weil sie sich zu politischen Akteuren entwickelt und für ihre Sache gekämpft haben." Doch die Verbesserungen seien nur minimal gewesen.

Del Popolo wies auch darauf hin, dass in den Ländern Lateinamerikas mehr als 200 Konflikte auf indigenem Territorium ausgetragen werden. Fast alle seien auf Bergbauaktivitäten und den Bau von Wasserkraftwerken in Gebieten zurückzuführen, die angestammtes indigenes Territorium sind, aber nicht immer als solches anerkannt werden, weil die Indigenen häufig keine Landtitel haben.

Der Atlas der Umweltgerechtigkeit listet insgesamt 480 Umweltkonflikte in 16 lateinamerikanischen und karibischen Ländern auf. Einige beruhen auf Bergbauaktivitäten, andere auf Abfall- oder Wassermanagement, wieder andere auf Fragen des Landbesitzes. Die meisten Konflikte zeigt der Atlas für Kolumbien (101), Brasilien (64), Ecuador (50), Peru (38), Argentinien (37) und Mexiko (36) auf.

Koordiniert wird der Atlas von der Universität von Barcelona. Insgesamt sind Experten von 23 Universitäten und Umweltorganisationen aus 18 Ländern beteiligt. Gefördert wird die Initiative vom EU-Projekt 'Environmental Justice Organizations, Liabilities and Trade'.


45 Millionen Indigene

Rund 600 Millionen Menschen leben in Lateinamerika. 45 Millionen von ihnen gelten als Indigene. Sie gehören zu 800 verschiedenen Bevölkerungsgruppen, wie es im CEPAL-Bericht 'Los pueblos indígenas en América Latina. Avances en el último decenio y retos pendientes para la garantía de sus derecho' ('Die indigenen Völker Lateinamerikas - Fortschritte der vergangenen zehn Jahre und Herausforderungen für die Einhaltung ihrer Rechte') vom November vergangenen Jahres heißt.

305 der indigenen Völker sind dem Bericht zufolge in Brasilien angesiedelt, 102 in Kolumbien, 85 in Peru und 78 in Mexiko. Homogener sieht es in Costa Rica und Panama aus mit jeweils lediglich neun verschiedenen Gruppen, in El Salvador mit drei Gruppen und Uruguay mit zwei Völkern.

In absoluten Zahlen hat Mexiko die meisten Indigenen aufzuweisen (fast 17 Millionen Menschen), darauf folgen Peru mit 7,2 Millionen, Bolivien mit 6,2 Millionen und Guatemala mit 5,9 Millionen.

Viele dieser Völker könnten in den nächsten Jahren verschwinden. Gründe hierfür sind die Vertreibung von ihrem angestammten Land, die Verschmutzung ihrer Wasserquellen und ihres Bodens, Nahrungsmittelknappheit, Unterernährung und hohe Sterberaten. Die Sterblichkeitsrate von Kindern ist bei Indigenen noch immer wesentlich höher als beim Rest der Bevölkerung in Lateinamerika. Die größten Ungleichheiten auf diesem Gebiet sind in Panama, Peru und Bolivien zu verorten. Unterernährung ist ein großes Problem in Guatemala, Ecuador, Bolivien und Nicaragua.

Auch sinken die Geburtsraten unter den Indigenen: In Guatemala und Panama gebiert eine Frau durchschnittlich noch fünf Kinder, in Nicaragua und Venezuela durchschnittlich vier. In Uruguay liegt die Rate pro Frau bei lediglich noch 2,4 Kindern.

Viele Kinder von Indigenen wachsen dem CEPAL-Report zufolge in Armut auf. Darüber hinaus ist häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder weit verbreitet. (Ende/IPS/jk/23.11.2015)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2015/11/objetivos-de-desarrollo-sostenible-olvidan-a-los-indignas/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 23. November 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2015

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