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LATEINAMERIKA/1515: Auf Sand gebaut - Das »chilenische Modell« in der Agonie (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Auf Sand gebaut - Das »chilenische Modell« in der Agonie

von Reiner Radermacher
Juli 2015


• Der sich seit Mitte letzten Jahres allmählich aufbauende Skandal um die offenkundig weit verbreitete, illegale Finanzierung der Wahlkampagnen ehemaliger sowie amtierender Parlamentarier_innen durch Unternehmen hat das politische System Chiles in eine tiefe Legitimationskrise gestürzt.

• Indessen ist dies nur der Kulminationspunkt eines vor gut einer Dekade einsetzenden Prozesses, der mit der Artikulation des Unbehagens einer ständig wachsenden Zahl von Bürger_innen mit dem Status quo begann und schließlich in eine Sozialbewegung mündete, die Forderungen nach Reformen in zahlreichen Politikfeldern auf die Tagesordnung setzte.

• Die 2013 gewählte Regierung Bachelet war die letzte Chance des postdiktatorialen Systems, die überkommenen Defizite des wirtschaftlichen wie politischen Modells aus sich selbst heraus zu überwinden. Die fatale Kombination aus dem Widerstand der Wirtschaftsoligarchie gegen jegliche Reform einerseits sowie der Diskreditierung sämtlicher Institutionen der repräsentativen Demokratie andererseits hat diesem Versuch der Selbsterneuerung ein frühes Ende gesetzt.

• Die Hoffnungen ruhen nun auf einer verfassungsgebenden Versammlung, die das politische System neu legitimiert, die Agonie des »chilenischen Modells« beendet und die am Horizont aufscheinende Möglichkeit eines neopopulistischen Regimes abwendet.


Inhalt

- Von der »ewigen« Diktatur zur Konsens-Demokratie
- Das Unbehagen an den Verhältnissen
- Die Rückkehr der politisierten Gesellschaft
- Der Kampf um die Grenzen des Möglichen
- Die Käuflichkeit der Politik als System
- Die Entzauberung der Hoffnungsträgerin
- Politische Artist_innen in der Zirkuskuppel - ratlos

*

In den frühen Morgenstunden des 6.10.1988 wurde dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet klar, dass er das am Vortag abgehaltene Plebiszit verloren hatte - eine Abstimmung, die er selbst angesetzt hatte, um seine Herrschaft weitere acht Jahre legitimieren zu lassen. In seiner Funktion als Oberbefehlshaber des Heeres teilte er daraufhin den übrigen Mitgliedern der Militärjunta mit, dass er nicht gewillt sei, den Präsidentenpalast zu räumen. Doch die Oberkommandierenden von Marine, Luftwaffe und der Carabineros verweigerten Pinochet die Gefolgschaft. Ihnen war klar, dass die US-Regierung diesen Staatsstreich - anders als 1973 - nicht unterstützen würde. Die zivil-politischen Kräfte des Regimes hielten die kontrollierte Beendigung der Diktatur gleichfalls für opportun, da die anhaltende außenpolitische Isolierung Chiles zu einem ernsthaften Hindernis für ihre wirtschaftlichen Interessen geworden war.

Von der »ewigen« Diktatur zur Konsens-Demokratie

Indessen hatte der Diktator das Referendum nur relativ knapp verloren, hatten doch immerhin 44 Prozent der Wähler_innen für die Fortsetzung seiner Herrschaft gestimmt. Somit fehlte der demokratischen Opposition die soziale Basis, um einen regelrechten Bruch mit der Diktatur vollziehen zu können. Außerdem war mit dem Rückzug der Militärs in die Kasernen keineswegs die Bereitschaft zur bedingungslosen Unterordnung unter die Politik verbunden (der ehemalige Diktator blieb bis 1998 Oberkommandierender des Heeres!).

Der Übergang zur Demokratie erfolgte daher bis 1990 im Rahmen eines ausgehandelten Paktes (»transición pactada«) auf der Grundlage der 1980 von der Diktatur oktroyierten Verfassung. Diese wurde zwar um ihre offenkundig autoritären Bestandteile bereinigt,[1] doch blieb der vom Chefideologen des Regimes, Jaime Guzmán, sorgfältig konstruierte Kern erhalten:

• zum einen das dem Streben nach einer entpolitisierten Gesellschaft dienende Konstrukt einer gelenkten Demokratie, in der die Partizipation der Bürger_innen am politischen Prozess auf den formalen Akt der Wahlen begrenzt, die Legislative auf ihre legitimatorische Minimalfunktion reduziert und die Parteien nur als notwendiges Übel geduldet sind;

• zum anderen die aus neoliberalen Dogmen abgeleitete, marktradikale Wirtschaftsordnung, in der die (unternehmerische) Freiheit das Leitprinzip abgibt, dem Staat lediglich eine subsidiäre Funktion eingeräumt wird und praktisch alle Bereiche der Daseinsfürsorge privatwirtschaftlich organisiert sind.

Ein weiteres Schlüsselelement der »transición pactada« stellte das binominale Wahlsystem dar, das den beiden Parteien des Mitte-rechts-Blocks eine überproportionale Repräsentanz im Kongress garantierte.[2] Da alle entscheidenden Elemente des »chilenischen Modells« durch Klauseln der Verfassung oder durch Gesetze mit Verfassungsrang festgeschrieben waren, die nur mit hohen Quoren verändert werden konnten, verfügte die politische Rechte somit über eine quasi institutionalisierte Vetomacht im Kongress, mit der sie Strukturreformen jederzeit blockieren konnte. Das ab 1990 über vier aufeinanderfolgende Legislaturperioden bis 2010 regierende Parteienbündnis Concertación de Partidos por la Democracia[3] des Mitte-links-Lagers (kurz Concertación genannt) befand sich daher in einer Art ständiger »Großen Koalition« mit der rechtskonservativen Opposition.[4] Die aus dieser Konstellation resultierende Konsens-Demokratie fand anfangs durchaus die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung, da auf diesem Wege das Ende des Staatsterrors und die Rückgewinnung der politischen Bürgerrechte sowie des Rechtsstaates erreicht werden konnten.

Ein weiterer Faktor für die Akzeptanz der Transition »à la chilena« war die positive wirtschaftliche Entwicklung: Die scheinbar unersättliche Nachfrage, insbesondere der aufsteigenden Wirtschaftsnationen, nach Rohstoffen im Allgemeinen und nach Kupfer im Besonderen hat Chile - wo rund ein Drittel der Weltproduktion dieses Halbedelmetalls stattfindet - in den zurückliegenden drei Dekaden ein Wirtschaftswachstum um durchschnittlich gut vier Prozent pro Jahr beschert. Damit einher ging der kontinuierliche Abbau der Arbeitslosigkeit von rund 15 Prozent (1990) auf gut sechs Prozent (2014) bzw. die Zunahme der Beschäftigung, die es einer wachsenden Zahl von Chilen_innen möglich machte, ein existenzsicherndes Einkommen durch eigene Arbeit zu erwirtschaften. Dies hat entscheidend dazu beigetragen, dass der in Armut lebende Anteil der Bevölkerung von 38,6 Prozent (1990) auf 7,8 Prozent (2013) zurückging und weite Teile der chilenischen Bevölkerung einen - wenn auch meist bescheidenen - sozialen Aufstieg erlebt haben, insbesondere in die unteren Bereiche der Mittelschicht.

Das Unbehagen an den Verhältnissen

Die graduellen Veränderungen in der Struktur der chilenischen Gesellschaft bildeten den entscheidenden Treibsatz für den sich allmählich vollziehenden Wandel der Bewertung der wirtschaftlichen wie politischen Realität des Landes durch die Bürger_innen: Zwar erfuhren weite Kreise der chilenischen Bevölkerung eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation, die ihnen eine wachsende Teilhabe am Konsum ermöglichte. Allerdings war damit für viele Familien auch der Einstieg in die strukturelle Verschuldung verbunden - der buchstäblich erworbene soziale Status blieb damit ausgesprochen prekär. In dieser Situation werden wiederum die weit verbreiteten konsumentenfeindlichen Praktiken (el abuso) der oligopolistisch dominierten Wirtschaft - zwangsläufige Folge der extremen Deregulierung eines kleinen Binnenmarktes - mit besonderer Schärfe wahrgenommen. Hinzu kam die bittere Erfahrung, dass die weitgehende Priva­tisierung des Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystems einen großen Teil der neuen Mittelschicht vom Zugang zu den auf diesen »Märkten« angebotenen »Waren« de facto ausschloss.

Diese Gemengelage bildete die Basis für die immer lauter vorgebrachte Kritik am wirtschaftspolitischen Kern des »chilenischen Modells« und die Forderung nach einer stärkeren Rolle des Staates in der Ökonomie. Die neuen sozialen Schichten bewegt dabei nicht die Vorstellung von einer anderen Gesellschaft, sondern das Verlangen nach fairen Chancen für die Verwirklichung ihrer persönlichen Bestrebungen, nach einer akzeptablen Absicherung der allgemeinen Lebensrisiken sowie nicht zuletzt nach einer gerechten Verteilung der Ergebnisse der gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen.

Denn nicht alle Chilen_innen haben im gleichen Maße von der wirtschaftlichen Prosperität profitiert - im Gegenteil: Mit einem Gini-Koeffizienten von 52,1 (2013) weist Chile die höchste Ungleichheit bei der Einkommensverteilung im Staatenclub der OECD auf (dem Chile seit 2010 angehört). Dies bedeutet konkret, dass die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung sich mit 1,6 Prozent des nationalen Reichtums zufriedengeben müssen, während die oberen zehn Prozent der Einkommenspyramide 41,7 Prozent auf sich vereinen (in Deutschland sind dies »nur« 22,1 Prozent). Diese Angabe verschleiert jedoch immer noch den tatsächlichen Grad der Konzentration: Nur ein Prozent der Bürger_innen verfügen über 30,5 Prozent des Volkseinkommens, 0,1 Prozent besitzen 17,6 Prozent und auf 0,01 Prozent - rund 1700 Personen - entfallen immer noch 10,1 Prozent (Deutschland: 12,1 Prozent, 5,0 Prozent, 2,3 Prozent).

Ein weiterer Faktor, der ganz entscheidend zum Stimmungswandel in der chilenischen Gesellschaft beigetragen hat, lässt sich mit dem Begriff vom Generationenwechsel erfassen: Rund 40 Jahre nach dem Militärputsch vom 11.9.1973 und rund 25 Jahre nach der Überwindung der Diktatur sind Altersgruppen nachgekommen, für die weder die ideologischen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahre noch die traumatischen Erfahrungen während der Diktatur (Verfolgung, Folter, Exil) oder der Kampf um die Rückgewinnung der Demokratie Leitmotive für das eigene Handeln darstellen. Für die junge Generation ist die aktive Nutzung der demokratischen Grundrechte ebenso selbstverständlich wie die offensive Artikulation ihrer Forderung nach einer umfassenden Revision des gesellschaftspolitischen Status quo.

Zwangsläufig geriet dabei der politische Kern des »chilenischen Modells« in den Fokus der Kritik, nämlich das ständige Aushandeln von Kompromissen hinter verschlossenen Türen und die »Politik des Möglichen« der faktischen »Großen Koalition« zwischen den in der Regierungsverantwortung stehenden Parteien des Mitte-links-Lagers und dem oppositionellen Mitte-rechts-Block. Der sich allmählich aufbauende Konflikt zwischen den institutionellen Kräften der Beharrung und dem gesellschaftlichen Wunsch nach Wandel hat die Akzeptanz der Konsens-Demokratie aber auch bei den übrigen Bürger_innen schwinden lassen, die nicht nur mehr Transparenz erwarten, sondern auch eine stärkere Partizipation an der Entscheidungsfindung einfordern.

Die Rückkehr der politisierten Gesellschaft

In der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts hatte sich somit in der chilenischen Gesellschaft ein Gemütszustand eingestellt, der von den Medien mit dem Begriff malestar (Unbehagen) treffend erfasst wurde. Die Mehrheit der politischen Klasse - vom rechtskonservativen Block bis weit in das Mitte-links-Lager hinein - hatte die kritischen Kommentare des erwachten Bewusstseins der Bürger_innen zunächst ignoriert, dann aber den »Stand der Dinge« mit dezidierter Entschlossenheit verteidigt - und zwar mit dem ständig wiederholten Mantra, dass eine andere Politik zum einen die innenpolitische Stabilität (gobernabilidad) gefährden und zum anderen das wirtschaftliche Wachstum abwürgen würde. Diese Blockadehaltung führte zur wachsenden Entfremdung zwischen Politik und Wähler_innen und schließlich zu der Lösung, die in einer Demokratie für diesen Fall vorgesehen ist: Bei den Wahlen Ende 2009 wandte sich ein Teil der Stammwählerschaft von der Concertación ab, stimmte stattdessen in einer Protestwahl für linksalternative Kandidat_innen und sorgte so für die Ablösung der Koalition des Mitte-links-Lagers durch eine Regierung, die von den beiden Parteien des Mitte-rechts-Blocks getragen wurde.

Parallel zu dieser klassischen Reaktion im Rahmen der Institutionen entwickelte sich außerhalb des formalen politischen Systems eine Protestbewegung, die erstmals 2006 sichtbar wurde, als die Sekundarschüler_innen mit ihren Protestaktionen die Defizite des bestehenden Bildungssystems in das Bewusstsein der Bevölkerung rückten (revolución de los pingüinos). Diesem Beispiel folgend, machten nach und nach weitere Gruppierungen der Gesellschaft mit teils spektakulären Aktionen auf ihre Anliegen aufmerksam. Es entstand eine breite, landesweite Sozialbewegung, die mit den Massendemonstrationen der Studierenden 2011 ihren Kulminationspunkt erreichte und zwischenzeitlich die Qualität einer außerparlamentarischen Opposition erlangte.

Dieser Sozialbewegung ist es zu verdanken, dass sich das generelle Unbehagen weiter Kreise der Bevölkerung am Status quo artikulieren und zu konkreten Themen verdichten konnte. Dass diese Themen auf die Agenda der Wahlkämpfer_innen bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2013 gesetzt wurden, ist gleichfalls in erster Linie der organisierten Zivilgesellschaft und nicht den Parteien zu verdanken. Die so induzierte programmatische Debatte hat eine lange Liste von Reformwünschen auf einer Vielzahl von Politikfeldern hervorgebracht (Bildung, Alterssicherung, Gesundheitswesen, Arbeitsgesetzgebung, Steuersystem, Geschlechtergleichstellung, Konsumentenschutz, Medienpolitik, Energieversorgung, Umweltschutz). Da fast alle diese Reformen nur durch eine Änderung der Verfassung realisierbar sind, ist diese gleichfalls zum Gegenstand der öffentlichen Debatte geworden.

Der Kampf um die Grenzen des Möglichen

Die Präsidentschaftswahlen Ende 2013 konnte die Kandidatin der Nueva Mayoría[5], Michelle Bachelet, für sich entscheiden, da eine deutliche Mehrheit der Wähler_innen in ihr die Garantin für die Verwirklichung der überfälligen Reformen auf zahlreichen Politikfeldern sah. Dafür waren nicht in erster Linie die Aussagen des Wahl- und Regierungsprogramms entscheidend, wenngleich diese recht ernsthaft darum bemüht waren, realistische Lösungen für den vorhandenen »Reformstau« aufzuzeigen. Vielmehr stand die Erwartung im Vordergrund, dass Bachelet in der Lage sein werde, die verkrusteten Strukturen des politischen Systems aufzubrechen, da sie nicht als Repräsentantin der politischen Klasse und erst recht nicht als Vertreterin einer bestimmten Partei wahrgenommen wurde (obwohl Bachelet seit ihrer Jugend Mitglied der PS ist), sondern als authentische Persönlichkeit, die über den Niederungen der (Partei-)Politik schwebt.

Die bei vielen Bürger_innen vorhandene Erwartungshaltung an die charismatische Hoffnungsträgerin, die auch bei einem Großteil der Nichtwähler_innen anzutreffen war (immerhin 58,1 Prozent der Wahlberechtigten), wurde im Zuge der Regierungsbildung Anfang 2014 positiv bestätigt: Zwar beachtete die neu gewählte Präsidentin den Proporz innerhalb des politisch komplexen Regierungsbündnisses, doch kamen prominente Figuren aus der Epoche der Concertación nicht zum Zuge. Vielmehr wurden relativ unbekannte Politiker_innen aus der »zweiten Reihe« in das Kabinett berufen und somit überwiegend Vertreter_innen der jüngeren Generation. Zudem besetzte Bachelet Schlüsselpositionen mit Männern aus ihrem engeren Beraterstab während des Wahlkampfes und damit mit Personen ihres persönlichen Vertrauens. Dazu zählten der Innenminister Rodrigo Peñailillo (der im chilenischen Regierungssystem zugleich die Funktion des Ministerpräsidenten ausübt), der Finanzminister Alberto Arenas sowie der Minister im Generalsekretariat der Regierung (u.a. Sprecher der Regierung), Álvaro Elizalde.

Zur Überraschung von Freund und Feind wurden nach dem Amtsantritt der Regierung Bachelet am 11.3.2014 einige der strukturellen Reformen (Steuerreform, ein erstes Paket zur Bildungsreform, Ersetzung des binominalen durch ein modifiziertes Verhältniswahlrecht) sowie verschiedene emblematische Projekte (Wahlrecht für Chilen_innen im Ausland, Umwandlung des Frauensekretariats in ein Ministerium für Gleichstellung, Regelung der eingetragenen Partnerschaft, Frauenquote bei Wahlen) in schneller Folge umgesetzt, während andere Vorhaben in Angriff genommen (Reform des Arbeitsrechts, Einführung der Indikationslösung bei der Abtreibung)[6] bzw. in Aussicht gestellt wurden (Reform der Kranken- und Rentenversicherung, Erarbeitung einer neuen Verfassung).

Wie nicht anders zu erwarten war, rief das entschlossene Handeln der Regierung die zunehmend heftiger werdende Reaktion der Fundamentalopposition auf den Plan, die politisch im rechten Segment und sozioökonomisch in der oberen Etage der Gesellschaft zu verorten sind:

• Die beiden Parteien der Mitte-rechts-Opposition versuchten gegen den Tsunami der Reformen einen politischen Schutzwall zur Verteidigung des »chilenischen Modells« zu errichten. Indessen haben RN und UDI erstmals seit der Rückgewinnung der Demokratie in beiden Häusern des Kongresses ihre Sperrminorität verloren (zumindest bei Gesetzen, für die eine einfache Mehrheit erforderlich ist). Darüber hinaus hat die Wahlniederlage 2013 zu Auseinandersetzungen innerhalb der eigenen Reihen über die zukünftige Ausrichtung geführt (moderner Konservatismus versus Verteidigung der »Errungenschaften« der Diktatur). Konsequenterweise kam es daraufhin zu Auflösungserscheinungen des Mitte-rechts-Blocks: Kurz nach Beginn der Legislaturperiode schieden einige Dissident_innen aus den Fraktionen von UDI und RN aus und gründeten eine neue politische Gruppierung (Amplitud) bzw. schlossen sich einer bereits seit 2012 bestehenden Abspaltung an (Evópoli).

• Die ökonomische Oligarchie setzte angesichts der operativen Schwäche ihrer politischen Interessenvertretungen nicht allein auf die Blockadepolitik der Mitte-rechts-Parteien im Kongress, sondern griff über die offiziellen Lobbyverbände des Unternehmertums direkt in die politische Debatte über die Umsetzung der Reformagenda ein, die gleich mehrfach ihre vitalen Interessen berührt. Darüber hinaus wurde über die Medien - deren wichtigste Organe im Print- wie TV-Bereich im Besitz emblematischer Persönlichkeiten der Wirtschaftsoligarchie sind - eine Kampagne in Gang gesetzt, die darauf abzielte, die Reformagenda der Regierung in der veröffentlichten Meinung zu delegitimieren. Mithilfe gezielter Desinformationen (die Steuerreform führe zu einer Belastung der Mittelschichten, die Bildungsreform beschneide die Wahlfreiheit der Eltern, die Arbeitsrechtsreform beende das Wirtschaftswachstum) gelang es tatsächlich, Teile der Wählerschaft der Nueva Mayoría zu verunsichern. Dies schlug sich bei Meinungsumfragen in schwindender Unterstützung für die Vorhaben der Regierung nieder - was von der politischen Rechten wiederum propagandistisch ausgeschlachtet wurde.

Diese Attacken hätten indes nicht ausgereicht, um die Reformen in der Weise »auszubremsen«, wie es geschehen ist, wenn es nicht Kräfte in den Reihen der Regierungskoalition geben würde, die mehr oder weniger offen Widerstand gegen die Vertiefung des Reformprozesses leisten. So konnten bestimmte Vorhaben - wie die Steuerreform und das Gesetzespaket zur Bildungsreform - erst nach einer deutlichen Abschwächung des Inhalts verabschiedet werden, da einzelne Abgeordnete bzw. Senator_innen der Regierungskoalition damit gedroht hatten, dem ursprünglichen Entwurf ihre Zustimmung zu verweigern.

Obwohl die Mitte-links-Regierung erstmals seit der Rückgewinnung der Demokratie über eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses verfügt, müssen die Reformkräfte also nicht allein den Widerstand der »üblichen Verdächtigen« - der parlamentarischen Opposition sowie der Wirtschaftsoligarchie - überwinden, sondern darüber hinaus die Obstruktion der »internen Opposition« in den Parteien der Nueva Mayoría neutralisieren.

Gut ein Jahr nach dem Amtsantritt der Präsidentin stellte sich somit die in der Geschichte Lateinamerikas geradezu klassische Konstellation eines »gobierno en disputa« ein, bei der zahlenmäßig kleine, aber ökonomisch starke Interessengruppen - die sogenannten faktischen Kräfte (poderes fácticos) - zu verhindern suchen, dass die Regierung das in einem demokratischen Prozess errungene Mandat wahrnimmt und strukturelle Reformen auf verschiedenen Politikfeldern verwirklicht.

Die Käuflichkeit der Politik als System

Vor diesem Hintergrund ist das politische Erdbeben zu verstehen, das Untersuchungen der Steuerbehörde und der Staatsanwaltschaft auslöste, die ab Mitte 2014 Schritt für Schritt ein komplexes System der illegalen Finanzierung von Parteien sowie insbesondere der Wahlkampagnen zahlreicher Kandidat_innen sowohl bei Parlaments- als auch bei Kommunalwahlen durch Unternehmen aufdeckte.

Die Aussagen eines ehemaligen Geschäftsführers der Penta-Gruppe - bestehend aus Banken, Versicherungen und weiteren Finanzdienstleistern - brachten die langjährige Praxis legaler wie illegaler Zuwendungen ans Licht der Öffentlichkeit, die in erster Linie der rechtskonservativen Partei UDI zugute kamen. Während beim legalen Teil der »Pflege der politischen Landschaft« die politisch einseitige Auswahl der Empfänger_innen ins Auge sprang, überraschte beim illegalen Teil die Unverfrorenheit des Vorgehens: Von bestimmten Unternehmensteilen der Penta-Holding ausgehend, wurden im Kontext von Parlamentswahlen achtstellige PesoBeträge an Familienangehörige oder Mitarbeiter_innen von Kandidat_innen der UDI überwiesen. Im Gegenzug stellten diese Personen dann Rechnungen (boletas) über Dienstleistungen aus, die sie nie erbracht hatten - schon gar nicht für die Unternehmensgruppe Penta. Auf diese Weise wurde zum einen die Kontrolle der Wahlbehörde bzw. die gesetzliche Beschränkung der Wahlkampfkosten umgangen sowie zum anderen die Steuerlast des Unternehmens reduziert, da die vorgeblichen Dienstleistungen als Betriebskosten verbucht wurden. Der begleitende E-Mail-Verkehr, der alsbald in den Tageszeitungen ausgebreitet wurde, belegte mit schockierender Eindeutigkeit, dass politischer Einfluss von den Beteiligten in unverblümter Weise »verhandelt« wurde; d.h. spezifisches legislatives Handeln im Auftrag und im wirtschaftlichen Interesse der »Sponsoren« wurde ebenso angeboten wie eingefordert.

Die betroffenen Politiker_innen leugneten zunächst die Fakten (z.T. in grotesker Weise), während die Führungsriegen von UDI und RN die Finanztransaktionen, welche unter dem Begriff Pentagate beständig für neue Schlagzeilen sorgten, als bedauerliche Einzelfälle darzustellen versuchten. Gleichzeitig wurden hinter den Kulissen verschiedene Vorstöße unternommen, um mit den Parteien der Regierungskoalition eine Übereinkunft zu erzielen, die eine umfassende Neuregelung der Finanzierung der Politik für die Zukunft mit einem Generalpardon für »Unregelmäßigkeiten« in der Vergangenheit verbinden sollte. Im Regierungslager gab es durchaus Kräfte, die eine konzertierte Aktion zur Beendigung des Skandals für opportun hielten, doch setzte sich schließlich die Einschätzung durch, dass die beabsichtigte Selbstamnestie der politischen Klasse angesichts der äußerst kritischen öffentlichen Meinung politisch nicht durchsetzbar wäre.

Folglich zog sich die Regierung auf die Position zurück, dass die Unabhängigkeit der Justiz zu respektieren sei (»caiga quien caiga«), was die politische Rechte dazu veranlasste, auf eine Pattsituation hinzuwirken: In den Medien tauchten alsbald Hinweise auf, dass auch Politiker_innen der Regierungsparteien auf illegalem Wege finanzielle Unterstützung erhalten hatten. Entsprechende Nachforschungen von Steuerbehörde und Staatsanwaltschaft deckten bei dem Chemie-Unternehmen Soquimich (SQM) prompt ein System auf, das über lange Jahre in derselben Weise funktioniert hatte, wie im Fall Penta - nur diesmal überwiegend zugunsten von Personen und Institutionen der früheren Concertación.

Zudem wurde sozusagen nebenbei deutlich, dass sich offenbar alle politischen Kräfte des Landes der Rechtsfigur von Consulting-Büros bedient hatten, deren einziger Zweck darin bestand, auf der einen Seite Zuwendungen von Unternehmen »einzusammeln« und diese Mittel auf der anderen Seite an Mitarbeiter_innen von Wahlkampfteams auszuzahlen - beides über boletas, d.h. unter der Vorspiegelung vorgeblicher Dienstleistungen.

Zwar hatten gewisse gesetzgeberische Initiativen und/oder das Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter bzw. Senator_innen im Sinne der Interessen bestimmter Unternehmen in der Vergangenheit schon öfter den Verdacht aufkommen lassen, dass zwischen Wirtschaft und Politik inzestuöse Beziehungen bestehen könnten. Die nun aufscheinende Dimension der politischen Korruption übertrifft jedoch alles, was selbst die zynischsten Pessimist_innen sich vorstellen konnten[7] - immerhin sind bisher gerade mal ein halbes Dutzend der rund 200 Großunternehmen Chiles untersucht worden. Die für alle Bürger_innen offenkundig gewordene Käuflichkeit der Politik bzw. der Ergebnisse der legislativen Beratungen hat nicht nur die bereits bestehende Krise des Vertrauens in zentrale Institutionen der repräsentativen Demokratie - Parlament und Parteien - verstärkt, sondern zu einer strukturellen Erschütterung des gesamten politischen Systems geführt.

Die Entzauberung der Hoffnungsträgerin

Parallel dazu entfaltete sich ein weiterer politischer Skandal, der diesmal die Präsidentin direkt traf: Investigativer Journalismus deckte Anfang 2015 ein dubioses Immobiliengeschäft auf, das in der Endphase des Wahlkampfs 2013 von der Firma Caval getätigt worden war, die dem Sohn und der Schwiegertochter von Michelle Bachelet gehört. Nach einem Gespräch der Eigentümer_innen mit Andrónico Luksic - einer der bedeutendsten Unternehmer Chiles und Vizepräsident der Banco de Chile - erhielt Caval (lediglich mit einem Eigenkapital von gut 8.000 Euro ausgestattet) einen Kredit im Gegenwert von 9,3 Millionen Euro, erwarb damit Grundstücke aus einer Insolvenzabwicklung und reichte diese unmittelbar danach an einen Baumagnaten weiter, der dafür 13,6 Millionen Euro zahlte.

Dieser Deal löste in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus, stand der atemberaubende Vermögenszuwachs der Familienangehörigen der Präsidentin doch im krassen Gegensatz zu der von ihr verkörperten Politik der Bekämpfung der sozialen Ungleichheit. Darüber hinaus stellte sich die Frage (der die Staatsanwaltschaft und ein Untersuchungsausschuss des Parlaments zurzeit nachgehen), welche Zusagen den Käufer der Grundstücke davon ausgehen ließen, dass die zuständige Gemeinde den bestehenden Flächennutzungsplan ändern und die Grundstücke von Agrarland in Bauerwartungsland umwidmen werde, und welche politische Gegenleistung die Bank dazu bewegte, unter Missachtung gesetzlicher wie interner Regeln einen Kredit in dieser Höhe ohne entsprechende Sicherheiten zu vergeben. Hinzu kam ein weiteres Detail: Der Caso Caval wurde just im Verlauf des traditionellen Urlaubsmonats Februar in den Medien ausgebreitet, sodass es einige Tage dauerte, bis die Präsidentin und die Regierung angemessen reagierten, was zu dem fatalen Eindruck führte, man wolle die peinliche Geschichte einfach aussitzen.

Angesichts der Tatsache, dass bei der Abwicklung dieses Geschäfts auffallend viele Personen aktiv waren, die teils verwandtschaftlich, teils politisch eng mit führenden Persönlichkeiten der politischen Rechten verbunden sind, schließen einige politische Beobachter_innen eine gezielte Aktion vom Typus »character assassination« nicht aus. Indessen ist es letztlich gleichgültig, ob der Skandal auf ein politisches Manöver oder »lediglich« auf Charaktermängel des Sohnes bzw. der Schwiegertochter Bachelets zurückzuführen ist (wie Kenner_innen der beiden nahelegen). Fest steht, dass in dieser Affäre das wichtigste politische Kapital der Präsidentin nachhaltig beschädigt wurde.

In dieser Situation rächt sich, dass 2013 ein erheblicher Teil der Wähler_innen der Präsidentschaftskandidatin in erster Linie wegen ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit die Stimme gegeben hat. Dieser Glaube an die Lichtgestalt sieht sich nun enttäuscht - und entsprechend heftig ist die Reaktion: Zum Ende ihrer ersten Amtszeit im März 2010 erreichte die Zustimmung für Bachelet den absoluten Spitzenwert von 82 Prozent der Befragten, zu Beginn der zweiten Amtszeit im März 2014 lag die positive Bewertung bei immerhin 56 Prozent, während im April 2015 nur noch magere 33 Prozent erreicht werden konnten (mit Tendenz nach unten). Zwar agiert die Präsidentin unverdrossen im Sinne ihres ursprünglichen Programms, doch hat die politische Wirkungsmacht ihres Handelns eine drastische Abschwächung erfahren.

Politische Artist_innen in der Zirkuskuppel - ratlos

Die Eigendynamik des Skandals sowie die von den Medien hemmungslos betriebene Sensationsberichterstattung brachten nicht nur die weitere Umsetzung der Reformagenda der Regierung zum Stillstand, sondern führten darüber hinaus zur Paralyse des gesamten politischen Systems. In Reaktion darauf versuchte die Präsidentin, die Kontrolle über das Handeln der Regierung zurückzugewinnen und darüber hinaus »das Politische« - d.h. die Auseinandersetzung um die Definition der gesellschaftlichen »Spielregeln« - wieder in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken.

Mit diesem Ziel setzte sie am 23.2.2015 eine Kommission von Expert_innen ein (zu der bemerkenswerterweise keine Parteipolitiker_innen berufen wurden), die innerhalb von 45 Tagen Vorschläge zur Bekämpfung von »Interessenkonflikten, Einflusshandel und Korruption« erarbeiten sollte. Die Kommission legte am 24.4.2015 einen Maßnahmenkatalog mit 236 detaillierten Vorschlägen vor, die von der öffentlichen Parteienfinanzierung und der Stärkung der innerparteilichen Demokratie über die Verbesserung der Transparenz von Entscheidungsprozessen in der staatlichen Verwaltung bis hin zur Eta­blierung von internen wie externen Kontrollmechanismen reichte, mit denen illegale Praktiken von Unternehmen verhindert werden sollen.

Bachelet verkündete bei der Entgegennahme des Berichts, dass sie den Kampf gegen unethisches Handeln in der Politik als einen Schwerpunkt ihrer restlichen Amtszeit betrachte und dafür sorgen werde, dass der größte Teil der Vorschläge unverzüglich umgesetzt werde. In den folgenden Wochen wurde dann auch eine ganze Palette von Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht, von denen ein erheblicher Teil mittlerweile vom Kongress verabschiedet worden ist. Obwohl damit im Verhältnis zwischen Geld und Politik eine eindeutige Zäsur zwischen »bis jetzt« und »ab jetzt« gesetzt wurde, ist dieser Akt der tätigen Reue der politischen Klasse in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend wirkungslos geblieben - was anzeigt, wie massiv die Abwendung des größten Teils der Bevölkerung von der Politik bereits geworden ist bzw. wie tief der Vertrauensverlust die Gesellschaft durchdrungen hat.

Ein weiteres in der chilenischen Politik reichlich eingesetztes Mittel zur Markierung eines Neuanfangs ist die Umbildung der Regierung, die diesmal allerdings auch notwendig wurde, weil der bisherige »starke Mann«, Innenminister Peñailillo, durch das Auftauchen von boletas in seinem Namen unhaltbar geworden war. In einer sorgfältigen Inszenierung forderte die Präsidentin am 6.5.2015 per TV-Sendung das gesamte Kabinett (23 Minister_innen und 31 Vize-Minister_innen) zum Rücktritt auf, doch fiel das fünf Tage später verkündete Revirement recht überschaubar aus (siehe Tabelle) und blieb somit hinter den geweckten Erwartungen zurück.


Kabinettsumbildung am 11.5.2015


Bei genauerer Betrachtung wird indessen deutlich, dass die Kernmannschaft der Regierung - das sogenannte politische Komitee (aus dem Innen- und dem Finanzminister sowie den Leiter_innen des Segpres und Segegob bestehend) - komplett erneuert wurde: Während diese Schlüsselpositionen bis zur Kabinettsumbildung mit Personen des persönlichen Vertrauens der Präsidentin besetzt waren, rückten nun Repräsentanten jener Gruppierungen innerhalb der Parteien der Regierungskoalition nach, die zur »Politik des Machbaren« in der Phase der Konsens-Demokratie zurückstreben. Verschiedene Äußerungen des Innen- und des Finanzministers lassen unzweideutig erkennen, dass eine Wende vollzogen werden soll, betonen doch beide, dass es nun darauf ankomme, sich auf wesentliche Punkte der Reformagenda zu konzentrieren, politische Prioritäten zu setzen und realistische Etappenziele anzuvisieren.

Die Rückkehr der »Partei der Ordnung« (so der im chilenischen Politik-Jargon gebräuchliche Begriff) an die Schalthebel der Regierung dürfte sich indessen als ein Pyrrhussieg erweisen, da kaum vorstellbar ist, dass ausgerechnet die »Mäßigung« des Reformprozesses geeignet sein könnte, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik wiederherzustellen. Zudem ist der erhoffte politische Effekt der Kabinettsumbildung - ähnlich wie im Fall der Expertenkommission - verpufft wie ein Feuerwerk im Nieselregen: Im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung steht schon längst wieder die politische Korruption - wozu nicht zuletzt die Tatsache beigetragen hat, dass der neue Leiter des Segpres, Jorge Insunza, nach nur 28 Tagen im Amt zurücktreten musste, als bekannt wurde, dass auch er in der Vergangenheit über Dienstleistungsverträge Gelder von Unternehmen erhalten hatte.

Aktuell ist nicht zu erkennen, wie der fatale Teufelskreis der fortgesetzten Skandalisierung der Politik durchbrochen werden könnte. Immerhin hat die juristische Aufarbeitung des Skandals gerade erst begonnen, sodass noch viele Details der systematischen politischen Korruption ans Licht kommen dürften. Offenbar ist nur eine »große Geste«, eine Art politischer Reset, dazu geeignet, die Legitimationskrise zu überwinden. Der naheliegende Weg ist jedoch versperrt, da die Verfassung nicht vorsieht, dass Abgeordnete und Senator_innen ihr Mandat niederlegen und/oder die Präsidentin ihren Rücktritt erklärt (außer bei erwiesener Amtsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen). Daher haben Verfassungsrechtler_innen den Vorschlag gemacht, der politischen Agonie mittels vorgezogener Neuwahlen (die über eine gemeinsame Entschließung des Kongresses angesetzt werden könnten) ein Ende zu setzen. Wie nicht anders zu erwarten war, sind die Parteiführungen von dieser Idee ganz und gar nicht begeistert, da es geradezu tollkühn wäre, vor dem Hintergrund der virulenten Vertrauenskrise einen Wahlkampf führen zu wollen.

So konzentrieren sich die Hoffnungen nun auf die Ankündigung der Präsidentin, im September 2015 einen »verfassungsgebenden Prozess« einzuleiten. Die Forderung der außerparlamentarischen Sozialbewegung nach einer neuen, in der Demokratie gestalteten Verfassung hatte die damalige Kandidatin Bachelet bereits 2013 in ihr Wahlund Regierungsprogramm aufgenommen. Allerdings war dabei offen gelassen worden, auf welchem Weg diese neue Verfassung zustande kommen soll. Während progressive Kräfte die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung für das einzig legitime Verfahren halten, bestehen die Repräsentant_innen der transversalen »Partei der Ordnung« außerhalb wie innerhalb der Regierungskoalition darauf, dass allein der Kongress diese Aufgabe übernehmen könne. Die erstere Variante schien lange Zeit recht idealistisch zu sein, doch ist die letztere angesichts der schweren Glaubwürdigkeitskrise, in der sich die Institutionen des politischen Systems in Chile - nicht zuletzt der Kongress - befinden, definitiv irreal.

Das politische Ringen um die Zusammensetzung einer möglichst repräsentativen verfassungsgebenden Versammlung, der anschließende Wahlkampf zur Bestimmung der Delegierten, die darauf folgenden Debatten in der verfassungsgebenden Versammlung selbst und in der Öffentlichkeit über die Definition der grundlegenden Regeln der Gesellschaft sowie schließlich das Referendum zur Verabschiedung der neuen Verfassung - kurz: ein derartiger »verfassungsgebender Prozess« bietet ganz offensichtlich die Chance, nicht nur den Text des neuen Contrat Social in einem gesamtgesellschaftlichen Akt zu schaffen, sondern darüber hinaus das gesamte politische System neu zu legitimieren. Sollte dieser konstruktive Befreiungsschlag nicht gelingen - und leider gibt es reichlich Anlass zur Skepsis -, so könnte sich die Situation einstellen, dass auch in Chile - wie bereits in anderen Ländern Südamerikas - ein »starker Mann« oder eine »starke Frau« auf der Woge des Volkszorns (»que se vayan todos!«) an die Macht gelangt, von dort aus die Institutionen der repräsentativen Demokratie wegfegt und ein neopopulistisches Regime errichtet.


Anmerkungen

1. Andere »autoritäre Enklaven« (so der in der chilenischen Politik übliche Begriff), wie die neun auf Lebenszeit ernannten Senator_innen, wurden erst mit der Verfassungsreform 2005 abgeschafft.

2. Bei den Parlamentswahlen werden jeweils zwei Abgeordnete und zwei Senator_innen pro Wahlkreis bestimmt. Gewählt ist der/die erst platzierte Kandidat_in der Siegerliste sowie der/die erstplatzierte Bewerber_in der stimmenmäßig zweitstärksten Liste. Eine Liste kann nur dann zwei Kandidat_innen ins Parlament entsenden, wenn sie in einem Wahlkreis doppelt so viele Stimmen erreicht wie die zweitplatzierte Liste (doblaje).

3. Bestehend aus Partido Demócrata Cristiano (DC), Partido Socialista (PS), Partido por la Democracia (PPD) und Partido Radical Social Demócrata (PRSD).

4. Gebildet aus Renovación Nacional (RN) und Unión Demócrata Independiente (UDI).

5. Wahl- und Regierungsbündnis des Mitte-links-Lagers bestehend aus Partido Comunista (PC), Movimiento Amplio Social (MAS) und Izquierda Ciudadana (IC) sowie den Koalitionspartnern der früheren Concertación (DC, PS, PPD und PRSD).

6. Die Abtreibung ist in Chile seit 1989 ausnahmslos verboten.

7. Der Stand im Juli 2015: Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen werden gegen 13 (von 38) Senator_innen sowie 37 (von 120) Abgeordnete wegen des Verdachts der illegalen Wahlkampffinanzierung geführt.


Über den Autor

Reiner Radermacher ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2015

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